Claus Helge Godbersen

Zehnmal Tango mit dem Teufel

Für den Anfang... Weißt du, was die in Holland auf die Pommes tun? („Pulp Fiction“, deutsche Fassung)

November 2003 – We bring the firestorm to brighten up your life (Motörhead, „We Are Motörhead”)

Dezember 2003 – Und ein Narr wartet auf Antwort ( Heinrich Heine, „Fragen“)

Januar 2004 – Einer für alle, alle gegen einen

Februar 2004 – Slave New World (Sepultura)

März 2004 – Muss i denn zum Städle hinaus? (altes Volkslied)

April 2004 – Eine kranke Welt ist das, voller kranker Menschen („Versprochen ist verpsrochen“ mit A. Schwarzenegger, deutsche Fassung)

Mai 2004 – Troublemakers (Titel eines Films mit Bud Spencer und Terence Hill)

Juni 2004 – Hello, Mister Postman (The Beatles)

Juli 2004 – Neverending maze of drifting, numbered days (Metallica, “Master of Puppets”)

August 2004 – Der Einsiedler von Höchenschwand

Und danach... Ich und meine Brüder ham das Kriegsbeil ausgegraben (Böhse Onkelz, „Keine Amnestie für MTV“)


Weißt du, was die in Holland auf die Pommes tun?

An diesem Sonntagmorgen steht die Welt wie immer Kopf. Die vergangene Nacht war etwas verrückt, aber schön – nicht zuletzt wegen des anhaltenden, fulminanten Mondscheins. Jetzt trinke ich heißen Kaffee (der mir bei aller Bescheidenheit vorzüglich gelungen ist), höre Musik und die Sonne scheint ins Fenster. In der Darfur-Krise seien bisher 30.000 gestorben und eine Million auf der Flucht, heißt es. Heuschreckenschwärme fressen Westafrika kahl. Frankreich betont Israel gegenüber seine Anstrengungen gegen den Antisemitismus, während das FBI einem israelischen Spion im Pentagon auf der Spur zu sein glaubt. Im Irak die seit anderthalb Jahren anhaltenden Scharmützel mit zwischen drei und 30 Opfern täglich... another perfect day.
Um nichts davon soll es im Folgenden gehen. Ich beschäftige mich eher mit Peanuts, die lächerlich erscheinen, wenn man bedenkt, dass Millionen Menschen rund um den Globus echt keinen Spaß haben. Aber auch Peanuts wollen geknackt werden – will sagen, auch Kleinvieh macht Mist. Die eher harmlosen Probleme Deutschlands anzupacken und schlussendlich zu lösen ist aber auch ein kleiner Schritt auf dem weiten Weg ins goldene Utopia, von dem eines schönen Tages alle Erdenbürger profitieren könnten.
Ich jedenfalls bleibe fürs Erste dabei, meinen Teil zur Lösung hiesiger Probleme beizusteuern, in der Hoffnung, dass die Kettenreaktion von kleinen Verbesserungen eines Tages auch Tschetschenien und Schwarzafrika erreicht. Was weiß ich schon von Hummer, Kaviar, Muscheln oder gar Kugelfisch? Ich kümmere mich lieber um die Pommes; denn selbst die verhunzt so mancher Imbiss-Stand noch.
Heute ist der 29. August des Jahres 2004 unserer Zeitrechnung. Dieses Vorwort ist der Teil des Textes, den ich zuletzt geschrieben habe. Alles andere ist vorher entstanden.


We bring the firestorm to brighten up your life

Am ersten Montag des Novembers 2003 trat ich ziemlich gut gelaunt in der Hansestadt Lübeck den Dienst an. Eine Büroangestellte – die qualmte, wie ein Schlot, ansonsten aber erträglich zu sein schien – bat über ihre Rufanlage die Herren X, Y und Z ins Büro. Ich weiß nicht mehr, ob ich während der Minuten, die wir warteten, gehofft oder gefürchtet habe, meine Zivi-Kollegen könnten nicht auftauchen, aber schließlich betraten drei Typen den Raum, die nur ein einziges gemeinsames Merkmal aufwiesen: Sie alle trugen je zwei Kaffeekannen mit sich.
Der erste bestach durch seine Größe, war elegant-sportlich gekleidet und trug die mittellangen, braunen Haare penibel zurückgegelt. Sein Gesicht nahm den leichten osteuropäischen Akzent, den ich später hören sollte, vorweg.
Dem nächsten fehlte die überschüssige Größe des ersten. Er war unauffällig, eher lässig gekleidet, seine Haare waren kurze dunkelblonde Gel-Borsten und sein Gesicht hatte etwas Spitzes, Raubvogelhaftes an sich.
Der letzte hatte die längsten Haare, die ich bisher gesehen habe. Er trug ein mit Fantasy- oder Gothic-Motiven bedrucktes T-Shirt, eine Hose im Bundeswehr-Tarnmuster und ein umgedrehtes Pentagramm baumelte an seinem Hals.
Das versprach schon mal interessant zu werden. Nennen wir die drei Herren – in gegebener Reihenfolge – den Hiphop-Zivi, den Techno-Zivi und den Metal-Zivi. Wir würden uns noch bei verschiedener Gelegenheit über unsere stark divergierenden Musikgeschmäcke unterhalten, wobei ich – wie Leser von „Lagebesprechung Deutschland“ sich denken können – dem Metal-Zivi am nächsten stand.
Der Dienst für die Gemeinschaft nahm also seinen Lauf und machte einen recht angenehmen Eindruck auf mich. Unsere direkten Vorgesetzten waren die Therapeuten (pflegerische Tätigkeiten wollte man den Zivis nicht zumuten): Ein großer Herr, noch größer als der Hihop-Zivi, der in seinem Leben von Bundesgrenzschutz über Kellner zu Masseur offenbar schon alles gemacht hat und jeden alten Seemann im Garnspinnen übertreffen würde. Seine eine Kollegin zeichnete sich dadurch aus, dass sie, Sport treibend und ständig Möhren knabbernd, stets ein scharfes Auge auf Gesundheit und Figur hatte und auch nicht weniger rauchte als die Sekretärin, die mich in Empfang genommen hatte. Die dritte in der Therapie-Mannschaft war eine kräftig gebaute Frau, mehrfache Mutter und eine Sarkasmus-Künstlerin vor dem Herrn. Nichtsdestotrotz gab sie eine recht gute Therapeutin ab, soweit ich das beurteilen kann.
Zurück zu den Kriegsdienstverweigerern: Unsere Hauptaufgabe bestand darin, Tische zu decken, Material für die (angeblich therapeutisch sinnvolle) Bastelstunde vorzubereiten und die Bewohner dann von ihren Zimmern in den Therapieraum zu geleiten, soweit sie nicht schon selbstständig eine halbe Stunde vor Beginn antanzten. Bei diesem Begleitservice gab es verschiedene Running-Gags, wie zum Beispiel die Angewohnheit einer Bewohnerin, alle paar Minuten nach dem Datum zu fragen. Ein anderer Bewohner erzählte unterwegs gerne, er sei ein zupackender Mensch, hätte schon immer für andere Probleme gelöst. Dementsprechend löste er, bevor es zum Basteln oder zur Gymnastik ging, immer das oft unterschätzte Problem, den Fernseher abzuschalten.
Wenn dann die Therapie im Gange war, saßen wir ZDLs hauptsächlich daneben auf dem Sofa und schenkten gelegentlich Kaffee nach. Überhaupt war der Rumsitz-Faktor des Dienstes recht hoch – drei Stunden pro Tag halte ich für eine realistische Schätzung. Nur wenn auf dem Flur Schritte zu hören waren, die weder einer Therapeutin, noch einem Bewohner zuzuordnen waren, sprang man schnell auf und tat beschäftigt; denn der Hausmeister oder der Geschäftsführer hätten die untätigen Zivis bestimmt mit irgendwelchen zusätzlichen Aufgaben betraut.
Gelegentlich begleitete einer von uns Bewohner zu Arztbesuchen oder bei einem von dem BGS-Veteran veranstalteten Ausflug. So fristeten wir unsere Tage und das Studium der im Hause zuhauf herumfliegenden Regenbogenpresse wurde, wie beschrieben, nicht all zu häufig von Arbeit unterbrochen. Ich weiß nicht mehr genau, wann mir der anfangs so angenehm scheinende Dienst zu Halse herauszuhängen begann... War es in der zweiten oder der dritten Novemberwoche? Ich glaubte auch zu bemerken, wie der inzwischen langweilig gewordene Dienst sich auf meinen körperlichen Zustand auswirkte: Ich brauchte viel Schlaf und kam beim Sport irgendwie nicht mehr so richtig auf Touren. Nun gut, das mochte auch mit der Tatsache zusammenhängen, dass ich in der Dienststelle heftig passivrauchte (auch die Bewohner sprachen dem blauen Dunst kräftig zu) und es fast nur Schonkost zu essen gab.
Trotzdem bleibe ich bei der Behauptung, das Problem sei zumindest teilweise psychosomatischer Natur gewesen. Zu der Annahme führt mich das für diesen Monat namensgebende Erlebnis: 26. 11., Hamburg-St Pauli, Docks. Mein erstes Motörhead-Konzert. Praktisch, dass ich gerade in Lübeck lebte, so brauchte ich nur eine gute Stunde zum Ort des Geschehens. Ich stand also, Vorgruppen inklusive, an die drei Stunden in einem lärmenden Inferno, in dem die Luft auch nicht gerade frisch war. Als ich wieder in die kühle Luft der nächtlichen Reeperbahn trat, klangen noch „Civil War“, „Sacrifice“, „Ace of Spades“ und so weiter in meinem Kopf. In einer U-Bahn-Station erwarb ich noch eine Dose Cola-Whisky, versuchte am Hamburger Hauptbahnhof ein kleines (a)soziales Drama zu entschärfen, setzte mich in den Zug nach Hause und bemerkte kurz nach der Abfahrt, dass ich meine Jacke im Schließfach vergessen hatte. In Lübeck angekommen joggte ich dann quer durch die Innenstadt nach Hause, schlief vielleicht fünf Stunden und begab mich wieder zum Dienst, wo ich den ganzen Tag erstaunlich fit und gutgelaunt war.
Warum erzähle ich das alles? Weil ich glaube, dass hier der Geist über den Körper gesiegt hatte. Motörhead hatten in der Tat den Feuersturm mitgebracht, der mein vom Zivildienst so bedrücktes Leben erleuchtet, belebt hat. Endlich war mal wieder was los gewesen! Die Freude darüber hatte die körperlichen Strapazen mehr als aufgewogen. Und das spricht dafür, dass meine schlechte Verfassung jener Zeit nicht bloß von Rauch und schlechter Ernährung herrührte, sondern auch seelisch bedingt war. Aber dieses Konzert hat mir noch eine Sache vor Augen geführt, nämlich was Musik – besonders Hard Rock, Punk und ähnliches – für viele der „kleinen Leute“ bedeutet. Während solche Musik in meinem Leben den Stellenwert eines angenehmen, durchaus nicht unwichtigen Zusatzes hat, ist es für viele der letzte Rest Leben und das einzige Quäntchen gesunder Rebellion in ihrer von Routine geprägten Existenz. Viele Fans der Böhsen Onkelz zum Beispiel zeigen sich enttäuscht, dass bei den neueren Lieder nicht mehr so viel Hass mitklingt wie früher. Ich habe das nicht verstanden, bis ich selbst vom Hass ergriffen wurde ob der Langeweile und des Frustes, die jeder Tag mit sich brachte. Nun ging auch ich in gebrüllten Sätzen wie „Nie wieder Letzter sein, nie wieder ganz unten sein!“ oder „Nur diesen Tanz und ich nehme dir den Schmerz!“ auf und fühlte mich verstanden. Und ich frage mich, wie Menschen diesen Zustand ein ganzes Leben lang ertragen können.


Und ein Narr wartet auf Antwort

Bisher hatte ich also gemerkt, dass ich gelangweilt und unterfordert war. Aber waren das Gründe für Hass und zudem Appetitlosigkeit? Immerhin konnte ich mich mit meinen drei Kameraden und darüber hinaus einer blonden, blauäugigen und offenbar sehr intelligenten FSJ-lerin (eine ein Freiwilliges Soziales Jahr Leistende) interessant unterhalten. Wir sprachen oft über Musik, aber auch über den Teufel und über Kannibalismus. Umso mehr erstaunte es mich, dass diese Leute, die zu so unkonventionellem Gedankenaustausch bereit waren, sich damit zufriedengaben, stundenlang in der schlechten Luft auf der Couch zu sitzen und gelegentlich eine Runde Schwimmen zu spielen.
Ich habe es mehrfach gewagt, Vorschläge zu machen, was man stattdessen tun könnte – mit den Bewohnern Spiele spielen oder einfach eine Runde schnacken, den Garten verschönern, mehr Spaziergänge mit Bewohnern... „Bist du wohl ruhig!?“, fuhr mich der Metal-Zivi panisch an. Von den Vorgesetzten, die offenbar Angst hatten die Zivis zu sehr zu reizen, kam höchstens ein „Joa, das könntest du ja mal machen.“ Oft wurde mir auch gesagt, die Bewohner seien zu diesem oder jenem nicht mehr in der Lage – und ich begann mich zu fragen, ob man dieses oder jenes schon mal versucht habe.
Ich verlegte mich bald darauf, mir ein Buch mitzubringen, um nicht auf „Bunte“ oder „Neue Revue“ angewiesen zu sein. Ich meldete mich auch stets freiwillig für den bei den anderen so verhassten Telephondienst – da konnte ich wenigstens ganz in Ruhe lesen, Spanisch lernen oder einfach die Füße hochlegen ohne im Hinterkopf mein Gewissen nörgeln zu hören, ich müsse nun eigentlich arbeiten. Auch ein Euro die Stunde will schließlich verdient sein.
Aber es kam noch besser. Zwei oder dreimal war die möhrenknabbernde, alles in allem sehr nette Therapeutin der Meinung, ich würde meinen Dienst nicht gewissenhaft erfüllen, würde zu viele Freiheiten beanspruchen oder so etwas in der Art. Darüber konnte man ja sprechen und immerhin war sie meine Vorgesetzte; ich hätte ihr diese Vorhaltungen also keineswegs krumm genommen – hätte sie nicht sinngemäß gesagt, jemand, der jeden Tag soviel herumsitze, könne sich Derartiges (z. B. die auswärtige Mittagspause stark zu überziehen) nicht herausnehmen. Diese Argumentation fand ich unfair. Ich war der dienstjüngste Zivi im Hause, hatte den Sofa-Dienst nur bei den anderen abgeguckt und last but not least wurde er von den Therapeut(inn)en toleriert. Spätestens an diesem Punkt fragte ich mich, ob ich mir das bieten lassen müsse oder ob ich vielleicht im falschen Film sei.
Ich hatte also nicht wenige Gründe mich unwohl zu fühlen, aber so ganz überzeugt war ich noch nicht, dass diese für schwärzeste Stimmung, die mich sogar am Wochenende nicht mehr losließ, verantwortlich waren. Ich schob es eine Weile auf die Tatsache, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich allein, fern der Eltern lebte und hoffte lediglich eine Umgewöhnungsphase durchzumachen. Allerdings merkte ich bald, wie ich mich an das Singledasein gewöhnte, der Dienst aber weiterhin eine Last blieb. Ich grübelte also, wendete die nagenden Fragen in meinem Kopf wie Frikadellen in der Pfanne – aber sie wollten nicht braun werden. Es mochten Frust und Langeweile sein, es mochte Einsamkeit sein, es mochte Unfreiheit sein... jedenfalls ging es so nicht weiter.
Und während das alte Jahr seine letzten Atemzüge tat und das neue zu dämmern begann, sah ich mich nach einer neuen Dienststelle um.


Einer für alle – alle gegen einen

Diesem Entschluss mich versetzen zu lassen, war allerdings auch nicht wenig inneres Ringen vorhergegangen. Und man kann nicht unbedingt sagen, dass es mir von offizieller Seite erleichtert worden wäre.
Zuerst einmal schlug ich im „Zivildienst ABC“ nach, einer abgespeckten Version des Leitfadens. (Der Leitfaden, geradezu ein geflügeltes Wort unter Zivis, ist ein dicker grauer Ordner im Gesetzbuch-Format, der in jeder Dienststelle und den Zivildienstleistenden zur Verfügung zu stehen hat. Er behält sämtliche Regeln, Vorschriften, ein paar Rechte und viele Pflichten, an denen der Zivildienst sich theoretisch auszurichten hat. In der Praxis werden Vorgesetzte nur ungern auf den Leitfaden angesprochen, weil das meistens zur Folge hat, dass ein Zivi lange darin blättert und schließlich einen Paragraphen findet, der ihm das Befolgen dieser oder jener Dienstanweisung erspart.)
Unter dem Stichwort „Versetzung“ steht folgender Text:

„Aus dienstlichen oder aus zwingenden persönlichen Gründen kann eine Versetzung in eine andere Dienststelle beantragt werden. Dienstliche Gründe können z. B. dann vorliegen, wenn keine Beschäftigungsmöglichkeiten wegen fehlender Voraussetzung aus gesundheitlichen oder sonstigen Gründen vorhanden sind.
Bei der Feststellung der zwingenden persönlichen Gründe ist ein strenger Maßstab anzulegen. Solche Gründe liegen u. a. vor, wenn sich durch das Verbleiben am bisherigen Dienstleistungsort gesundheitliche Störungen für den Zivildienstleistenden ergeben würden, schwer erkrankte Angehörige zu betreuen sind oder der Zivildienstleistende im Mobilen Sozialen Hilfsdienst, in der Individuellen Schwerstbehindertenbetreuung oder im Pflegedienst eingesetzt werden will und ein solche Verwendung bei seiner derzeitigen Zivildienststelle nicht möglich ist. [...]“
aus: „Zivildienst ABC – Informationen zum Zivildienst“, Herausgeber: Bundesamt für den Zivildienst, Stand: Dezember 2002
Nachdem ich dieses gelesen hatte, war mein erster Gedanke: „Na, das kannste dir wohl abschminken.“ Natürlich dachte ich kaum ernsthaft ans Aufgeben, aber bei der Vorstellung von Papierkram und Psychokrieg mit der Behörde hob sich meine Stimmung nicht gerade.
Doch das Schicksal kam mir in Form einer der monatlichen Zivildienst-Zeitschriften zu Hilfe. Ich weiß nicht mehr, ob es die staatliche „Zivildienst“ oder die von der evangelischen Kirche herausgegebene „Zivil“ war – jedenfalls enthielt genau die Dezemberausgabe einen Bericht über die Möglichkeit der Versetzung. Es wurden beispielhaft zwei Fälle beschrieben und es wurde klargestellt, dass der „strenge Maßstab“, der bei den persönlichen Gründen angelegt werden sollte, in der Praxis hauptsächlich die Frage sei, ob der ZDL eine neue Dienststelle vorweisen könne. Ansonsten müsse man – vereinfacht ausgedrückt – nur deutlich machen, dass man sich in seiner derzeitigen Dienststelle unwohl fühle.
Nach einem solchen Wink war mein Antrag auf Versetzung natürlich schon so gut wie abgeschickt und die (mit grauenhaften Interpunktionsfehlern gespickte) Eingangsbestätigung der zuständigen Verwaltungsgruppe kam schon zwei Tage später. Dann allerdings war Schluss mit dem exzellenten Service und fast den ganzen Januar hindurch hüllte das Bundesamt für den Zivildienst sich in Schweigen. Als der vorgeschlagene Versetzungstermin immer näher rückte und mir dementsprechend der Boden unter den Füßen zu brennen begann – nicht zuletzt weil es eine Wohnung zu räumen gab – rief ich in Köln an. Ich bekam einen gut gelaunten Herrn an den Apparat, der mich zuerst fragte, ob ich den Dienstweg eingehalten und den Antrag über die Dienststelle rausgeschickt hätte. Als ich das bejahte wurde seine Laune noch besser: „Das ist ja schon mal der richtige Weg, das ist ja goldrichtig!“. Dann erklärte er mir, der Antrag sei eingegangen und bearbeitet worden; nun liege es am Computer, die Antwort abzusenden. Auf meine Frage, wann ungefähr das geschehen werde, entfaltete sich das volle Fröhlichkeitspotential dieses Herrn: „Das weiß ich nicht, ich bin ja nun nicht Jesus! Ich bin der Sohn eines Pastors, ich hab’n guten Draht zu Gott, aber Jesus bin ich nicht!“. Während der Pastorensohn offenbar saumäßigen Spaß an seiner kleinen Spontanpredigt hatte, wuchs mein Wunsch zu desertieren und das Pflegeheim gegen ein Trainingslager in der Bergen Afghanistans einzutauschen. In gut einer Woche wollte ich die Dienststelle wechseln und die Damen und Herren in Köln konnten mir noch keine klare Auskunft erteilen! Ich verzichtete trotzdem auf meine Terroristenkarriere; vielleicht hätte ich wenigstens den Pastor anrufen und ihm stecken sollen, was sein Sohn für Schindluder mit dem Namen des Herrn treibt.
Nachdem ich noch einige Tage länger nichts gehört oder gelesen hatte, rief ich den Regionalbetreuer an und bat ihn um Rat. Er sagte mir, ich könne schon davon ausgehen, dass die Versetzung genehmigt würde und ich zum anvisierten Termin den Dienst in der neuen Dienststelle antreten dürfe. Drei Tage vor ultimo traf dann auch tatsächlich der positive Bescheid ein – gelobt sei die deutsche Pünktlichkeit!
Einer für alle – alle gegen einen. So habe ich diese Versetzungs-Affäre erlebt. „Ich opfere meine kostbare Zeit, um brav den staatsbürgerlichen Verpflichtungen nachzukommen und wenn ich mal was will, lassen sie mich bis zum letzten Moment im Dunkeln tappen. Und dann muss ich mir auch noch flache Witze über den Messias anhören.“, dachte ich. Aber das war ja nicht alles. Ein besonderer Dorn im Auge war und ist mir dieses „Zivildienst ABC“. Seine Formulierung spricht Bände: Erstens scheinen die Verfasser von Beamten-Deutsch mehr zu verstehen als von Höflichkeit. Zweitens lassen die Texte erahnen, dass das Bundesamt für den Zivildienst , kurz BAZ, den Umgang mit Leuten gewohnt ist, die schlicht kein’ Bock haben und folglich unter Zwang gesetzt werden müssen. Und drittens stehen die lustigen Illustrationen zu den völlig humorlosen, theoretischen Texten in einem krassen Kontrast, angesichts dessen manch ein Zivi (zum Beispiel ich) vielleicht nicht weiß, ob er lachen oder weinen soll; das nur am Rande. Ich werde das „Zivildienst ABC“ später wieder aufgreifen und dann dem Gemecker auch konstruktive Kritik folgen lassen.


Slave New World

Langer Rede kurzer Sinn: Ich war versetzt und leistete fortan Dienst auf einer Station im Krankenhaus meines Heimatortes.
Bei diesem zweiten Dienstantritt war ich nicht mehr so sorglos wie beim ersten. Natürlich fürchtete ich, ich könnte trotz gründlicher Überlegung einen Fehler gemacht haben und es noch schlechter treffen. Ausschlaggebend war – nach den vorangegangenen Erfahrungen – aber ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Mir war klar geworden, wie beschränkt die Grundrechte eines Zivildienstleistenden, oder eines Wehrdienstleistenden, tatsächlich sind (dazu später mehr). Ein weiteres Mal wurde ich von größtenteils unbekannten Leuten herumgeführt, wurde von dem Herrn aus der Personalabteilung an den Herrn in der Pflegedienstleitung und von jenem wieder an seine Sekretärin weitergereicht, die mich schließlich auf der Station der Oberschwester anvertraute. Ich trug komische Dienstkleidung, die Dienstkleidung der Schwestern sah noch viel komischer aus und meine Gedanken kreisten um die Frage, ob mich hier wohl positive oder negative Überraschungen erwarteten.
Zu tun gab es immer genug, wie ich schnell bemerken sollte. Aber die negative Überraschung ließ nicht lange auf sich warten: Nach einer Woche ging es mir trotz „Vollbeschäftigung“ wieder so schlecht wie vorher. Das beinhaltete aber auch die positive Überraschung: An der Trennung vom Elternhaus und den Freunden konnte meine schlechte Stimmung nicht primär gelegen haben. Künftigen Entwicklungen wie dem Studium konnte ich also wieder gelassen entgegensehen – aber zwischen mir und der Zukunft standen noch sieben Monate Dienst, die ausgehalten werden wollten. Ich sollte mich noch wundern. Ich sollte noch lernen, was es heißt, voller Grimm zu Grübeln!
Aber schieben wir der nächsten Portion Psychoanalyse doch ein wenig Krankenhausalltag vor: Ich leistete Schichtdienst, entweder von sechs bis vierzehn oder von zwölf bis zwanzig Uhr. Nachtwache blieb mir erspart. Der Morgen begann damit, durch alle Zimmer zu pilgern und die Patienten aufzuwecken, die im Zweifel nach einer ruhelosen Nacht, welche die Konsequenz eines im Bett verbrachten Tages war, erst vor zwei Stunden endlich Schlaf gefunden hatten. Dann wurde Medizin verteilt, Nachtschränke wurden gesäubert, Blutdruck, Puls, Fieber und so weiter wurden gemessen. Den pflegebedürftigen Patienten wurde bei der Morgentoilette geholfen. Im weiteren Verlauf des Tages wurden die Mahlzeiten serviert, die Station wurde geputzt und aufgeräumt und Patienten wurden zu Untersuchungen oder Behandlungen geschickt bzw. gebracht. Mehrmals am Tag wurde allen Patienten mit Diabetes, und das waren viele auf dieser Station, ins Ohr gestochen und eine kleine Blutprobe abgenommen, anhand derer das Labor den Blutzucker ermittelte.
Da ich von diesen Aufgaben auch nicht gerade emotional ausgefüllt war, dachte ich viel nach über die Dinge, die ich sah und hörte. Recht bald fiel mir die Ausdrucksweise der Krankenschwestern und -pfleger auf, die schnell auf Schüler und Praktikanten abzufärben schien. Das Wort „einmal“ zum Beispiel wurde so oft ausgesprochen, dass man fürchten konnte, die Stimmbänder der Betroffenen würden eines Tages zu keiner anderen Artikulation mehr in der Lage sein:
„Einmal Fieber messen.“
„Einmal Blutdruck messen.“
„Herr Petersen, bitte einmal zum EKG.“
„Einmal auf die Seite [drehen], und einmal auf den Rücken.“
„Gibt einmal ’ne Spritze in’ Bauch.“
„Einmal zum Röntgen, bitte, Frau Christiansen.“
„Achtung, wird einmal kalt.“
„Ich muss Sie einmal ins Ohr pieken.“
„Füllen Sie einmal Ihren Essenszettel aus?“
„Herr Albertsen, einmal zur Gastro.“ (Gastroskopie = Magenspiegelung)
„Einmal zurück!“
Aber als ein alter, schon etwas seniler Patient mit den Worten „einmal hier“ auf sich aufmerksam machte, reagierte die Schwester fast entrüstet ob dieser Frechheit, dieses unverschämten Tonfalls!
Einmal (Verdammt!!) sprach ich eine Schwesternschülerin, die mir etwas... wie soll ich sagen... geistig breiter gefächert als die anderen erschien, darauf an, wie häufig im Krankenhaus „einmal“ gesagt werde. Sie äußerte die Theorie, das sei eine Reaktion darauf, dass es einem irgendwie unangenehm sei, den Patienten immer mit so vielen Dingen zu Leibe zu rücken.
Die Theorie sagt mir zu, aber sie reicht nur, um das „Einmal“ zu erklären, nicht für die anderen sprachlichen Phänomene der Krankenpflege-Zunft, die mir zu Ohren gekommen sind: Vollständige Sätze wurden in der Kommunikation mit Patienten sowieso nur selten gesprochen. Und dann legten einige Schwestern leider diesen mütterlich-mitleidig-verniedlichenden Ton an den Tag, pflegten vorzugsweise schwere Pflegefälle mit „mein Süßer“ oder „meine Süße“ anzusprechen oder in deren Gegenwart Äußerungen wie „Er/sie ist mein Freund.“ von sich zu geben. Des weiteren wurden Patienten mit Spitznamen tituliert, wo es nur ging: Aus Herrn Stolzmann wurde „Stolzmännchen“, Herr Erdmann wurde zum „Erdmännchen“, ein kleiner, beleibter Herr erhielt den Namen „Kugelblitz“, Frau Justi wurde (in Anlehnung an Justin Timberlake) „Frau Justin“ (gespr: Dschastinn) und Herr Haase „Häschen“ genannt... Aber den Gipfel der plumpen Vertraulichkeit sehe ich darin, Patienten mit Nachnamen anzusprechen und trotzdem zu duzen: „Na, Herr Reuter, wie geht’s dir?“ Ich als Patient würde mir so etwas verbitten, aber einige der Betroffenen konnten ja gar nicht sprechen!
Dabei waren die Pfleger und Schwestern, mit denen ich zu tun hatte, fast durchweg nette Leute und ich bin weit davon entfernt, ihnen Arroganz vorzuwerfen. Dafür, so scheint es mir, sind die psychologischen Prozesse, die eine durchschnittliche Pflegekraft durchmacht, viel zu komplex.
Schon die Motivation diesen Beruf zu ergreifen, scheint mir schwer zu erklären: Welche Qualifikationen muss man mitbringen? Eigentlich muss man alles können, da Patienten in allen Bereichen des Lebens Hilfe brauchen. Aber wer kann schon alles – zumal die durchschnittliche Bewerberin wohl „nur“ einen Realschulabschluss vorweist?! Auf welche Fähigkeiten kann man dann verzichten? Sportlichkeit? – eigentlich muss eine Krankenschwester unermüdlich auf der Station hin- und herlaufen und besonders einen belastbaren Rücken haben... Naturwissenschaften? – Kenntnisse von Anatomie und der Chemie und Physik im menschlichen Körper müssten schon erlernt werden... Technisches Wissen? – unter anderem Computer, Druckluftgeräte und elektrische Infusionsgeräte werden nicht nur auf der Intensivstation gebraucht... Psychologie, Soziologie, Philosophie? – ein Pfleger müsste viel über diese Themen wissen, um Patienten richtig einzuschätzen und verstehen zu können, worunter sie leiden, was sie mehr oder weniger belastet, wie er mit ihnen sprechen muss, um sie zu beruhigen... Sprachliche Fähigkeiten? – die könnten verhindern, dass man vor lauter Routine die Grundregeln der Höflichkeit verschlampt... Also bräuchten wir rundum hochqualifizierte Pflegekräfte. Da all diese Fähigkeiten jedoch immer nur kurz eingesetzt werden und die Hauptarbeit weiterhin aus Betten machen und dem Dokumentieren von Vitalzeichen besteht, würde eine so hochbefähigte Person sich in der Krankenpflege, wie sie heute ist, zu Tode langweilen. Die wichtigsten Fähigkeiten für einen Pfleger werden sowieso nicht in Schulzeugnissen festgehalten: Einfühlungsvermögen, Geduld, Mut, dem menschlichen Leid ins Auge zu blicken, Flexibilität und ein robuster Magen, der sich nicht vor all den Dingen ekelt, die ein kranker menschlicher Körper so ausscheidet. Besonders an Geduld schien es vielen Krankenschwestern, die ich kennengelernt habe, aber zu mangeln. Wenn ein Patient ewig nörgelte oder ein geistig verwirrter Patient den lieben langen Tag am Brüllen war, nahm mich das viel weniger mit als die meisten Schwestern. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass einige von ihnen eklatant wenig Talent darin hatten, mit geistig verwirrten Menschen umzugehen bzw. es gab kein Konzept, nach dem alle handelten. Wenn zum Beispiel ein Herr jammerte, er sei „weggeklaut worden“ und er müsse aus dem Krankenhaus raus, weil er den Auftrag habe, Arbeitslose in den Wald zu bringen, dann sagte ihm eine Schwester barsch, er solle sich hinlegen und ruhig sein. Eine andere dagegen ließ sich auf sein Phantasieren ein und erfand irgendwelche Geschichten, um ihn zu beruhigen. Ich dagegen bemühte mich ihm ruhig und sachlich zu erklären, dass er verwirrt sei, sich im Krankenhaus befinde und dort auch wieder herauskommen werde. Ein Glück, dass dieser Mann offenbar kein Kurzzeitgedächtnis mehr hatte und jeden Tag mit einer neuen Geschichte aufwartete – sonst hätte er ob dieser divergierenden „Therapien“ wahrscheinlich auch den letzten Rest Verstand verloren!
Ich habe ein paar Leute getroffen, die im Krankenpflege-Beruf wirklich aufgingen und jeden Mangel an fachlicher Qualifikation durch Freundlichkeit und echtes Engagement problemlos ausgleichen konnten. Aber bei vielen Schülern schien es sich mir eher folgendermaßen zu verhalten: Mittelmäßiger Realschulabschluss oder keine Perspektive im ersten erlernten Beruf... irgendwas muss man ja machen... Nachfrage nach Pflegekräften wird es immer geben... der Krankenpflege haftet etwas Heldenhaftes an... mehr kann man nicht verlangen. Solchen Leuten bleibt der wahre Geist dieses Berufes verschlossen, fürchte ich. Und wenn einem der Umgang mit Schwerkranken oder geistig Verwirrten doch irgendwie komisch vorkommt, passiert es auch schnell, dass man sich unnatürlich benimmt. So war es mir in meiner ersten Dienststelle passiert, dass eine Therapeutin sagte: „Ich habe ja schon so einige Zivis verschlissen und manche konnten besser mit den Bewohnern und andere weniger gut. Und ich muss sagen, bei dir ist eine gewisse Distanz da.“ Ich habe damals nicht verstanden, was sie meinte. Aber jetzt glaube ich, dass sie mit der Distanz zu den Bewohnern die gewisse Distanz meinte, die ich meistens an den Tag lege. Ich bin nun mal nicht der Typ, der alle sofort umarmt und auf der ganzen Welt nur beste Freunde hat. Verzeihung, aber warum sollte ich es bei den Bewohnern eines Altersheims anders machen? Warum sollte ich diese Leute streicheln und jene „Gutschi-gutschi, bussie-schmatzie Sprache“ aufsetzen? Ich habe die alten Leute einfach wie normale Menschen behandelt und mich bemüht sie ernst zu nehmen. Ist nicht ständig die Rede von Integration? Heißt es nicht, man solle Alte und Kranke nicht ausgrenzen?
Zurück zu meiner Wenigkeit. Ich bemühte mich, wie gesagt, auch im Krankenhaus „verrückte“ Patienten ernst zu nehmen; denn auch ich hörte von den Kolleginnen ab und an Worte wie „Du bist wahnsinnig!“ oder „Du machst mir Angst!“. Solche halbernsten Äußerungen hatte ich schon früher zur Genüge gehört und sie waren somit nichts Neues für mich. Neu war hingegen, dass ich selbst permanent darüber nachdachte, ob ich tatsächlich als wahnsinnig zu betrachten war – und wenn ja, in welchem Grade? Immerhin übte ich eine Tätigkeit aus, deren Wichtigkeit man schlecht in Frage stellen konnte; warum war ich also jeden lieben langen Arbeitstag gelangweilt, gereizt, schweigsam, zurückgezogen und manchmal den Tränen nahe? Der nächste Monat würde bei der Beantwortung dieser Fragen helfen...


Muss i denn zum Städle hinaus?

Der März, der fünfte Monat im Dienst, fing schon ganz anders an. Am Montag, dem Ersten, saß ich im Zug nach Kiel, um den sogenannten „Einführungsdienst“ in der Zivildienstschule anzutreten. In meinem Fall handelte es sich dabei bloß um fünf Tage, die ich dort zu verbringen hatte. Ich habe auch ZDLs kennengelernt, die für zwei oder drei Wochen abgeordnet wurden. Das liegt daran, dass für manche Dienstposten fachspezifische Kenntnisse wie zum Beispiel der korrekte Umgang mit Rollstühlen erforderlich sind und im Einführungsdienst, gemeinhin „Zivi-Lehrgang“ genannt, vermittelt werden. Allerdings lernen betroffene Zivis solche Dinge schon während der ersten Woche in ihrer Dienststelle, wohingegen der Lehrgang an der Schule zuweilen mehrere Monate nach Dienstbeginn stattfindet. Naja, Kleinkram...
In der Schule lief ein bunter Haufen junger Männer zusammen, vom geschniegelten, blond-blauäugigen Oliver-Kahn-Typ über den türkisch-stämmigen Dönerbuden-Besitzer-Typ bis zum typischen Kiffer-Zivi, wie ich immer zu sagen pflege. Von solchen langhaarigen Typen mit Rasterlocken, Bärten, Kordhosen und Wollmützen waren nicht wenige anwesend und stellten beim ersten „mission briefing“ der Direktorin gleich die Fragen, die das Klischee von ihnen verlangt: „Sollen wir hier umgepolt werden?“, „Wie ist es hier mit Betäubungsmitteln?“ (Oder er benutzte eine andere wohlklingende Umschreibung von „Kiffen“), „Warum müssen wir hier im Haus schlafen?“...
Niemand sollte umgepolt werden – der Zivi-Lehrgang ist lediglich Information über die Geschichte des Zivildienstes und die Geld- und Sachbezüge von Zivildienstleistenden und Unterricht über politisch-gesellschaftliche Themen!
Kiffen ist illegal! Warum sollte das ausgerechnet in einer staatlichen Bildungseinrichtung anders sein?!
Und die Verpflichtung im Haus zu schlafen, mit anderen Worten die Nacht-Ausgangssperre, dient der offiziellen Gleichberechtigung von Bundis und Zivis!
Die letzte Frage konnte ich ja noch verstehen – manche wussten das eben nicht. Aber was sollte das nachfolgende Gejammer wegen vier Nächten? Soldaten müssen drei Monate lang in der Kaserne schlafen! Egal, immerhin hatte mir diese kleine Fragestunde schon einige Leute aufgezeigt, mit denen ich nicht die Freizeit verbringen wollte. Glücklicherweise war mein Zimmergenosse ein ganz anderer Typ: äußerlich unauffällig und charakterlich offenbar moderat – weder ein unangenehmer Streber noch ein fanatischer Rebell. Ein weiterer Herr dieser Kategorie gesellte sich schnell zu uns, so dass wir drei, locker vereint, einer erträglichen Zeit entgegensehen konnten.
Nach der ersten Besprechung war es an der Zeit, dass ein jeder sich für eins der vier angebotenen Unterrichtsthemen meldete. Erstaunlicherweise fand sich in dem Kurs, in dem ich landete, offenbar die Mehrzahl der Leute zusammen, die ich als vernünftig, erträglich, nett, wie auch immer betrachtete. War das nur Glück oder eine Meisterleistung des kollektiven Bewusstseins? Die Glückssträhne ging sogar noch weiter; denn wir hatten einen wahrhaft beredten, dynamischen Dozenten, der es mit Sicherheit zum Starkomiker hätte bringen können. Jeden Tag wurde etwa sechs Stunden lang unterrichtet, unterbrochen von insgesamt zwei Stunden Pause. Der Unterricht lag mir – sowohl die dargebotenen Informationen, als auch die Möglichkeit der Beteiligung sprachen mich an. Wir sprachen auch über die eingeschränkten Grundrechte von Wehrpflichtigen:
- Recht auf freie Meinungsäußerung: Im Dienst darf man nicht politisch aktiv werden.
- Recht auf Freizügigkeit: Umziehen darf man nur, wenn das mit dem Dienst vereinbar ist bzw. von der Behörde genehmigt wird.
- Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung: Der Regionalbetreuer des BAZ darf sich Zutritt zu den Privaträumen eines ZDL verschaffen, wenn dieser zum Beispiel eigenmächtig dem Dienst fernbleibt.
- Recht auf körperliche Unversehrtheit: Wenn man eine angeordnete ärztliche Untersuchung oder Behandlung, angefangen bei der Musterung, verweigert, bekommt man Ärger.
Sicher sind diese Einschränkungen in der Praxis eher geringfügig und harmlos, aber ein Vorgesetzter könnte seinen Zivi oder Bundi unter Berufung auf diese Rechtsbeschneidungen schon ziemlich drangsalieren, wenn er wollte. Jeder Malergeselle, jede Lehrerin, jeder Landwirt stelle sich doch bitte einmal vor, man streite sich mit dem Arbeitgeber und hänge deshalb die Tätigkeit an den Nagel. Dann ist man arbeitslos und muss sich nach etwas Neuem umsehen, Scheiße passiert. Wenn ein Wehrpflichtiger jedoch die Brocken hinwirft, droht ihm Gefängnis, Scheiße passiert! Oder wie fände es eine Managerin, wenn sie, um eine neue Stelle anzutreten, sich erstmal vor einem Mann ausziehen und sich von ihm befingern lassen müsste?
Wie auch immer, sprechen wir wieder von den heiteren Dingen. Mein Banknachbar zur Rechten hatte Ähnlichkeit mit James Hetfield und machte hobbymäßig auch ähnliche Musik, so dass er mir auf Anhieb sympathisch war. Vor dem Unterricht ging ich Joggen oder radelte auf einen Kaffee und eine Zeitung ein Stück in die Stadt hinein.
Und plötzlich fühlte ich mich wieder wichtig und ernstgenommen. Man setzte mich einem Lehrer gegenüber, der dafür bezahlt wurde, meine Fragen zu beantworten. Kein Krankenpfleger, keine Therapeutin, die mir nebenbei kurze Erklärungen an den Kopf warfen und eigentlich selbst dafür keine Zeit hatten, sondern ein ausgebildeter Dozent, der auf den Unterricht vorbereitet war und sich über Fragen freute.
Langer Rede kurzer Sinn: Geistige Betätigung plus mehr Freizeit als beim regulären Dienst gleich: Ich fühlte mich so wohl wie schon lange nicht mehr und bedauerte dementsprechend das Ende dieser Woche etwas.
Danach hielt ich es nicht lange im Krankenhaus aus. Schon am 16. März brach ich zusammen mit einem alten Freund und Zivi-Kameraden wieder nach Kiel auf. Wir hatten uns zu einem dreitägigen, freiwilligen Seminar angemeldet, worauf Kriegsdienstverweigerer mindestens zweimal während der Dienstzeit Anspruch haben. Das Thema der Veranstaltung war die Geschichte der Beziehungen zwischen Europa und den USA – passender Weise von einem Offizier a. D. vorgetragen. Der Mann war ein echtes Original: Zwar entschuldigte er sich gewissermaßen schon im Voraus dafür, dass er von seinem persönlichen und außerdem sehr soldatischen Standpunkt aus referieren werde... dann legte er aber auch los, Hagel und Granaten! Er nahm eine Haartransplantation vor: lies nur wenige gute Haare an der EU und verpflanzte diese dafür den Vereinigten Staaten. Allerdings merkte man, dass er sich redlich um Fairness bemühte und außerdem im Gespräch bei Tisch ein netter, entspannter Mensch war.
Mochte die Vortragweise des Herrn Offizier auch etwas anstrengend für die circa fünfzehn Zuhörer sein, so genossen mein Begleiter und ich doch die Abwechslung vom täglichen Trott und, sein wir ehrlich, auch das Mehr an Freizeit. In dieser Zeit machten wir die Stadt unsicher – jetzt möchte ich mich öffentlich bei allen Leuten entschuldigen, die wir in unserem Übermut vielleicht belästigt haben, wie zum Beispiel das Gothic-Pärchen, dem ich „Die! Die! Die!“ (englisch für „Stirb!“) nachgebrüllt habe oder die volltrunkenen Mädchen, die wir grob von unserem Billardtisch verscheucht haben. Wer sich so voll-laufen lässt, ist aber auch selbst schuld. Lasst euch von jemand’anners abschleppen!
Und nach drei Tagen, nachdem das Gehirn wieder warm geworden war, hieß es wieder: Putzen, Waschen, Essen servieren... schauder. Ich kam meinem Problem etwas näher. Offenbar waren es tatsächlich der geistige Stillstand und die Eingebundenheit in ein für mich nicht geeignetes Team, die mich so übermäßig verstimmten. Aber es sollte diesen Monat noch ein kleines Bonbon geben. Und zwar hatte der zuständige Herr in der Personalabteilung, der vor lauter Arbeit seine Zuständigkeit für die Zivis sicher nicht selten verflucht hat, vom Schleswig-Holsteinischen Landtag eine Anfrage erhalten, ob nicht zwei der etwa zehn Zivildiener des Hauses an einem Essen und Gespräch mit Politikern teilnehmen wollten. Diese Gelegenheit fiel meinem Kameraden in die vom Postsortieren so geübten Hände und er griff natürlich zu, so dass wir am Abend des 30. März wieder nach Kiel unterwegs waren. Aber diesmal war unser Ziel keine für deutsche Verhältnisse fast spartanisch eingerichtete Zivildienstschule, naaaiin! Bei schöner Abendsonne fuhren wir im Freilichtmuseum Kiel-Molfsee vor dem „Drahtenhof“ vor und betraten die mit rustikaler Eleganz aufwendig hergerichtete Lokalität, wo sich bereits die gesamte Zivildienst-Szene von Lübeck bis Flensburg eingefunden hatte (beispielsweise die Schulleiterin und einige ihrer Untergebenen) und sich an Willkommensbieren, -sekten und -säften schadlos hielt. Dazwischen stachen einige seriöse Herrschaften ins Auge, die sich als Mitglieder des Landtages entpuppten.
Bald verteilte man sich auf Tische, wobei jeweils eine handvoll Wehrpflichtiger mit ein oder zwei Politikern zusammen saß. Wie sich herausstellte, war nur ein einziges Mitglied der CDU anwesend, aber ein Sozialdemokrat sprang in die Bresche und erklärte, jene hätten nicht etwa keine Lust, sondern seien momentan fast alle auf einer Dienstreise nach Brüssel. Überhaupt blieb dieser Abend von Parteipolitik praktisch verschont und die Damen und Herren MdLs machten keineswegs den Eindruck realitätsfremd, fanatisch, dekadent, überheblich, oder was auch immer man Politikern gewöhnlich vorwirft, zu sein.
Nachdem jedermann – es waren nur wenige Frauen anwesend – Platz genommen hatte, hub der Landtagspräsident Ahrens zu einer Lobrede für uns ZDLs an und versäumte auch nicht, seine Besorgnis über die nahende Zukunft auszudrücken, wenn vielleicht Langzeitarbeitslose den Kriegsdienstverweigerer ersetzen sollen. (Konstruktive Vorschläge zu diesem Thema werde ich später machen.) Allerdings sah bzw. hörte ich dort einen Widerspruch: Wenn nämlich alle Zivis so beherzt, sozial engagiert etc. wären, wie Herr Ahrens lobend behauptet hatte, dann könnte man zuversichtlich sein, dass nach dem Wegfallen der Wehrpflicht genügend Freiwillige (die es ja jetzt schon gibt) diese Lücke im Gesundheitswesen füllen würden. Der Ehrliche muss jedoch eingestehen, dass es sowohl bei Bundeswehr, als auch beim Zivildienst nicht Wenige gibt, die lediglich das kleinere Übel gesucht haben (Hier! Hier! Ichichich!!!). Aber gut, dieser Abend sollte eine Art Belohnung für die beherzten, sozial engagierten etc. jungen Männer sein und deshalb wollte man wahrscheinlich der unschönen Wahrheit nicht all zu direkt ins Auge sehen. Eine zweite Rede folgte, in der ein vorbildlich langhaariger und bärtiger Zivi seine Erlebnisse und Erfahrungen schilderte. Zwar waren einige Details auch vom fachlichen Aspekt her interessant, aber die Hauptaussage blieb, dass der Dienst ihm im Großen und Ganzen Spaß machte.
Sehr schön – aber Beherztheit, soziales Engagement etc. machen hungrig. Also ran an den Speck... oder den Braten oder das Curryhuhn mit Reis oder den Fisch oder das Kartoffelgratin oder die verschiedenen Gemüse oder die eingebackenen Früchte oder das kalte Buffet mit Brot, Brötchen, Käse, Wurst, Salat, Obstsalat oder den Nachtisch... puuuh! Viele Gerichte aufzutischen ist ja keine Kunst, aber hier wurde nicht nur mit Masse, sondern auch mit Klasse gearbeitet. Auf meinen Einwand, an diesem Abend würde jeder Zivildienstleistende den Staat wohl mehr kosten als sonst in einer ganzen Woche, entgegnete eine Abgeordnete erheitert, das sei wohl wahr, aber darüber solle man an einem solchen Abend nicht nachdenken. Wir ergötzten uns also an den dargebotenen Köstlichkeiten und mein Begleiter warnte, wir würden uns am nächsten Tag nur schwer wieder ans Kantinenessen gewöhnen – obwohl die Kantine unserer Dienststelle überdurchschnittlich gut war.
Beim zweiten oder dritten Teller kehrte die Erinnerung daran zurück, dass man vornehmlich zusammengekommen war, um Erfahrungen und Meinungen auszutauschen; also entfalteten sich, anfangs etwas holperig, später zunehmend entspannt und geistreich, Gespräche zwischen den routinierten Volksvertreter(inne)n und den beherzten, sozial engagierten etc. jungen Wählern, die sich bemühten, während der Routine des vaterländischen Dienstes ihr Abitur nicht zu vergessen. (Ich hatte nämlich den Eindruck, dass fast alle anwesenden Zivis über eine Hochschulzugangsberechtigung verfügten. Offenbar hatte die „Arbeiterklasse“ ihre Schwellenangst vor einer Veranstaltung mit so „hohen Tieren“ nicht überwinden können.) Natürlich wurde verstärkt über Politik, Zivildienst und Wehrpflicht im Allgemeinen gesprochen. Als wir ein weiteres Mal auf das Thema „Langzeitarbeitslose als Zivis“ kamen, äußerte die Politikerin an unserem Tisch ihren Ärger über die Tatsache, dass solche Leute nicht sonderlich viel über ihre Pflichten wüssten, aber immer bestens über Rechte und Ansprüche unterrichtet sein. Meines Zeichens Defätist, hielt ich dagegen, das sei bei Zivis aber nicht viel anders. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, ob dem so ist. Ich meine nur, dass es ein normaler psychologischer Vorgang ist, wenn jemand, der sich in einer Zwangslage oder Abhängigkeit glaubt, sich zuerst nach Möglichkeiten der Verteidigung umsieht, nach dem Motto: „Was ich tun muss und was ich nicht darf, das werden sie mir schon früh genug sagen.“
Als der Abend schließlich vorüber war und wir uns über viele, Politik und Zuvieldienst im weiteren Sinne betreffende Kleinigkeiten unterhalten hatten, erschien es mir, dass die ganze Party eigentlich eine Werbeveranstaltung für Politik gewesen sei. Nicht, dass man uns mit subversiven Methoden zu Leibe gerückt wäre oder sich übermäßig angebiedert hätte. Aber die Damen und Herren hatten sich von ihrer besten Seite gezeigt und uns auch unverhohlen ans Herz gelegt: „Engagieren Sie sich politisch, egal in welcher Partei...“. Mein Kamerad und ich waren uns einig darin, zwei wirklich vernünftige Vertreter der Politik kennengelernt zu haben; insofern hatte der Abend seine Wirkung nicht verfehlt. Und heißt es nicht, jedes Volk bekomme die Regierung, die es verdient? Jawohl, junge Leute: Geht in die Politik! Nur vielleicht macht ihr es besser, aber schlechter macht es immer jemand.
Muss i denn zum Städle hinaus? Ja, in diesem Fall, im Fall Zivildienst, musste ich es. „Stadtluft macht frei.“ – das war einmal. Wollte ich dagegen ein wenig zusätzliche Freiheit genießen, musste ich sie im Zweifel woanders suchen. Und es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein...
Übrigens ist Schleswig-Hostein das einzige Bundesland, das einen solchen Empfang für Zivildienstleistende veranstaltet. In allen anderen deutschen Landen kommen nur Soldaten zu vergleichbaren Genüssen.


Eine kranke Welt ist das, voller kranker Menschen

Am Abend des ersten April wurde ich krank und versaute mir damit drei freie Tage. Allerdings schrieb der Arzt mich danach für mehr als eine Woche krank, wovon ich einige Tage noch normal nutzen konnte. Der Grund für diese lange „Beurlaubung“ war, dass im Februar schon einmal Montezumas Rache über mich gekommen war und der Herr Doktor sichergehen wollte, dass ich nicht mit Salmonellen oder etwas ähnlich Unangenehmem im Krankenhaus herumlaufen würde. Auch mir, der bisher höchstens einmal im Jahr kränker als Schnupfen gewesen war, kamen zwei Krankheiten innerhalb von drei Monaten seltsam vor. Wieder einmal schiebe ich meiner leidenden Psyche Mitschuld in die Schuhe, aber die Dämpfe von Reinigungs- und Desinfektionsmitteln, die ich so oft einatmete, mögen auch ihren Teil beigesteuert haben.
Jedenfalls verbrachte ich vom ersten bis einschließlich dreizehnten April keinen Tag im Krankenhaus, was mir eine einigermaßen fröhliche Osterzeit bescherte. Dann jedoch kam das dicke Ende: elf Tage am Stück Dienst! Im Großen und Ganzen ging es mir während dieser Zeit ziemlich gut (für Verhältnisse der Zivi-Zeit) – ich merkte, wie ich ein bisschen abhärtete. Je weiter der letzte freie Tag in die Vergangenheit rückte, desto weniger machten mir beim Dienst die Gedanken an Freiheit und Kreativität aus. Ich kann mir jetzt vorstellen, wie schon so mancher Mensch von der täglichen Routine gebrochen wurde, seine Hoffnungen endgültig ins Reich der Träume verbannt hat und somit viel Potential verschenkt. Und wenn es einmal soweit ist, dann redet man sich verständlicherweise ein, das, was man tut, sei „unumgänglich“, „normal“, „vernünftig“. Ich habe stets darauf geachtet, mir nichts vorzumachen: Ich war ganz einfach zu feige, um für meine wahre Meinung geradezustehen. Ich habe andere Fähigkeiten, die ich ausbilden und nutzen sollte und der Großteil der Dienstzeit war Zeitverschwendung. Solche Ehrlichkeit tut weh, aber ich musste sie ja nur vergleichsweise kurz aushalten. Wer als Kind von Kleinbürgern vom ersten Atemzug an in eine solche Lebenshaltung aus Vernunft und Normentreue geprügelt wird, kann sich nur schwer wieder daraus befreien. Die von den Eltern vorgelebte Resignation und Pseudozufriedenheit ein Leben lang zu übernehmen ist sicher einfacher, als den steinigen, gewundenen und mitunter dicht am Abgrund verlaufenden Pfad der Selbstbestimmung einzuschlagen.
Ein Beispiel dafür, wie jemand sich selbst befreit hat, sind die Ende der Neunziger weltberühmt gewordenen Verse:
„New blood joins this earth an quickly he´s subdued
Through constant pain’s disgrace the young boy learns the rules.
With time the child draws in. This whipping boy done wrong
Deprived of all his thoughts the young man struggles on and on…”
Millionen von Popradio-Hörern haben dieses Lied gehört und sich immer wieder gewünscht. Aber wer hat auf die Botschaft eines Sohnes bürgerlicher, streng christlicher Eltern geachtet? Der Sohn hat sich aus dem Griff gesellschaftlicher Konventionen befreit, hat in einem fremden Land den Unfalltod eines engen Freundes miterlebt, hat sich einmal schwer verbrannt, wäre fast zum Alkoholiker geworden und das „Schwarze Album“, auf dem „Unforgiven“ zu hören war, gilt als Meilenstein der Rockmusik. James Hetfield, der ungehorsame Sohn, ist indessen wohl glücklicher und freier als die Tausende, die aus lauter Vernunft eine Banklehre absolviert oder BWL/VWL studiert haben.
Beispiele für die Menschen, deren mögliche Aufmüpfigkeit in Alltagstrott und Sicherheit erstickt ist, habe ich genug getroffen. Ständig hieß es: „Was bleibt uns denn anderes übrig?!“, „Was soll man machen!“, „Hauptsache, man hat Arbeit!“ „Na, wieder Montag? Aber geht ja nicht anders!“
Zurück zu mir, der ich mit einer frustrierten Mittelschicht auf Tuchfühlung ging. In die Zeit dieser elf-Tage-Woche fiel auch eine der wenigen lustigen Begebenheiten des Dienstes: Ich hielt mich gerade im größten Zimmer der Station auf, wo grundsätzlich recht fitte Männer lagen und wo meistens eine recht gute Stimmung herrschte. Plötzlich hörte ich einen Laut, der so unwahrscheinlich war, dass ich ihn sofort wieder vergaß. Als er sich einen Moment später wiederholte, horchte ich etwas genauer und dann kam dieses eigentlich unmögliche Geräusch ein drittes Mal. Miau! Ich stand mitten im Raum und meine Gedanken – „Hier kann einfach keine Katze sein! Soll sie unbemerkt fünf Treppen raufgelaufen sein?!“ – standen mir wahrscheinlich ins Gesicht geschrieben. Die umstehenden bzw. -liegenden Patienten beantworteten meine unausgesprochene Frage: Die Katze sei immer noch hier, das hätten sie doch vorhin schon einer Schwester gesagt. „Hier ist doch keine Katze!“, wehrte ich mit einem erzwungenen Grinsen ab; man wollte mich verarschen! Doch prompt miaute es wieder, klar und deutlich. Jetzt war es soweit: Ich fragte, wo die Katze sei und ging in die Hocke. Während ich unter den Betten herumspähte, konnte der erste Herr sich das Lachen nicht mehr verkneifen. „Schon gut, gehen Sie mal!“, sagte ein zweiter gnädig. Jetzt wollte ich es aber wissen und zur Antwort kam eine Miau-Kette, der ich folgen konnte. Aber da saß keine Katze, sondern ein ausgewachsener Mann. Trotzdem miaute er, und das auch noch ohne die Lippen zu bewegen! Die Erklärung war für einen medizinischen Laien erstaunlich: Der Mann verfügte über eine Luftröhrenöffnung am Hals, durch die er atmen und halt auch miauen konnte.
Das war also mal eine kleine Erheiterung. Für etwas länger anhaltende leichte Aufhellung der Stimmung sorgte aber etwas anderes. Mein Freund, der seinen Dienst als Laufbursche – im „Postmanagement und Logistikservice“, wie er es gerne umschrieb – des Hospitals leistete, würde Ende Mai gehen und sein Nachfolger erst im Juli anfangen. Also bot ich mich an, die Lücke zu überbrücken. Natürlich war diese Selbstlosigkeit auch von meinem Wunsch nach Abwechslung und frischer Luft getrieben, aber ich glaube wirklich, dass die Station besser auf ihren Zivi verzichten konnte als die Verwaltung. Nach ein wenig Hin- und Herlaufen zwischen den verschiedenen Vorgesetzten und einem kleinen Kompetenzkonflikt zwischen der Personalabteilung und der Pflegedienstleitung war es dann beschlossene Sache: Ich würde im Juni für die Post und die Akten zuständig sein.
Aber bis dahin musste ich noch das eine oder andere Quäntchen Geduld auf- und nicht wenige Stunden auf der Station rumbringen. Ich lief also weiter hin und her – Zimmer 14 klingelt: Jemand braucht eine Bettpfanne. In Zimmer 08 muss Blutdruck gemessen werden. Und die verrückte Alte aus 05 hat sich zwischen die zwei Herren in 03 gelegt! Das war übrigens der zweite lustige Zwischenfall, den die Dienstzeit mir geboten hat. Ansonsten ging ich mürrisch den Flur auf und ab und übte mich in der Kunst, just beim Betreten eines Zimmers eine freundliche Mine aufzusetzen. Regelmäßig erzählte ich einem weiteren Wehrmachts-Veteran, dass ich keine Lust auf Soldatspielen hätte, hier Zivildienst machte und später Journalist werden wolle. Und eines Nachmittags meinte die kleine Krankenschwester mit dem frechen Mundwerk auch noch, mir eine geniale Beobachtung mitteilen zu müssen: „Claus, lach doch mal! Du willst doch Journalist werden. Ich stell mir dich gerade beim Grand Prix de la Chanson vor: Geben Sie mir bitte ein Interview!“ Beim letzten Satz hielt sie einem imaginären Gegenüber ein imaginäres Mikrophon entgegen und setzte einen Gesichtsausdruck auf, der offenbar meinen trübsinnigen Blick darstellen sollte. Zugegeben, die Vorstellung war witzig, aber ist es denn so schwer zu begreifen, dass jemand, der Journalist werden möchte, als Krankenpflege-Scherge nicht sonderlich happy ist? Über diesen geistigen Patzer rege ich mich immer noch auf, weil er, wie ich glaube, von der fehlenden Bereitschaft zeugt, sich um den Standpunkt des anderen zu kümmern. Aber mir stecken noch Wut und Enttäuschung von neun Monaten in den Knochen, vielleicht urteile ich nur deshalb so hart...


Troublemakers

Eigentlich beginnt dieses Kapitel schon im April, aber ich habe mich nun mal für die thematische Unterteilung in Monate entschieden, und dabei wollen wir es belassen.
Das zweite Seminar stand für meinen Partner und mich noch aus und wir gedachten nicht, es uns entgehen zu lassen. Ich sprach also meine direkte Vorgesetzte an, dass ich Ende April mal wieder für ein paar Tage das Weite suchen wolle. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen; der Dienstplan sei schon geschrieben und das ginge jetzt schlecht und ob ich sehr traurig wäre, wenn es nicht klappen würde. Ich bejahte, versprach aber noch einmal genau nachzugucken, ob sich nicht etwas machen ließe und sie wollte die Sache auch noch überdenken. Glücklicherweise stellte sich heraus, dass unser angepeiltes Seminar erst im Mai stattfinden sollte und somit war dieses Problem wieder aus der Welt geschafft. Die nächste Station war wie immer unser alter Freund in der Personalabteilung, der die Nachricht vom geplanten zweiten Seminarbesuch mit spitzen Ohren und ungläubigem Blick aufnahm. Trotzdem rückte er die Papiere raus und wir besiegelten die Sache.
Nach vielleicht gut einer Woche erkundigten wir uns telephonisch in der Zivildienstschule nach dem Stand der Dinge und erfuhren, dass es bisher nur wenige Anmeldungen gegeben hatte. Zwei oder drei mehr müssten es schon noch sein, damit die Veranstaltung sich lohne. Wir machten uns also daran, weitere Teilnehmer zu schanghaien und hatten bei einem Kameraden Erfolg. Dieser erzählte uns wenig später, der Personalmeister sei „an die Decke gegangen“(Achtung: Formulierung aus zweiter Hand!) und habe gewettert, dass sich die Sache mit den Seminaren jetzt wohl rumspreche. So wie ich es verstanden habe, hatten vor uns noch keine Zivis des Krankenhauses dieses Recht in Anspruch genommen und der neue Aufwands- und Kostenfaktor – denn im Zweifel muss die Dienststelle die Reisekosten tragen – wurmte den Alten. Bei aller Bescheidenheit muss ich doch sagen, dass das die falsche Einstellung ist. Zivis tun schon genug für ihren geringen Sold. Da sollten sie nicht auch noch um die paar Privilegien, die man ihnen zugesteht, feilschen müssen. Natürlich müssen sie diese Privilegien erst mal entdecken; denn welcher Dienstherr weist seinen kleinen „Helping Hans“ schon darauf hin, dass er Seminare besuchen, unter Umständen Sonderurlaub beantragen, den Dienst unterbrechen und zum Beispiel in den Semesterferien des Studiums beenden kann und so weiter? Da muss man selber die Augen offen halten und die monatlichen Zivildienst-Zeitschriften lesen.
Nachdem also dieses Seminar, welches sich mit Rockmusik in der DDR beschäftigte und mir sehr viel Spaß machte, über die Bühne war, galt es noch, ein wenig althergebrachte Stationsmaloche hinter mich zu bringen. Allerdings belief diese sich im gesamten Monat Mai dank geschickter Planung und glücklicher Fügung nur auf insgesamt vierzehn Tage. Und dann winkte ich der Station auf Wiedersehen und verzog mich in den Keller des Hauses, wo sich das Archiv befindet. Hier sollte für die nächsten sechs Wochen meine Basis sein.


Hello, Mister Postman

Zwei Tage lang wurde ich noch von meinem Kumpel angelernt, dann musste ich meinen Weg alleine finden. Ich schleppte die Patientenakten vom Archiv und von den verschiedenen Vorzimmerdamen zum zentralen Schreibdienst und sammelte überall Post ein, die ich dann im Archiv sortierte, frankierte und rausschickte. Jeden Morgen machte ich eine Runde durch die Innenstadt, um die Post für die umliegenden Ärzte persönlich abzuliefern, die AOK zu besuchen und die postlagernden Briefe für das Krankenhaus abzuholen, was meistens ein bis zwei Kisten waren. Und gelegentlich – oouuh, ganz prekär! – wurde ich auch mit einem Batzen Bargeld zu Sparkasse geschickt. Wenn ich dann auch noch im Dienstfahrzeug unterwegs war, hätte ich mich mit dem Geld eigentlich wunderbar in den Süden absetzen können, um dort ein kleines Häuschen zu kaufen und ein geruhsames Leben als Zitronenpflücker zu führen. Oder ich wäre über Dänemark geflohen und Geysir-Temperaturkontrolleur auf Island geworden. Aber keinem dieser verlockenden Abenteuer gab ich nach und mein Fernweh musste sich mit den täglich Briefen nach Berlin, Wuppertal oder Kopenhagen begnügen. Immerhin kam ich täglich an die frische Luft und konnte unterwegs auch mal beim Bäcker Station machen oder private Kleinigkeiten in der Stadt erledigen.
Eines Tages, ich steuerte gerade auf die Postfächer im Krankenhauses zu, kam ein Paar durch die Eingangtür; sie mit verbundener Hand und er offenbar sie begleitend. Als ich an ihnen vorbei ging, sah ich aus seinem Kragen eine Hakenkreuztätowierung herausschimmern. Bei dem Anblick blieb ich natürlich stehen und sah ihnen nach: Auf seinen kahlen Kopf war hinten eine kleine Zielscheibe tätowiert und auf seiner Jacke prangte groß und fett der Schriftzug „Skinhead“. Ich blieb stehen und überlegte, spürte dann aber wieder die Aktentasche an meinem Arm zerren, so dass ich sie zuerst loswerden wollte. Als ich später zurückkam, war der troie Patriot schon nicht mehr auffindbar. Ich erzählte einer der Rezeptionsdamen von unserem „Gast“ und dass ich den ansprechen wolle, sollte ich ihn noch einmal treffen. Sie meinte, ich solle das lieber nicht tun, um keinen Ärger zu kriegen. Aber ich für meinen Teil ärgere mich lieber mit einer wilden Skinhead-Moite herum, als noch einen dieser Briefe vom BAZ zu lesen, auf denen steht „Dieses Schreiben wurde mit Hilfe einer Datenverarbeitungsanlage erstellt und bedarf keiner Unterschrift“. Prompt traf ich den aussagekräftigen Herrn einige Tage später morgens in der Stadt, wie er vor einem gerade im Öffnen begriffenen Bekleidungsgeschäft herumlungerte. Wenige Minuten später stand er vor dem nächsten Klamottenladen, wo ich mir ein Herz fasste und auf ihn zuging. Ich fragte ihn, ob man mit solchen Tätowierungen gar keinen Ärger kriege. (Jetzt fiel mir außerdem auf, dass sein Hals beidseitig mit je einer Swastika tätowiert war und an seiner Schläfe dezent „Hass“ zu lesen war.) Er erteilte bereitwillig Auskunft: Das käme ganz darauf an, in was für einer Gegend man sich aufhalte – in Berlin-Kreuzberg zum Beispiel sei es schon kritisch. Viele alte Leute, die „damals dabei waren“, würden ihn ansprechen; manche fänden es gut und manche nicht. Von offizieller Seite habe man ihm auch schon mit Gefängnis gedroht. Natürlich wollte er auch etwas über mich wissen – ob ich „von hier“ käme und was ich machte und ob ich mich auch für diese (rechtsradikale) Richtung interessierte. Letztere Frage beantwortete ich weder mit Ja noch mit Nein. Auf meinen Zivildienst erwiderte er, dass er heute auch arbeiten solle und deshalb einen Rollkragen-Pullover suche; denn seiner sei kaputt. Ich wünschte ihm viel Glück, in der diesjährigen Sommerkollektion einen Rolli zu finden; er wünschte mir noch einen schönen Tag und ich setzte meinen Weg zur Post fort. So machte ich nicht zum ersten Mal die Erfahrung, dass man – nur als erkennbarer Angelsachse, versteht sich – relativ sorglos mit Skinheads umgehen kann, was die eigene Sicherheit betrifft. Dass ihr Vorhandensein ein Problem darstellt, will ich nicht bezweifeln.
Ein weiteres Erlebnis im Juni, an das ich mit einem weinenden und einem lachenden Auge denke, spielte sich in einer Filiale einer bekannten Fast-Food-Kette ab, die meines Wissens kein einziges schottisches Gericht anbietet. Zwei Wochen vorher hatten mein schon oft erwähnter Freund und ich dort gegessen und zum wiederholten Male über das katastrophale Preis-Leistungs-Verhältnis gewitzelt. Dieses Mal beschlossen wir, dass es an der Zeit sei ein Exempel zu statuieren und mit lauten Protestbekundungen einen Burger durchs Lokal zu schleudern. Natürlich führten wir diesen kühnen Plan nicht sofort aus, sondern gaben uns eine Bedenkzeit. Also fanden wir uns circa zwei Wochen später, an einem Freitag, erneut in besagtem Gourmet-Tempel ein und bestellten einige jener Brötchen, die angeblich Frikadellen enthalten sollen. Von einem saisonalen Gericht war mein Mitkonspirant positiv überrascht, der Cheeseburger war gerade noch umfangreich genug, um uns ebenfalls etwas versöhnlicher zu stimmen, aber dann kam die Enthüllung, die uns wieder auf die Barrikaden trieb. Als ich nämlich den Hamburger (aus seinem Papier) enthüllte, präsentierte sich uns ein mitleiderregend dünnes, durchgeschwitztes Brötchen, das nicht den Anschein machte irgendetwas zu verstecken. Ich trennte die beiden Hälften voneinander und fand zu meiner Überraschung eine Art Fleischlappen vor; dieser erinnerte eher an eine Scheibe Salami als an eine Frikadelle und schien mit einem dünnen Ketchup-Film beschmiert und einigen mikroskopischen Gurken- und Zwiebelbröseln bestreut zu sein.
Ungläubig bestaunten wir dieses Etwas und wendeten dann unsere Blicke der Speisekarte zu. Dort protzte unter dem Stichwort „Hamburger“ das Bild eines offenbar knusprigen Brötchens, dessen Inhalt, eine knapp daumendicke Frikadelle und einige Gurkenscheiben, bestens zwischen dem Backwerk zu erkennen waren. Wir drehten uns wieder zu dem Häufchen feuchten Teigs auf unserem Tablett, öffneten und schlossen es noch einige Male, als könne das den Hamburger, den wir uns wünschten, herbeizaubern und dann fand mein Gefährte als erster wieder Worte: „Nein, das kann nicht sein!“
Dank der vorhergegangenen, relativ guten Erfahrungen mit den anderen zwei Börgern – und außerdem, weil immer noch das Damoklesschwert der zivildienstlichen Disziplinargewalt über uns schwebte – verzichteten wir darauf, diesen lukullischen Frevel Richtung Kasse zu werfen, sondern beließen es bei einer sachlichen Reklamation. Der erste Verkäufer, dem wir unser Anliegen vortrugen, verwies uns an die Filialleiterin, zuständige Abteilungsleiterin, Chefverkäuferin oder wen auch immer. Auch ihr erzählten wir, dass die Diskrepanz zwischen dem Bild auf der Speisekarte und der vorliegenden Kreation einfach zu groß sei und wiesen sie noch auf einige Details hin. Ihre Antwort war entweder schlagfertig oder gut auswendig gelernt: „Claudia Schiffer sieht morgens auch nicht so aus, wie man sie abends im Fernsehen sieht.“ Auf diese zwar witzige, als Argument jedoch völlig untaugliche Aussage wendete ich, im Glauben einen Scherz gehört zu haben, ein, Claudia Schiffer wolle ich ja auch nicht essen. „Das Bild werden Sie aber doch auch nicht essen wollen?!“, fuhr die Dame fort. Obwohl von diesem Moment an eigentlich hätte klar sein müssen, dass man hier mit Vernunft nicht weiterkam, argumentierten wir weiter. Die Verteidigerin des Fast-Foods sagte noch, derjenige, der das Bild gemacht habe, habe auch jede Menge Zeit gehabt. Recht hatte sie, aber wir waren nicht gekommen, um Kunstwerke zu bestaunen, sondern um zu schmausen. Also bohrte ich weiter, das Bild diene dazu, dass der Kunde sehen kann, was er bestellt und müsse deshalb in gewissen Verhältnis zur Realität stehen.
Nichts half – man nahm die Reklamation an und drückte uns ein neues Frikadellenbrötchen(?) in die Hand. Wir verließen das Territorium des amerikanischen Wirtschaftsimperialismus und packten unseren Neuerwerb aus, der sich – wie hätte es auch anders sein sollen – nur unwesentlich von seinem Vorgänger unterschied. Naja, was hatte die arme Frau machen sollen? Wahrscheinlich steht in ihrem Arbeitsvertrag so eine alles-leugnen-Klausel, die sie auch unterschreiben musste. Wir beendeten diese tragikomische Episode damit, dass wir in einem anderen Stadtteil versuchten, die Einzelteile des neuen Burgers gegen ein Werbeschild jener Restaurantkette zu verwerfen, auf dass sie dort klebenbleiben würden. Leider verpatzte ich es.
Viva la revolución, also! Ansonsten lief ich, brav die Post schleppend, durchs und ums Krankenhaus. Allerdings hatte ich auf dem neuen Posten auch relativ viel Leerlauf, da Zeit für Sonderaufträge eingeplant war – wie zum Beispiel Blumengestecke für die Aufsichtsratssitzung zu holen oder größere Besorgungen mit einem Firmenwagen zu machen. Und da solche Sonderaufträge nicht jeden Tag anfielen, saß ich nicht selten im Archiv und las Zeitung. Dabei bot sich mir ein echtes Kontrastprogramm; denn einerseits kaufte ein Vorgesetzter jeden Tag das Alibi des „Seite-eins-Mädchens“, welches ich dann auch durchsah. Andererseits kam jede Woche eine nicht (mehr) benötigte Ausgabe des Rheinischen Merkur ins Krankenhaus, die ich mit in den Keller nahm – offenbar wurde sie von niemandem vermisst – und im Laufe der Woche durchackerte. Und während das letztgenannte Wochenblatt mich durch seine starke katholische Prägung überraschte, bemerkte ich bei der Bild-Zeitung einige Details, die mir bisher noch nicht bekannt waren. Ich will ehrlich sein: Ich mochte „Bild“ noch nie, musste mir aber eingestehen, dass ich dafür keinen konkreten Grund hatte. Und jetzt – Haha!!! – hatte ich endlich einen Aufhänger für meine Ressentiments gefunden. Ich spreche von der Sitte, Bildunterschriften wie „diese liebe Frau“ oder „dieses Süße Mädchen“ zu verwenden oder Artikel mit Worten wie „Welche eine Tragödie...“ einzuleiten. Mit solchen Formulierungen nehmen die Autoren ihren Lesern jegliches Denken ab; es wird gleich gesagt, mit wem man Mitleid haben soll, wen man bewundern und wen hassen soll. Der Sinn dieser Vorgehensweise entzieht sich jedoch meinem Verstand – jedenfalls solange ich mich nicht wieder in komplizierten Manipulationsvorwürfen ergehe, und das halte ich hier und jetzt nicht für angebracht. Eine weitere Sache, die mir an der meines Wissens dünnsten deutschen Tageszeitung missfällt, ist der bisweilen grob angeberische Ton: „Bild stoppt Gehaltserhöhung von Politikern“ – so oder so ähnlich prangte es Ende Juli/Anfang August (Man möge mir bitte diesen chronologischen Ausbrecher verzeihen.) dermaßen pompös auf Seite eins, dass sogar die Tages-Titten daneben unterzugehen drohten.
Jedenfalls konnte ich während der dienstlichen Abwechslung im „Postmanagement und Logistikservice“ auch ein beachtliches Stück journalistische Bildung für mich verbuchen, und so schien das Werben um diese Stelle wirklich sein Mühe wert gewesen zu sein. Und als dieser Monat um war, war es an mir, „Hello, Mister Postman zu!“ sagen; denn der neue Zivi für den Post-Posten betrat die Bühne. Ich zitiere meinen Freund und Postzivi-Lehrmeister, der am 30. Juni seinen Dienstausweis abgegeben hatte: „Er wird schon noch sehen, was er davon hat, das ein Jahr lang zu machen!“


Neverending maze of drifting numbered days

Wir sind inzwischen im schönen Sommermonat Juli angekommen, den die meisten Deutschen dieses Jahr wahrscheinlich als eher herbstliche Zeit in Erinnerung behalten werden. Aber Regenluft ist bekanntlich die sauberste und so bemühte ich mich, mir während der nassen Stadtspaziergänge nicht die Laune verderben zu lassen. Aber das war inzwischen auch kein Kunststück mehr: Mir standen noch 18 Tage Urlaub zu, so dass ich im August nur vier Tage würde arbeiten müssen. Darüber hinaus lief jetzt ein Frischling neben mir her, unschuldig wie Maria an Heilig Abend, der noch die ganzen verdammten zehn Monate vor sich hatte (bzw. nach neuer Regelung nur noch neun). Ich kam mir sehr alt und erfahren vor...
So, wie mein Freund es vor einem Monat mit mir getan hatte, wies ich den künftigen Herrn der Postabsendestelle in die Geheimnisse der Frankiermaschine ein, zeigte ihm die verschlungenen Wege zwischen Verwaltung, Röntgenabteilung und Telephonzentrale, lehrte ihn die Bedeutung der verschiedenfarbigen Aktenordner und bläute ihm ein, welche Person welche Art von Humor verstand. Nur, dass ich nach zwei Tagen schon auf mich allein gestellt gewesen war – er dagegen durfte seinen Lehrer sieben Tage lang behalten! Mich sollte es nicht stören; so verzögerte sich meine Rückkehr auf die Station noch um ein Woche.
Nachdem mein Schüler mir zwei Tage lang ausschließlich hinterhergelaufen war und gelegentlich eine Akte getragen hatte, war die Zeit reif für seinen Einsatz. Natürlich hatte ich noch zwei, drei Tage lang, besonders beim Sortieren und Stempeln der Post, ein strenges Auge auf ihn. Ansonst verfuhr ich nach dem Lehrer-stellt-sich-dumm-Prinzip, das auch bei mir schon gefruchtet hatte: Die verschiedenen Damen, deren Büros wir frequentierten, hatten merklich Spaß daran, wenn er schon wieder loslief und ich an den Türrahmen gelehnt stehenblieb, seinen verunsicherten Blick mit „Meinst du nicht, wir sollten das hier noch mitnehmen?!“ beantwortend.
Meine letzten Tage im Archiv verliefen sehr entspannt, da ja nun zwei Leute die Arbeit von einem taten. Dann war der Freitagnachmittag des Abschieds von der abgestandenen Kellerluft und von dem netten Archivar, der jeden Morgen für mich Kaffee gekocht hatte, gekommen und am nächsten Montag zog ich wieder die limonengrüne Uniform des Stationsbimbo an.
Als mir der altbekannte Geruch aus Desinfektionsmitteln, Kaffee, Plastik und Dingen, über die ich gar nicht nachdenken will, entgegenschlug, als die Schwestern wie eh und je herumwuselten mit ihren Blutdruckmanschetten, Fieberthermometern und Seltersflaschen, als ich am Eingang der Station den Wagen mit den Frühstückstabletts stehen sah, da kamen mir selbst die knapp vier Wochen, die es noch durchzustehen galt, wie eine Ewigkeit vor. Zum x-ten Mal ging mir der Titel dieses Kapitels durch den Kopf (deutsch: „Nie endendes Labyrinth rasender, nummerierter Tage“). An einer so schönen, so treffenden Formulierung des alltäglichen Wahnsinns kann man sich wohl nur freuen, solange man noch die Hoffnung hat aus eben diesem Labyrinth auszubrechen. Was, wenn man sich rettungslos verlaufen hat, wenn jede Hoffnung auf etwas Besonderes vor den Toren des Irrgartens unerreichbar scheint? Jeder Tag vergeht wie der vorherige, jede Woche rutscht einem unter den Füßen weg, jedes Jahr ist nur ein weiterer weggeworfener Kalender. Einen Sinn des Lebens gibt es nicht; es gibt nur einen Trieb des Überlebens.
Aber es sollte vorbeigehen! Die Schwestern begrüßten mich, eine nach der anderen, als sei meine Rückkehr eine große Überraschung. Und das war sie aus ihrer Sicht auch; zwar war alles schon seit Wochen geplant und abgesprochen, aber Krankenpfleger sind im Allgemeinen keine Verwaltungsmenschen. Ihr Berufsleben spielt sich rund um die vielen Kleinigkeiten der Pflege ab, Büroarbeit scheinen die meisten nicht sonderlich zu lieben und all ihr Tun ist im positiven wie im negativen Sinne von Routine durchsetzt. Dass das Kommen und Gehen eines kleinen Zivis da untergeht, verstehe ich. Trotzdem wurde ich ja herzlich wieder aufgenommen. Es hatte sich auch nicht viel verändert: Eine neue Schülerin war da, eine Praktikantin war inzwischen zur Schülerin aufgestiegen, die Art und Weise, wie der nachmittägliche Kuchen ausgeteilt wurde, hatte sich etwas geändert. Ansonsten alles beim Alten. Sogar einige Patienten kannte ich noch!
Von der Stationsleiterin hörte ich bald – erst aus zweiter Hand, dann direkt – dass sie von meiner Veränderung begeistert sei. Ich sei „aufgeblüht“, hätte mich „positiv verändert“. Anfangs habe sie den Eindruck gehabt, dass es mir auf der Station keinen Spaß mache, aber jetzt... Im Geiste gab ich ihr, frustriert wie ich war, eine Ohrfeige und schimpfte sie aus ob dieses eklatanten Unverständnisses. Liegt es nicht nahe, dass man sich auf das Ende einer beschissenen Zeit freut und deswegen fröhlicher ist?! Laut sagte ich nur etwas wie: „Naja, jetzt sind es nur noch drei Wochen... Da nimmt man das nicht mehr so schwer...“ und nebenbei und überhaupt und sowieso... blabla! Ich wollte nicht so deutlich sagen, dass die Stationsarbeit mir so wenig Spaß wie schon immer machte; denn erstens fürchtete ich, sie könnte es persönlich nehmen, dass ich ihre Welt nicht mochte und zweitens war ich ja selbst Schuld: Ich hatte mir vor dem Zivildienst wenig Gedanken gemacht, die erste Dienststelle ziemlich überstürzt ausgesucht und bei der Versetzung ähnlich überstürzt gehandelt – ich hatte einfach nur weg gewollt und war der Meinung, es könne nicht schlimmer kommen. War es ja auch nicht, aber eben auch nicht viel besser. Und wenn die Chefin sich vielleicht auch nicht angegriffen gefühlt hätte, wollte ich sie auch nicht damit behelligen.
Eine kleine „Vergünstigung“ gab es für mich während der letzten Runde, oder besser gesagt deren zwo. Es handelte sich dabei um einen Schüler und eine Praktikantin. Sie hatte ein Jahr nach mir auf der selben Schule Abitur gemacht und wartete nun auf den Beginn des Medizinstudiums. Er stellte sich als 31jähriger studierter Architekt heraus, der in jenem Beruf keine Beschäftigung gefunden und daher die Ausbildung zum Krankenpfleger begonnen hatte. Zwei Akademiker! Ich bin ja ein Feind von Klassendünkeln und sozialen Grenzen, aber ich merkte doch, dass solche Leute auf Dauer die besseren Gesprächspartner für mich sind. (Zwar hatte ich mich letztes Jahr, als Leiharbeiter tätig, interessant mit ehemaligen Seeleuten und anderen Angehörigen der Arbeiterklasse unterhalten, während wir Kisten stapelten oder Würstchen verpackten; aber erstens waren das Leute vom Rande der Gesellschaft und zweitens war ich damals besser gelaunt.) Mit den zwei Geistesgrößen auf der Station hatte ich mehr gemeinsam; wir konnten übers Studium und das Drumherum reden. Aber meine Interessen überschneiden sich mit denen eines Architekten und einer werdenden Medizinerin auch nur sehr bedingt; die Hauptsache war eine andere: Die beiden waren flexibler, konnten besser über den Tellerrand blicken. Auch das allgemeine Denkvermögen kann man eben trainieren. Wenn ich zum Beispiel erzählte, ich würde mich mit dem Gedanken tragen, unter anderem Islamwissenschaft zu studieren, war die erste Reaktion zwar, genau wie bei den Krankenschwestern, fassungsloses Kopfschütteln, aber danach folgten ein paar tiefgreifendere Worte als „Du musst es ja wissen!“ oder sowas in der Art.
Im Gespräch sagte die künftige Ärztin eines Tages, sie würde ja gerne mal bei der Visite mitgehen; ob ich glaubte, dass das ginge. Ich sagte, das dürfe eigentlich kein Problem sein, ich sei auch schon einmal während der Visite im Zimmer geblieben und sie solle die Ärzte einfach fragen. „Ich weiß nicht, die sind so komisch; nett schon, aber komisch.“, wand sie sich. Ich versicherte ihr, als Praktikantin oder Zivi komme man bloß selten mit den Halbgöttern in weiß ins Gespräch, aber die seien alle in Ordnung. Als ich einige Zeit später an dieses Gespräch zurückdachte, ging mir etwas Allgemeines auf: Die Ärzte waren mir gegenüber immer genau so schüchtern gewesen wie ich ihnen gegenüber. Zwar war ich in meiner grünen Schergenkleidung vom blütenreinen Weiß der Akademiker immer geradezu geblendet, aber ich war für sie auch ein Fremder. Ich arbeitete fast ausschließlich mit den Schwestern zusammen, die Damen und Herren Doktores wussten nicht so recht, was ich konnte und durfte, ob ich überhaupt Zeit hatte mich um ihre Belange zu kümmern. Einmal saß ich in Ermangelung von Arbeit auf einem Bürostuhl und experimentierte mit dem Schwindelgefühl, als eine Ärztin, halb in den leeren Raum und halb zu mir sprechend, nach einem Schüler fragte. Ich antwortete mit der Gegenfrage, ob die Blutprobe, die sie in der Hand hielt, ins Labor gebracht werden solle. Sie sah mich etwas irritiert an und fragte vorsichtig, ob ich auch dafür zuständig sei. Großzügig nahm ich diesen Auftrag an und machte mich mit Draculas elf-Uhr-Imbiss auf den Weg ins Zentrallabor, immer noch ins Fäustchen lachend, dass die Frau Doktor sich benommen hatte, als habe sie einen fletschenden Puma vor sich.
Das war nur ein kleiner Ausflug ins Thema „Menschen und ihre gegenseitige Wahrnehmung“.
Ich hatte jetzt also zwei Gesprächspartner, mit denen ich beim Bettenmachen nicht bloß über „Ich bin so müde.“, „Ich hab heut’ kein’ Bock.“ und „Geiles Wetter heute.“ redete, weil man sich nicht eine halbe Stunde lang anschweigen wollte. Das machte den verbleibenden Dienst etwas angenehmer, zumal eine Art Sommerloch sich geöffnet zu haben schien. Immer mehr Betten der Station standen leer, Praktikanten, Schüler und Zivis begannen sich gegenseitig die Arbeit streitig zu machen und die Vorgesetzten beantworteten die Frage „Was gibt’s noch zu tun?“ immer öfter mit ratlosen Blicken. Ich begann also, zur Belustigung der anderen, mir Blätter von meinem Spanisch-Sprachkalender mitzubringen und in der unbeschäftigten Zeit zu lernen. Besonders die russisch-stämmige Stationssekretärin mit Freunden in der Türkei und Verwandten in New Mexico hatte ihren Spaß, wenn ich die kleinen Zettel rausholte. La cucaraaacha, la cucaraaacha…


Der Einsiedler von Höchenschwand

So fraß ich mich durch die Tage, wie ich es seit einem Dreiviertel Jahr tat. Während es anfangs bei symbolischen Bekundungen wie „Eine Woche rum, das ist ein Vierzigstel der gesamten zehn Monate!“ blieb, ging es mir jetzt mit jedem vergangenen Tag wirklich ein kleines aber wahrnehmbares Stück besser. Und je näher die Stunde null rückte, desto mehr Leute sprachen mich darauf an, größtenteils Schüler und Putzfrauen.
Eines schönen Donnerstagmorgens war es tatsächlich soweit – ein letztes Mal für acht Stunden Langeweile rüsten. Ein letztes Mal auf dem Fahrrad die frische Luft genießen, bevor ich buchstäblich in den Dunstkreis der Krankenhauses kam. Ein letztes Mal die Morgensonne sehen, die Zähne zusammenbeißen und die Tür zur Station öffnen. Ich hatte erwartet, dass die Damen die Bedeutung dieses Tages gar nicht mitkriegen würden, aber eine Schülerin erinnerte sich, steckte es der Chefin und dann verbreitete es sich wie ein Waldbrand in Kalifornien. „Mensch, Claus, letzter Tag heute!“, „Wie die Zeit vergeht!“, „Wir wollten dir doch noch was zum Abschied schenken!“, „Kommst noch mal wieder?“ lag mir die ganze Belegschaft in den Ohren und ich kam den ganze Tag aus dem Grinsen nicht mehr heraus. Zum x-ten Male beantwortete ich die Frage nach meinen Zukunftsplänen. Als die Sonne den Zenit überschritt und die Frühschicht nach Hause ging, wurden die ersten Hände geschüttelt und – da ich noch etwas länger bleiben musste – eine gute Stunde später nahm ich zum letzten Mal mein Abendbrotpaket, schüttelte die Hände der Spätschicht und verlies mit einem fast schmerzhaften, extra breiten Grinsen die Station.
Ich hatte den Eindruck, dass die Sonne an diesem Nachmittag ganz besonders warm und golden schien und die Büsche und Wiesen vor unserer Haustür ganz besonders frisch rochen. Mein Bett war mir wohl noch nie so bequem erschienen und die Musik hatte noch nie so belebend gewirkt. (Natürlich war das letzte Album der Onkelz, „Adios“, ganz besonders passend für diese Zeit.)
Gut 36 Stunden später trank ich künstlich schmeckenden, aber vorbildlich heißen Kaffee (für den ich zwei Euro sechzig hingeblättert hatte), blickte auf eine sonnengeflutete, bäuerliche Landschaft und „Dead Men Tell No Tales“ von Motörhead übertönte das zurückhaltende Brummen des Intercity Express. Ich befand mich auf dem Weg nach Höchenschwand im südlichen Schwarzwald, wo ich eine Woche lang Ruhe und Freiheit zu genießen wollte. Außerdem führte ich einen Laptop mit, so dass in dieser Zeit ein Großteil dieses therapeutischen Schriftstückes entstehen konnte.
Nach etwa zehnstündiger Reise war ich am Ziel. Ein Flug wäre schneller und vielleicht sogar billiger gewesen, aber ich wollte den Landweg. Ich wollte das Gefühl, tausend Kilometer weit zu reisen, wollte die Landschaften und Städte sehen; und als ich im Hotelzimmer stand, waren nicht nur meine Augen müde.
Am nächsten Tag fing ich an zu lesen, zu schreiben und durch die Berge und Wälder zu wandern, wie mir gerade der Sinn danach stand. Ich hatte Glück mit dem Wetter: Die schwersten Stürme in diesen Tagen scheinen knapp an mir vorbeigezogen zu sein und wenn ich draußen war schien fast immer die Sonne. Ich war viel draußen und saugte das Gefühl ein, ganz allein am anderen Ende der Republik zu sein. Und wenn ich zwischen Feldern, fast eine Stunde Fußmarsch vom nächsten Haus entfernt, am Wegesrand saß und nach Süden einen weiten Ausblick über die letzten Ausläufer des Schwarzwald hatte, dann schienen Nachrichten wie „MTV schluckt Viva“ oder „Kommunen wollen HartzIV alleine stemmen.“ auf einmal so nebensächlich zu sein. Die Frage nach dem Sinn des Lebens drängte sich auf, die Relativität gesellschaftlichen Zusammenlebens wurde deutlich, die Vergänglichkeit menschlichen Schaffens... nun ja, die Sonne knallte auch ganz schön auf den Kopf! Wenn ich diese soundsovielte philosophische Krise aber sanft beiseite schob, war es einfach schön, vor dem herrlichen Panorama zwischen grünen Wiesen, sonnigen Kornfeldern und dunklen Nadelwäldern herumzustreifen so lange oder kurz, so schnell oder langsam wie ich gerade lustig war. Der Stress von neun Monaten begann spürbar von mir zu weichen und so fühlte ich mich bald rundum wohl, wenn ich lesend auf dem Balkon meiner „Suite“ saß und eben jene dunkelgrünen Hügel und hellgrünen Wiesen betrachtete, in denen ich herumgestreunt und einem Sonnenbrand immer knapp entkommen war. Einmal konnte ich sogar die Alpen hinter dem Horizont aufragen sehen, und wenn dann noch Axl Rose aus den Kopfhörern sang:
„When I find all of the reasons
Maybe I’ll find another way
Find another day
With all the changing seasons of my life
Maybe I’ll get it right next time
…”
dann stellte sich unleugbar eine heftige Sehnsucht ein. Sehnsucht wonach? Ich vermute, genau dieses Gefühl ist es, dass Reinhold Messner auf den Everest und Jean Jacques Cousteau in die Tiefsee getrieben hat. Hoffentlich kommt es mit mir nicht so weit.
Ansonsten schrieb ich und versuchte Fernsehnachrichten zu erwischen – die Tagesschau um acht vergaß ich dabei ständig. Überhaupt vergaß ich so einiges in dieser Zeit: Ich hatte vergessen einen Löffel mitzunehmen und jeden Tag wollte ich mir einen kaufen, vergaß das aber auch, so dass ich mich dann abends redlich abmühte mit nichts als einem Taschenmesser den beim Schlachter erstandenen Kartoffel- oder Nudelsalat zu essen; und ich meine mit Taschenmesser nicht so eine kleine, rote Werkzeugkiste. An einem Tag ging ich in ein schönes beheiztes Freibad im Wald, vergaß aber ein Handtuch mitzunehmen. Zum Teufel, ich wollte nicht zwei Kilometer zum Hotel zurück und nochmal zwei zum Schwimmbad gehen, also ging ich baden und das Risiko irgendwelcher peinlicher Situationen ein. Hinterher lies ich mich in der Sonne trocknen und den Rest erledigte ein wenig Klopapier. Beim Einkaufen vergaß ich mindestens einmal, dass in kleinen Schwarzwald-Örtchen noch Lebensart herrscht und die Geschäfte eine lange Mittagspause machen. Und eines Abends vergaß ich, dass ich müde war und ins Bett wollte, was mich in den Genuss des fulminanten Sternschnuppen-Regens brachte. Aber so gehört das! Entspanntes in-den-Tag-hinein-leben.
So verlebte ich eine sehr erholsame Woche mit genügend Zeit zum Nachdenken. Passend dazu möchte dieses Kapitel nutzen, um einige Ansichten festzuhalten, die mir zwar schon früher gekommen sind, allerdings in den vorherigen Textabschnitten schlecht unterzubringen wären. Da ist die Frage, was zu tun sei, wenn der an die Wehrpflicht gekoppelte Zivildienst in ein paar Jahren wegfällt. Es wurden Stimmen laut, die ein vorgeschriebenes Soziales Jahr für alle fordern, Männlein und Weiblein. Ich habe hauptsächlich mit Männern über dieses Thema gesprochen und die waren natürlich froh, die Gleichberechtigung auch mal zu ihrem Vorteil heranziehen zu können, sahen es als nur gerecht an, wenn Frauen genau wie Männer ein Jahr lang sozial tätig würden. Natürlich? Ich sehe das ganz anders. Eine Schwangerschaft dauert neun Monate und kann – wir erinnern uns – nur Frauen treffen. Des weiteren folgt auf die Schwangerschaft gewöhnlich eine Geburt, welche nicht ohne Risiken ist. Nach der Geburt brauchen die Kinder mehrere Jahre lang eine Menge Aufmerksamkeit, was auch in der Mehrzahl der Fälle von Frauen übernommen wird. Eine Mutter absolviert also mehrere soziale Jahre, bis ihre Kleinen flügge werden. Die Stellen in der Alten- Kinder- und Krankenpflege sind größtenteils von Frauen besetzt. Und von männlichen Hebammen habe ich noch nie gehört. Durchaus vorhanden aber ebenfalls selten sind männliche Kindergärtner, Babysitter und so weiter.
Kurz gesagt: Ich bin der Ansicht, dass das schöne Geschlecht sich schon ausreichend sozial bemüht, mit oder ohne Kinder. Und wenn jetzt wieder so ein Chauvi kommt, auf die sinkenden Geburtenzahlen in Deutschland verweist und Frauen Versagen in ihrer ureigensten Aufgabe vorwirft... dann muss ich erstens meine Lust, ihm die Fresse zu polieren, zügeln und zweitens fragen, ob er Lust hätte sich bis zur Einschulung den ganzen Tag um ein Kind zu kümmern. „Nö, aber ich bin ja auch ein Mann!“, höre ich es schon zwischen zwei Schluck Bier dröhnen. Nein, das bist du nicht! Echte Männer haben einen Beschützerinstinkt, der sie wenigstens gelegentlich zum Kavalier macht. Für einen echten Mann wiegt das dankbare Lächeln einer Frau schwerer als vielleicht ein kleiner Schmerz in der Schulter, weil er ihr den Koffer getragen hat. Und ein echter Mann fühlt durch eine unabhängige Frau nicht seine Männlichkeit in Frage gestellt. Also, was seid ihr für Männer in der Politik, die glauben, man könne Probleme lösen, indem man den Zwang, dem bisher nur Männer unterliegen, noch auf die Frauen ausweitet? Nein, dass kann nicht die Lösung sein! (Nebenbei: Wenn ich an eine bestimmte Frau denke und mir vorstelle, sie würde unter den gleichen gesetzlichen und persönlichen Umständen wie ich „Zivildienst“ leisten, dann wird mir buchstäblich schlecht.)
Nun zur nächsten Zielgruppe für den Zivildienst der Zukunft, die Arbeitslosen. Manche Leute argumentieren, man könne soziales Engagement nicht erzwingen. Ha! Was ist denn der Zivildienst? Eine freundliche Einladung nach dem Prinzip „Sollte Ihnen gelegentlich der Sinn nach sozialer Arbeit stehen, würden wir uns freuen, wenn Sie mal bei uns vorbeischauten.“ vielleicht? Zivi ist bloß eine von zwei Möglichkeiten. Und wer zum Beispiel aus persönlicher Furcht vor Waffen, groben Kameraden oder einer rauen Ausbildung nicht zur Bundeswehr geht, der hat am unbewaffneten Dienst nicht automatisch Freude. Aber ich will gestehen, das der durchschnittliche Zivilbimbo im Allgemeinen schon geeigneter für den Einsatz in Krankenhäusern, Kinder- und Altenheimen ist als der durchschnittliche Soldat. Manch ein Zivi entdeckt beim Dienst ja auch seine Freude an dieser Art Arbeit und bleibt dabei. Und so könnte es ja auch mit Langzeitarbeitslosen laufen. Ich fände es absolut angebracht, wenn man solchen Personen einen Versuch in Pflege, Betreuung oder Ähnlichem... sagen wir... nahe legt. Man könnte zum Beispiel eine Zeit von vier bis acht Wochen zur Pflicht machen, in denen der oder die Arbeitslose einen oder nötigenfalls auch verschiedene Bereiche kennenlernen kann. Wer sich nach dieser Zeit beim besten Willen nicht für einen „Zivildienst“ erwärmen kann, der hat es immerhin versucht. Aber ich bin zuversichtlich, dass es viele Zivi-Posten gibt, die viele Arbeitslose gerne annehmen würden. Wenn man den heute im Umgang mit Zivis üblichen Ton (siehe Kapitel 3, „Zivildienst ABC“) – „Der ZDL ist verpflichtet...“, „Sie haben darauf hinzuweisen, dass...“, „Der Dienst ist unverzüglich aufzunehmen.“, „Die Broschüre ist sorgfältig zu lesen.“ – etwas höflicher und ermutigender formulierte, würde auch die Stimmung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen sich ein wenig entspannen. Außerdem müsste, im Falle des Einsatzes von Arbeitslosen, allen Dienststellen eingeschärft werden sich vor Arroganz zu hüten; denn davon wären Langzeitarbeitslose wahrscheinlich noch eher und schlimmer betroffen als Kriegsdienstverweigerer.
Abschließend erlaube ich mir auf ein allgemeines Problem hinzuweisen. Unsere (und nicht nur unsere) Gesellschaft macht es sich leicht, indem sie in vielen Bereichen des Lebens Zwang auf das Individuum ausübt, anstatt sich die Mühe von echter Erziehung und Belehrung zu machen. Ich als letzten Winter zum ich-weiß-nicht-wievielten Mal im Zug nach Lübeck saß, beobachtete ich zwei junge Herren in Tarnuniform. Von ihrer Unterhaltung schnappte ich auf: „Ach, einfach Gehirn ausschalten, dann geht die Bundeswehr-Zeit auch schnell vorbei.“ Jo, konkreed, Alda! Wie ich sehe, haben wir alle den Sinn der Wehrpflicht verstanden.
Stellen wir uns doch ein anderes Szenario vor: Es gebe keine Wehrpflicht und auch kein vorgeschriebenes soziales Jahr. Aber vom Kindergarten an finde Schritt für Schritt eine ernsthafte Aufklärung über die Zuständen in unserem Land und der Welt statt. Man erzähle den lieben Kleinen, den hoffnungsvollen Fünftklässlern, den hoffnungslos Pubertierenden, den jungen Erwachsenen, wie unterschiedlich die Menschen sind und dass man gegenseitig auf die Unterschiede Rücksicht nehmen muss. Man erkläre, dass die Jungen manchmal den Alten helfen müssen und dass es wenig ist verglichen damit, was alle Eltern für ihre Kinder auf sich nehmen. Man erwähne ehrlich, dass unsere Welt noch lange nicht gerecht ist und dass man manchmal die Waffen sprechen lassen muss, um sich selbst und Hilflose, die darum bitten, vor verwirrten, kranken Gewalttätern zu schützen. Man bringe der Jugend das Prinzip nahe, stets streng mit sich selbst und großzügig mit anderen zu sein (Ich weiß, dass Hitler diese Formulierung benutzt hat, aber das ändert nichts an ihrer Richtigkeit.) und bestehe auf dem Grundsatz, dass jede(r) den ersten Schritt machen muss; denn niemand kann von anderen etwas verlangen, was er nicht selbst ernsthaft versucht.
Wenn eine ernsthafte Erziehung nach diesen Prinzipien durchgängig in der Schule betrieben würde, bräuchte man sich keine Sorgen wegen des Fehlens von Freiwilligen im Gesundheitssystem und bei der Truppe zu machen. Natürlich müsste man klarstellen, dass die Soldaten und Kämpferinnen an der sozialen Front mehr sind als Nummern als in der Verwaltung. Anstatt ihre Möglichkeiten, den Einsatz abzubrechen, sorgfältig zu verschweigen, sollte von Anfang an klar sein, dass alle ernstgenommen werden und niemand gegen seinen Willen festgehalten wird. Ich persönlich hätte mich bestimmt an einem freiwilligen „Zivildienst“ versucht, hätte ich nur die Möglichkeit gehabt eine kürzere Zeit zu wählen oder ihn leichter vorzeitig abzubrechen. Ich möchte die Erfahrungen, die ich während des Dienstes gemacht habe, nicht missen – aber fünf Monate hätten dicke gereicht. Man bedenke: Die fünf Monate weniger, die ich geleistet hätte, hätte mit Sicherheit ein(e) andere(r) Freiwillige(r) wieder ausgeglichen.
Wir werden niemals eine glückliche Gemeinschaft werden, solange eine Minderheit der Mehrheit Regeln auferlegt. Diese Minderheit ist zwar von der Mehrheit gewählt, aber der durchschnittliche Wähler wählt – wenn er oder sie denn wählt – doch eher aus Hilflosigkeit als aus Überzeugung. Irgendwer muss Politik machen, man selbst hält sich dazu für nicht im Stande, also wählt man denjenigen Kretin, den man als das geringste Übel betrachtet. Wirkliches Vertrauen bringt die deutsche Bevölkerung, Umfragen zufolge, Spitzensportlern und Showmastern entgegen – na, prost!
Wir werden auch niemals eine glückliche Gemeinschaft werden, solange wir uns von den Werbepsychologen einreden lassen, jede(r) Einzelne könnte, müsste ein Star werden und sich deshalb monatlich mit den neuesten Trendprodukten eindecken; von morgens bis abends, von Kopf bis Fuß und von Dach bis Keller. Im Gegensatz dazu erleben wir täglich, dass wir nur eine Personalakte mit einer Nummer oder – Luxusvariante – mit einem Namen drauf und ein kleines Rädchen in einer großen Maschine sind. Wir erleben es als Büroangestellte, als Fabrikarbeiter, als Verkäuferin, als Beamter, als Krankenschwester, als Soldat... als Zivi. Es ist ja auch nicht falsch, ein kleine Rolle zu spielen. Falsch ist, das den „kleinen Leuten“ mit einer beispiellosen Penetranz suggeriert wird, nur wer die Konkurrenz aussteche und besondere Leistungen für sich verbuche sei ein vollwertiger Mensch. Das fängt damit an, die Weingläser kristallklarer zu spülen als andere... wie lächerlich! Wenn ich meine schöne Nachbarin besuche, dann gucke ich doch nicht auf ihre Gläser – höchstens hindurch, wenn sie das Glas gerade vor den Ausschnitt hält. Aber egal, denn wer seine Gläser kristallklar, seine Wäsche farbecht sauber, sein Badezimmer generell bergfrühlingsfrisch hat, darf sich nämlich bei „Starsearch“ oder so bewerben! Und wer sich da nicht anstrengt, wird eine von diesen bitterlich weinenden, gebrochenen Ausscheiderinnen... AAAHAHA, IHR VERSAGER, IHR NIETEN, EUER LEBEN IST FÜR IMMER ZERSTÖRT!!! Seht euch den strahlenden Gewinner an: Sein Traum ist wahr geworden. Während er rund um die Welt jettet, um Mädchen, Sekt und dicke Autos zu konsumieren, wird man euch vergessen und niemand wird zu eurer Beerdigung kommen (es sei denn, ihr torpediert im kühnen Kamikazeangriff einen Gurkenlaster und bleibt so in den Schlagzeilen)!! Ihr seid keine Superstars, ihr habt keine Daseinsberechtigung!
Kommen wir wieder auf den Boden der Vernunft zurück: Es hat nicht jeder das Zeug zum Topmanager, zur Staranwältin, zum Entertainer oder zur Olympiasiegerin. Es ist normal, „normal“ zu sein und für die meisten Menschen ist es auch gut. Aber die hohen Herrschaften können sich ihre Arroganz mal sonst wo reinstecken und kräftig rühren! Weder ihre Titel, noch ihre edlen Anzüge und Halsketten für den Preis einer Eigentumswohnung machen sie zu besseren, nachahmungswürdigen Menschen! Haben doch tatsächlich Rudolf Mooshammer und Boris Becker (vor einigen Jahren im Fernsehen) verlauten lassen, sie würden keine normalen Leute mögen. Freunde, ist euch eigentlich klar, dass all die normalen Leute eure Krawatten kaufen bzw. eure Spiele angucken? Ohne das Geld der normalen Leute wärt ihr auch nur normale Leute! Bei diesem Thema zitiere ich immer gerne, was James Hetfield in einem Interview der Musikzeitschrift „Visions“ gesagt hat. Er erzählte von einem Aufenthalt in St. Tropez: „...ich dagegen kann nichts nennen, was mir an diesem Ort Spaß gemacht hätte. Ernsthaft. Es war sauteuer, und die Leute sind großkotzig.“ (Visions Nr. 125, 8. August 2003) Wir sehen: man braucht diesen ganzen Glamour-Kram nicht mitzumachen, um im Big Business mitzumischen. Man kann auch finanziell erfolgreich und gleichzeitig man selbst sein. Einigen dieser Schickeria-Ladies jenseits der Vierzig (zum Teil auch schon viel früher), die einen verzweifelten Kampf gegen Falten und Cellulitis führen, steht ihre Einsamkeit so überdeutlich ins Gesicht geschrieben, dass ich ihnen sagen möchte: „Komm ein paar Tage zu mir und ich zeige dir, wieviel Spaß das Leben machen kann.“
Solange Otto Normalverbraucher jedoch glaubt, man müsse schlussendlich so etwas erreichen, um glücklich zu werden; solange solche klunkerbehangenen Gestalten als Vorbilder angesehen werden; solange nicht öffentlich und deutlich gesagt wird, was Steuerflüchtlinge wie Boris Becker und Michael Schuhmacher der deutschen Volkswirtschaft und ihren darauf angewiesenen Bewunderern antun; solange kommen wir Germanen zwischen Rhein und Oder auf keinen grünen Zweig. Aber immerhin gab es vor einiger Zeit einen kleinen Lichtblick: In den Tageszeitungen des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags wiesen verschiedene Prominente, unter anderen Günter Grass, darauf hin, dass sie stolz seien ihre Steuern im Inland zu zahlen! Ich hoffe, das macht Schule.


Ich und meine Brüder ham das Kriegsbeil ausgegraben

So denn... nach intensivem Kopfkratzen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass dieser Ausritt in die Welt eines muckschen Zivis lange genug gedauert hat. Ich statte dem Krankenhaus einen meiner letzten Besuche ab, welcher mich schnurstracks zum Herrn der Zivi-Akten führt und mache dort offenbar gewaltigen Eindruck, da seine Kollegin prompt ihr frisch gefülltes Wasserglas über den Schreibtisch kippt. Da bleibt keine Schublade trocken, aber ich tröste sie: Sie solle sich freuen es nicht in die entgegengesetzte Richtung gekippt zu haben, dann wäre nämlich ihre Tastatur im Eimer – „on the fritz“, wie man im englischen Sprachraum genüsslich sagen könnte. Wir erledigen die Entlassungs-Formalitäten, tauschen die üblichen „Schauen-Sie-doch-mal-wieder-rein“-Floskeln aus und dann gehe ich beschwingten Schrittes. Ich bin am Überlegen, ob ich ihn noch ein weiteres Mal aufsuchen soll; eigentlich will ich ihm noch ein Dankesgeschenk machen. Schließlich hat er damals im Januar meine Versetzung möglich gemacht. Und auch den Schwestern von Station X habe ich ein Wiedersehen zugesagt... mal sehen, was daraus noch wird.
Warum eigentlich „Tango mit dem Teufel“? Weil ich der Ansicht bin, dass es keinen Teufel in Form einer Person bzw. einer eigenständigen Macht gibt. Der Teufel ist unsere Angst und die aus ihr resultierenden Probleme wie Gewalt, Gier, Engstirnigkeit und so weiter. Mehr ist der Teufel nicht und er könnte gar nichts Schlimmeres sein. In zehn Monaten, von denen der letzte jetzt, wo ich diesen Text so gut wie fertiggestellt habe, fast zuende ist, habe ich nahezu ununterbrochen über meine Angst nachgedacht. Allerdings war ich nicht mehr Schüler oder völlig freier Dandy, der von einem relativ sicheren und bequemen Standpunkt aus die Dinge beobachtete, sondern stand mitten im alltäglichen Wahnsinn aus Befehl und Gehorsam, frustrierten Menschen und Kranken, der nun auch vor mir nicht mehr haltgemacht hatte. Die Frage war nicht mehr „Was würde ich tun, wenn...?“, sondern „Was soll ich tun?“. Ich hatte schon oft mit dem Teufel getanzt, aber diesmal war es kein gesitteter Walzer mehr, sondern ein lasziver Tango; und er schien mich zu mögen und wollte mich nicht so schnell wieder loslassen. Aber jetzt ist die Party vorbei, Mitternacht ist um und mein Teufel und ich legen uns schlafen. Er ist ein Langschläfer, der normalerweise mittags aufsteht und sich für die nächste Party schick machen will, aber ich bin Frühaufsteher. Und bei Sonnenaufgang werde ich ihm zeigen, was ich unter Spaß verstehe!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Der Leser kann jederzeit Fragen, Beschwerden und Kommentare jeder Art vorbringen, die schriftlich über einen privaten oder dienstlichen Computer an die Emailadresse adiosonkelz@gmx.de einzureichen sind. Gemeinschaftliche Beschwerden von mehreren Lesern zur selben Textstelle sind nicht zulässig. Auf Wunsch erfolgt eine schriftliche Antwort.


Verteiler: - www.e-stories.de
- Bundesamt für den Zivildienst
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Im Oktober 2004 habe ich vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ein Antwortschreiben auf meine Einsendung dieses Textes erhalten. Die Schilderung meiner Erlebnisse und meine Kommentare zum Grundwehr- und Zivildienst scheinen dort ein gewisses Interesse gefunden zu haben. Auf jeden Fall danke ich allen Beteiligten im Ministerium für die Zeit, die sie diesem "Projekt" gewidmet haben.Claus Helge Godbersen, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.09.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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