Wolfgang Hermsen

Die Geschichte der Elisabeth Müller

Vor kurzem hatten Heinz und Erika Müller geheiratet. Sie wohnten in einem Haus in der Nähe von Kassel zur Miete. Erika war Verkäuferin in einem aufstrebenden Kaufhaus und Heinz hatte vor einigen Monaten die Meisterprüfung im Elektrohandwerk bestanden. Er arbeitete in einem großen Automobilwerk als stellvertretender Elektromeister, denn er war schon in jungen Jahren durch seine guten Leistungen aufgefallen und entsprechend gefördert worden. Die Müllers sparten jeden Pfennig, denn sie wollten eines Tages ein eigenes Haus haben.

Nach einiger Zeit bemerkte Erika, dass sie schwanger war. Zuerst dachte sie daran, ob sie sich ein Kind überhaupt leisten konnten, denn sie meinte, durch ein Kind wäre der Traum vom Eigenheim ausgeträumt. Sie traute sich kaum, es Heinz zu berichten. Einige Tage danach fasste sie sich ein Herz und teilte ihm die Neuigkeit mit. Er musste sich erst setzen, um die Nachricht zu verarbeiten. Mit einem Satz sprang er auf, hüpfte von einem Bein auf das andere und freute sich wie ein kleines Kind, dem man einen Luftballon schenkt. Verwundert sagte sie: „Ich dachte nicht, dass du dich so freuen würdest. Denkst du nicht mehr daran, dass wir unser eigenes Haus haben wollten? Wie sollen wir es denn bezahlen können, wenn ich nicht mehr arbeiten kann?“ Doch Heinz entgegnete ihr unbekümmert: „Was ist schon ein eigenes Haus gegenüber einem Kind? Ich werde einfach Überstunden machen und dann reicht unser Geld aus. Wer sagt denn, dass du nie wieder arbeiten kannst? Nach einiger Zeit besteht bestimmt die Möglichkeit, eine Halbtagsstelle anzutreten und bis dahin habe ich genug verdient.“ „Du hast eigentlich Recht. Wie konnte ich nur so schwarz sehen? Es liegt vielleicht an der Schwangerschaft.“ „Ich bin dir deshalb kein bisschen böse, denn du regst zum Nachdenken an und das mag ich so an dir.“

Heinz begann sofort damit, Überstunden zu machen und brachte noch mehr Geld heim. Kurz darauf erhielten sie von einem Makler ein schönes Haus angeboten. Sie hatten sich beim ersten Blick in das Haus verliebt und alle Mühe, es dem Makler nicht zu zeigen. So gut es irgendwie ging, handelten sie den Kaufpreis herunter und kauften das Haus. Einiges Geld behielten sie sogar noch übrig und wollten es bei ihrer Bank zu guten Zinsen anlegen. Ein Bankangestellter überredete sie hinter vorgehaltener Hand zu einem Warentermingeschäft, denn er selbst würde sein ganzes Geld darin investieren. Zuerst waren sie sehr skeptisch aber wenn selbst dieser Bankangestellte sein ganzes Geld riskierte, konnte eigentlich nichts schief gehen. Gesagt, getan! Nach drei Wochen war aus ihren Ersparnissen fast das Doppelte geworden. Sofort legten sie dieses Geld bei der Bank an und hielten sich von solchen, ihrer Meinung nach riskanten, Geschäften fern. Wie Recht sie damit hatten zeigte sich bald, denn das nächste Warentermingeschäft platzte und der Bankangestellte verlor fast sein ganzes Geld.

Mit Riesenschritten rückte der Geburtstermin immer näher und die Vorfreude wurde immer größer. Wenige Tage vor dem berechneten Termin passierte ein Unglück. Erika wollte die Post aus dem Briefkasten holen und stürzte die letzten drei Treppenstufen hinunter. Eine Nachbarin hatte den Aufprall gehört und lief schnell zu Erika, die laut stöhnte. Sofort rief die Nachbarin den Notarzt an, der schon nach wenigen Minuten eintraf. Schnellstens lieferte man Erika in die Geburtsabteilung ein. Der dortige Doktor rief sofort seine Mitarbeiter zusammen und sie bereiteten Erika im Operationssaal auf einen Kaiserschnitt vor. Das war auch dringend geboten, denn sonst wäre das Kind im Mutterleib gestorben. Nach erfolgreicher Operation, die Mutter und Kind gut überstanden, stellte der Gynäkologe eine Schädeldeformation beim Kind fest, die wohl durch den Sturz verursacht worden war. Er wollte Erika einen Schock ersparen und ließ das Kind, ein Mädchen, in die Säuglingsstation bringen.

Als Heinz im Krankenhaus eintraf, befand sich seine Frau gerade im Operationssaal. Er wollte zu ihr, aber der Portier hielt ihn zurück und beruhigte ihn. Danach rief er für Heinz in der gynäkologischen Abteilung an und erkundigte sich nach Erikas Zustand. Die Stationsschwester wusste nur, dass die Operation ohne Probleme verlief und bat Heinz zu warten. Der bedankte sich und lief vor Nervosität wie ein im Käfig gefangener Tiger hin und her. Nach fast zwei Stunden kam der Portier zu ihm und schickte ihn hinauf in die Geburtsabteilung. Schnell lief Heinz die Treppe hinauf und meldete sich bei der Stationsschwester, die ihm mitteilte, dass Mutter und Kind, ein Mädchen, wohlauf wären. Seine Frau befände sich noch im Aufwachzimmer und das Kind auf der Säuglingsstation. Währenddessen kam eine andere Schwester auf Heinz zu und fragte ihn, ob er Herr Müller wäre. Er bejahte und die Schwester sagte ihm, seine Frau wäre jetzt erwacht und er könnte zu ihr. Dankesworte murmelnd ging er zu Erikas Zimmer, öffnete vorsichtig die Tür und sah Erika. Sie hatte ein großes Pflaster an der linken Stirnseite. Leise trat er auf ihr Bett zu und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Er nahm ihre rechte Hand und fragte sie, wie sie sich fühle. Mit schwacher Stimme schilderte sie ihm den Sturz und beruhigte ihn, denn bis auf die Platzwunde an der Stirn und einen leichten Brummschädel hätte sie nichts abbekommen. Ihr Kind wäre zur Beobachtung auf der Säuglingsstation. Einigermaßen zufrieden mit diesen Auskünften, fragte sich Heinz, ob dem Kind bei dem Sturz nichts passiert wäre. Da klopfte es an der Tür und der behandelnde Arzt trat ins Krankenzimmer. Mit bedenklicher Miene eröffnete er den Müllers: „Ich habe mich mit dem Kinderarzt unterhalten, denn ich stellte nach der Geburt bei ihrem Kind eine Schädeldeformation fest. Es kann sein, dass ihr Kind eine Behinderung hat. Genaueres können wir ihnen jetzt noch nicht mitteilen. Warten sie bitte die nächsten Monate ab, dann ist eine ganz genaue Diagnose möglich. Ansonsten haben sie eine kerngesunde Tochter.“ Danach verließ der Doktor das Zimmer. Vollkommen außer Fassung sahen sich Erika und Heinz an. Das konnte doch nicht wahr sein. Ihr ganzes Leben schien zerstört. Wie würde ihre Zukunft aussehen? Würden sie vierundzwanzig Stunden am Tag auf das Kind aufpassen müssen? Wäre es ein Pflegefall? Erika machte sich die schlimmsten Vorwürfe. Hätte sie doch nur die Post Post sein lassen. Wäre sie doch nur vorsichtiger gewesen. Hätte sie sich doch nur besser fest gehalten. Doch diese Vorwürfe führten zu nichts und Heinz versuchte, Erika zu trösten. Er wollte ihr Kraft geben und seine Gefühle nicht zeigen, doch als er Erika in den Arm nahm, begann er, hemmungslos zu weinen. Wozu hatten sie sich so abgemüht und so viel gespart? Wofür das alles? Ihre Kinder sollten es eines Tages besser haben und dann so etwas. Andere Ehepaare kümmerten sich einen Dreck um ihren Nachwuchs und trotzdem wuchsen diese Kinder fröhlich und zufrieden auf. Es war alles so ungerecht. Warum hatte Gott ihnen so etwas angetan? Warum nur, warum? Sie hatten doch niemandem etwas angetan. Es war zum Verzweifeln. Erika sagte mit tränenerstickter Stimme: „Wir müssen noch einen Namen für unser Kind finden. Spontan fällt mir da Elisabeth ein.“ Heinz entgegnete: „Ein Name ist so gut wie der andere. Mir ist es egal.“ Er verabschiedete sich mit gebrochener Stimme von Erika und begab sich zum Standesamt. Dort meldete er seine Tochter an und ging anschließend heim. Als er daheim war, nahm er sich eine Flasche Whisky und leerte sie fast. Zwischendurch meinte er, dass das Trinken die einzige Möglichkeit wäre, mit diesem sinnlosen Leben fertig zu werden. Warum sollte er überhaupt noch arbeiten gehen? Völlig betrunken blieb er auf dem Sofa liegen.

Am nächsten Morgen hatte er einen fürchterlichen Kater und meldete sich krank. Er musste erst wieder zu sich selbst finden und alle Ereignisse in der richtigen Reihenfolge zusammenbringen. Der Umzugstermin stand auch kurz bevor und er musste jetzt alles alleine zusammenpacken. Warum hatten sie sich nur auf diesen Hauskauf eingelassen? Da klingelte es an der Wohnungstür. Heinz schleppte sich zur Tür und öffnete sie. Draußen stand sein bester Freund, Theo Meier, der im Nebenhaus wohnte und schon Frührentner war. Als Theo Heinz sah, erschrak er zuerst, ließ es sich aber nicht anmerken und begrüßte ihn: „ Guten Morgen Heinz. Ich wollte nur fragen, wie es Mutter und Kind geht. Wie heißt euer Kind überhaupt?“ Heinz bat ihn in die Wohnung, schloss die Tür und antwortete traurig: „Erika geht es den Umständen entsprechend gut und unser Kind heißt Elisabeth.“ „Heinz, du verschweigst mir doch etwas.“ „Was sollte ich dir denn verschweigen?“ „Rück‘ schon raus mit der Sprache. Da ist doch was im Busch. Ich kenn‘ dich doch.“ Sie setzten sich ins Wohnzimmer und schweren Herzens erzählte Heinz dem Theo alles, was ihm der Arzt gesagt hatte. Ungläubig sah ihn Theo an: „Was ist mit eurer Tochter? Sie soll behindert sein? Das tut mir sehr leid für euch. Das habt ihr ganz bestimmt nicht verdient.“ Heinz dankte ihm mit müder Stimme für sein Mitgefühl und bot ihm einen Cognac an. Sie stießen auf Elisabeth an und Theo gratulierte ihm trotzdem herzlich zum Nachwuchs. Fast böse sagte Heinz: „Was gibt es da schon zu gratulieren? Demnächst haben wir einen Krüppel Zuhause und dann müssen wir uns schämen, dass wir so ein Kind haben. Was sollen nur die Nachbarn denken? Hätten wir uns doch nur weit entfernt ein Haus gekauft, da, wo uns keiner kennt.“ Theo war erschüttert über diese Worte: „Wir sind doch Freunde und darum sage ich dir jetzt die Wahrheit. Wenn du mir deshalb böse bist, verstehe ich das sehr gut. Hör‘ mir bitte genau zu. Du bist von Selbstmitleid zerfressen, willst den Kopf in den Sand stecken, dich vor der Welt verstecken und keinen Menschen mehr sehen. Falscher könntest du dich nicht verhalten. Hat denn ein Behinderter kein Recht auf Leben? Meinst du vielleicht, mir macht es Spaß, Frührentner zu sein und als Simulant bezeichnet zu werden, nur weil ich kaum Luft bekomme? Stelle dich dem Leben. Sag‘ ja zu allem, was auf dich zukommt. Du warst doch früher nie ein Pessimist. Denk‘ doch mal nach!“ „Ich glaube, es ist besser, du gehst jetzt! Ich brauche keinen klugen Ratschläge von dir! Danke für deinen Besuch.“, hielt sich Heinz mühsam zurück. Theo verabschiedete sich: „Ich bin weiterhin dein Freund und halte zu dir, egal was dir zustößt. Bis dann.“

Einige Tage darauf kam Erika heim. Sie litt sehr darunter, dass sie ein behindertes Kind zur Welt gebracht hatte. Was würde nur die Zukunft bringen? Wie würde sich ihr aller Leben verändern? Sie wollte sich ablenken und stürzte sich in ihre Hausarbeit. Am nächsten Morgen kam schon um sieben der Lkw und schnell waren die ersten Sachen verladen. Der Fahrer meinte, dass er kaum jemals so zügig einen Umzug hatte vonstatten gehen sehen.

Kurz darauf wurden Heinz und Erika zum Krankenhaus bestellt. Der Kinderarzt bat sie in seinen Behandlungsraum und eröffnete ihnen: „Nach eingehenden Untersuchungen wurden folgende Behinderungen bei Elisabeth festgestellt: Sie wird kaum sprechen und nur sehr wenige Bewegungen ohne Hilfe vollbringen können. Beim Sturz der Mutter war die Schädeldecke eingedrückt und dadurch das Sprachzentrum sowie die Bewegungskoordination geschädigt worden. Regelmäßige Krankengymnastik und der Besuch einer Sprachschule könnte die Behinderungen etwas mildern. Es tut mir leid, dass ich ihnen keine positivere Nachricht geben kann.“ Obwohl der Doktor so schonend wie möglich gesprochen hatte, trafen seine Worte die Müllers wie Hammerschläge. Völlig verzweifelt verließen sie das Krankenhaus. Ihre Tochter Elisabeth musste dort noch etwa einen Monat zur Beobachtung verbleiben.

Nach diesem Monat, der Erika endlos lang vorkam, ging sie mit Heinz zum Krankenhaus, um die Elisabeth abzuholen. In der Kinderstation übergab ihnen die Stationsschwester ihre Tochter und richtete ihnen aus, dass ihnen der Stationsarzt noch einige Ratschläge und Anregungen für die ersten Monate geben wollte. Sie bedankten sich herzlich und begaben sich ins Arztzimmer. Der Arzt begrüßte sie: „Guten Tag liebe Familie Müller. Ich habe mir etwas Zeit für sie genommen, um ihnen meiner Meinung nach einige wertvolle Tipps bezüglich der Pflege ihrer Elisabeth zu geben. Zuerst einmal sage ich ihnen, dass die Elisabeth ein besonderes Kind ist. Nicht weil sie behindert ist, sondern dass sie solche Eltern hat wie sie. Sie werden sich ganz sicher sehr gut um sie kümmern und, davon bin ich felsenfest überzeugt, ehrlich lieb haben. Herr Müller, schauen sie doch nicht so zweifelnd. Sie sind nicht der erste Vater, der hier sitzt und ein behindertes Kind hat. Ihre Verzweiflung ist zwar verständlich und ich kann mir denken, dass sie sich gesagt haben, warum ausgerechnet wir. Diese Einstellung wird ihnen wenig hilfreich sein. Sehen sie sich doch das Leben der Amerikanerin Helen Keller an. Hat diese Frau keine Chancen gehabt? Bevor ich ihre Zeit noch länger in Anspruch nehme, verabschiede ich mich jetzt besser von ihnen und wünsche ihnen alles nur erdenklich Gute für sie und ihr Kind.“ Heinz erhob sich mit den Worten: „Sie haben Recht. Auf Wiedersehen Herr Doktor.“

Mit ihrer Tochter auf dem Arm kamen sie heim. Die Nachbarn hatten sie schon von weitem kommen sehen und wollten sich nach dem Befinden des Kindes erkundigen, denn sie wussten ja, dass Elisabeth lange im Krankenhaus gewesen war. Heinz öffnete die Fahrertür, stieg aus, ging ums Auto zur rechten Seite und war Erika beim Aussteigen behilflich. Währenddessen kam der rechte Hausnachbar zu ihnen und fragte nach Elisabeth. Etwas barsch antwortete Heinz: „Es geht ihr einigermaßen, aber das gibt sich wieder!“ Erika schaute Heinz an, schüttelte den Kopf und sagte: „Vielen Dank für ihre Nachfrage. Wir werden unserem Kind viel Liebe geben. Das ist für sie die beste Medizin.“ „Ich wünsche ihnen für Elisabeth alles Gute und ihnen Beiden, dass sie immer die Kraft haben werden, ihr die nötige Liebe und Anerkennung zu geben.“ Heinz gab dem Nachbarn die Hand: „Entschuldigen sie bitte meinen Ton aber Alles kam für uns sehr überraschend. Dafür können sie ja nichts. Auch von mir vielen Dank für ihre Anteilnahme.“

Die ersten Wochen waren sehr schwer für Erika und Heinz, denn Elisabeth schrie nicht, bewegte sich kaum und sie mussten ihre Bedürfnisse fast erraten. Für Erika war es leichter als für Heinz, denn sie hatte allein schon durch das Stillen viel engeren Kontakt. Besonders Heinz litt sehr darunter, dass er ein behindertes Kind hatte. Im Betrieb ließ er sich nichts anmerken aber nach einiger Zeit wurde auch dort bekannt, dass Elisabeth behindert war. Einige furchtbar neidische Kollegen tuschelten hinter seinem Rücken: „Das hat er verdient. Hier den großen Macker spielen und noch nicht mal ein gesundes Kind zu Stande bringen. Ja, ja, Hochmut kommt vor dem Fall. Es gibt also doch noch Gerechtigkeit.“ Ein anderer Kollege, eine Seele von Mensch, sprach mit Heinz: „Egal, wie es dir oder deinem Kind geht, auf mich kannst du dich immer verlassen. Ich werde dir helfen, wo immer ich kann. Scheu‘ dich nicht, mich um Hilfe zu fragen.“ „Von dir hätte ich auch nicht anders gedacht als dass du helfen willst, Hugo. Vielen Dank. Ich werde auf dein Angebot im Bedarfsfalle zurückgreifen. Gäbe es doch nur mehr von diesen prachtvollen Menschen wie dich.“

Im Laufe der Jahre lernte Elisabeth mit großer Mühe sprechen und ihre Hände zu gebrauchen. Als sie in der Schule mit dem Schreiben und Lesen begonnen hatte, fing sie an, ihren ersten kurzen Gedichte zu verfassen. Ihre Eltern hielten anfänglich diese Schreiberei für dummes Zeug, doch die Lehrer waren alle begeistert von den einfachen aber wirkungsvollen Worten und dem Tiefgang in Elisabeths Werken.

Im Alter von zwölf Jahren schickte sie ihre Kurzgeschichten nacheinander an verschiedene Verlage und einige dieser Geschichten wurden zuerst in kleinen Auflagen herausgegeben. Diese Auflagen waren außerordentlich schnell vergriffen und die Verlage konnten kaum nachkommen, Neuauflagen heraus zu bringen.

Nach einiger Zeit wurde Elisabeth gebeten, an einer Dichterlesung teilzunehmen und aus einem ihrer Werke vorzulesen. Dieser Bitte kam sie gerne nach und ließ sich von ihrem Vater zu dieser Veranstaltung bringen. Dort stand sie nun im Rampenlicht. Etliche Menschen im Publikum waren darüber erschüttert, dass Elisabeth so schwer behindert war und sich mehr schlecht als recht im Rollstuhl hielt. Doch kaum hatte sie ihren ersten Worte vorgetragen, lauschten alle Anwesenden gebannt dem Klang ihrer Stimme. Keiner sah mehr ihre Behinderung. Als sie geendet hatte, war das ganze Publikum völlig sprachlos. Erst nach einer längeren Pause brandete tosender Applaus auf. Die anderen geladenen Dichter wurden versehentlich zu Statisten degradiert und als der Applaus abgeebbt war, stand ein Schriftsteller auf und gratulierte Elisabeth: „Ich danke dir für deine unnachahmlich schönen und bewegenden Worte. Wie sagte doch so treffend ein asiatischer Weiser: Die Lotosblüte wächst aus dem übel riechenden Schlamm zu unglaublicher Schönheit. Diesen Worten kann ich mich vorbehaltlos anschließen.“

Die damaligen zerstörerischen Fragen der Müllers zur Behinderung Elisabeths tauchten nicht mehr auf. Kein Mensch wird sich jemals damit abfinden, wenn er eine Behinderung hat. Er wird in den meisten Fällen versuchen, das Beste daraus zu machen. Für Elisabeth war es eben die Gabe der Schriftstellerei, die sie als Mensch so einzigartig machte. Ist nicht jeder Mensch einzigartig? Jedes Wesen auf der Erde bekommt genau das zum Leben, was es braucht. Nur wir Menschen wollen unsere Geschenke oft nicht haben.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.09.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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