Viola Huber

Sommerherbst

Der Himmel war grau und wolkenverhangen, an diesem Morgen. Es sollte einer dieser typischen Herbsttage werden, hatten sie im Radio gesagt. Diese Tage, die ich Sommerherbsttage nenne.
Als ich aus dem Bus hinaus auf den Bürgersteig trat, spürte ich, wie die schwüle Luft sich auf meine Haut legte.
Dort stand ich nun, nach so langer Zeit im Krankenhaus endlich zu Hause. Noch vor zwei Wochen hatte ich mich danach gesehnt, doch nun machte es mir Angst. Meine Eltern kannten die Diagnose.
“Leukämie, Endstadium.“ Noch immer hallten die Worte des Arztes in meinem Kopf wider, der einige Stunden später auch meine Eltern informiert hatte. Gleich am nächsten Tag kamen Mom und Dad zu mir ins Krankenhaus, und wir redeten. Stundenlang, über alles. Auch darüber, wer es meiner Schwester sagen sollte. Wir hatten entschieden, daß ich es Dawn selbst erklären würde.
Dieser Tag war heute gekommen. Dabei hatte ich selbst noch nicht so ganz überrissen, was in den nächsten Wochen, oder wenn ich Glück hatte, Monaten, mit mir passieren würde. Seit Tagen ging es mir so. Ich wußte, daß ich bald sterben würde. Mein Kopf hatte es kapiert, aber meine Gefühle waren, seitdem ich es wußte, wie ausgelöscht. Nur diese Angst nagte ständig in mir, seit ich das Krankenhaus verlassen hatte. Es war nicht die Angst vor dem Tod. Ich hatte Angst, es meiner Schwester zu sagen.

Automatisch ging ich die drei Stufen zu unserer Haustür hoch. Gleich würde ich die Tür aufschließen und rufen, “Ich bin da.“ Als ob ich aus der Schule käme, schoß es mir durch den Kopf. Doch meine Gedankengänge wurden unterbrochen. Vor mir wurde die Haustür stürmisch aufgerissen.
“Josh!“ Dawn stand vor mir. “Endlich bist du wieder da.“
Meine kleine Schwester. Sieben Jahre alt, fröhlich, unschuldig, nicht ahnend, was mich - uns alle - bald erwarten würde.
“Hallo, Dawn.“ Glücklich, sie wiederzusehen, lächelte ich sie an.
“Komm rein.“ Sie hielt mir weit die Tür auf, so daß ich mit meinem Gepäck ungehindert den Flur betreten konnte.
“Haben sie rausgefunden, was das ist, mit dem Nasenbluten?“ Dawns kindliche Neugier war ich zwar gewöhnt, aber das ging mir zu schnell.
“Ja. Es ist kompliziert, ich erklär es dir später“, wich ich ihrer Frage aus. Doch allein der Gedanke an “später“ verursachte, daß mein Magen sich vor Angst zusammenzog.
Mom rettete mich vor den neugierigen Fragen meiner Schwester, indem sie aus der Küche kam.
“Hallo, mein Großer“, begrüßte sie mich fröhlich. Dafür, daß sie von der Diagnose wußte, hielt sie sich ziemlich gut. Dawn sollte nichts merken, das war der Grund. Doch an ihrem Verhalten gegenüber mir merkte ich, daß es ihr noch viel mehr weh tat, als ich vermuten konnte. In ihrem Begrüßungslächeln lag ein schmerzlicher Ausdruck, kaum sichtbar, aber doch erkennbar für mich. Sie zog mich sanft in ihre Umarmung und drückte mich dann fest an sich; so fest, als ob sie mich nie wieder loslassen wollte. Über ihre Schulter blickend, erkannte ich Dad, der in der Tür zum Eßzimmer stand und mich ebenfalls anlächelte, auch mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen. Innerlich berührte es mich, daß meine Eltern sich so sehr bemühten, nicht traurig zu sein. Nicht nur für Dawn, sondern auch für mich. Sie wußten, daß Mitleid mir nicht helfen konnte. Es hätte mich wohl nur noch mehr belastet, wenn ich ihre Trauer auch noch voll mitbekommen hätte.
Dawn hüpfte vor mir her zum Eßtisch; sie plapperte unaufhörlich. Sie erzählte mir, daß Mom zur Begrüßung mein Lieblingsessen gemacht hatte. Pfannkuchen mit Sirup.
Dafür könnte ich sterben, hatte ich früher einmal die Kochkünste meiner Mutter geschildert. Menschen sind seltsam, dachte ich. Sie reden in Phrasen über den Tod, ohne nachzudenken, was sie eigentlich sagen. Und wenn sie dann dem Tod gegenüberstehen, sind sie geschockt. Bin ich auch geschockt, überlegte ich. Es war wohl so. Weshalb sonst fühlte ich nichts, seit Tagen?
Nachdem ich Dad begrüßt hatte, setzte ich mich an den Eßtisch und begann, ohne rechten Appetit, die Pfannkuchen zu essen. Ich dachte nicht darüber nach, was ich tat. Ich funktionierte einfach nur. So war es, seit ich das Krankenhaus verlassen hatte. Es ging wie automatisch. Der Weg zur Bushaltestelle. Die Fahrt nach Hause. Die Begrüßung daheim. Es war wie immer - als ob ich aus der Schule käme, dachte ich mir abermals. Und doch war es anders. Es könnte das letzte Mal sein. Das letzte Mal mein Lieblingsessen. Das letzte Mal Dawns Lachen hören - oder ihr Weinen, wenn ich es ihr erzählen würde?

Es ist Spätnachmittag. Ich sitze in meinem Zimmer, höre meine Lieblings-CD, Europe. The Final Countdown. Für mich ist er gekommen. Ich sitze am Schreibtisch, starre vor mich hin und suche im Kopf nach Worten, wie ich es meiner Schwester erklären kann. Wie lange sitze ich schon hier? Minuten? Stunden? Der Countdown läuft. Ich hebe meinen Blick; starre aus dem Fenste in unseren Garten. Dorthin, wo die große Eiche steht. Ich sehe den Baum an, und fühle mich plötzlich, als wäre ich ein Teil von ihm. Als wären wir verbunden. Ich sehe die grün-gelblichen Blätter, die sich sachte im Wind bewegen. Einges Grün ist schon zu Laub geworden, das unterm im Gras liegt. Das Laub ist breit, zu Erde zu werden. Sehr bald schon wird auch mein Körper zerfallen wie dieses Laub... Vielleicht wächst dort, wo ich begraben werde, irgendwann auch ein Baum...
Ein Klopfen an meiner Zimmertür rüttelt mich wach. Ich bin zurück in der Realität. In der Gegenwart, im Jetzt. Noch lebe ich!
“Josh, kann ich reinkommen?“ Es ist Dawn. Sie hat einen Stapel Videocassetten unter den Arm geklemmt, als sie mein Zimmer betritt. Wie früher werden wir uns gleich ein paar Trickfilme ansehen, eine alte Gewohnheit, fast schon ein Ritual aus meiner Kindheit.
“Schön, daß du wieder da bist“, sagt meine Schwester. “Jetzt können wir endlich wieder zusammen spielen und fernsehn - oder magst du Comics lesen?“
Das ist er. Der Zeitpunkt. Der Coutdown hat seine Halbzeit erreicht. Es Dawn zu sagen, besiegelt es endgültig. Es meinen Freunden mitzuteilen wird dagegen ein Kinderspiel sein.
“Dawn.“ Ich gehe zu meinem Bett hinüber, lasse mich darauf nieder. “Setz dich mal neben mich.“
Sie kommt, hockt sich neben mich auf die Bettkannte.
“Was ist?“
“Hör mir zu, ich werde nicht lange hierbleiben.“
“Wieso, gehst du weg?“
Ich schüttel den Kopf, und plötzlich werde ich seltsam ruhig.
“Nein, Dawn. Du hast mich vorhin gefragt, was der Arzt mir gesagt hat.“
“Ja?“
“Er hat gesagt, ich hab eine sehr schlimme Krankheit. Sie heißt Leukämie, das ist eine Art Blutkrebs. Weißt du was das ist?“
“Krebs.“ Dawn sieht mich halb ängstlich, halb forschend an. “Daran kann man doch sterben!“
Ich nicke ruhig.
“Der Arzt hat gesagt, daß ich sterben werde, Dawn. Es kann vielleicht morgen sein, oder aber erst in ein paar Wochen oder Monaten.“
Sie starrt mich an; sagt nichts. Doch was sie fühlt, drückt sich in ihrem Gesicht aus. Langsam löst sich eine Träne aus ihren Wimpern, rollt über ihre Wange und fällt auf die Matratze.
“Ich will nicht, daß du stirbst“, weint sie.
Ich ziehe meine Schwester an mich, umarme sie so fest und gleichzeitig so sanft wie es mir möglich ist. Dawn schluchzt in mein T-Shirt, ich schließe die Augen und streichel ihr mit der Hand übers Haar. Langsam, ganz langsam spüre ich, wie sich eine Träne ihren Weg über meine Wange bahnt und zu Dawns Träne aufs Bett fällt.

Der Himmel ist grau und wolkenverhangen, am nächsten Morgen. Ich sehe es, als ich vom Bett aus zum Fenster blicke. Der Baum in unserem Garten schwingt im Wind sachte hin und her. Ein paar trockene Blätter lösen sich, schweben tanzend und sich drehend zu Boden, wo sie im Gras liegenbleiben. Bald schon werden sie zu Erde werden.
Eine warme Brise weht durch mein Haar, als ich die Augen wieder schließe. Ich spüre die schwüle Luft über meine Haut gleiten. Ein typischer Sommerherbsttag. Ich spüre, es ist Zeit zu gehen...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.09.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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