Andreas Korte

Wie viele Leben hat Katze

Es gibt bestimmte Dinge im Berufsleben, die Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Zwei davon sind, dass Meetings 1. immer zur unpassenden Zeit angesetzt werden und 2. ihr Ende dann jedoch nicht einzuschätzen ist.

„Denk´ an die Einladung bei meinen Eltern.“ Diese Worte hatte Clara mir an diesem Freitag mit auf den Weg zur Arbeit gegeben. Natürlich hatte ich daran gedacht und weil ich wusste, dass es ihr und wohl auch meinen Schwiegereltern wichtig war, dass die Familie beim traditionellen Sommerempfang für Freunde und Verwandte (welch interessante Differenzierung) vollständig versammelt war, hatte ich an diesen Freitag meinen Terminkalender frei von Eintragungen gehalten. Jedenfalls bis zu dieser e-mail aus Hamburg:
„Meeting Freitag um 10 Uhr. Ort: Niederlassung Dortmund. Thema: Marketingkampagne für die DFL. Gruß Phil“
Diese kurze Nachricht beinhaltete eine gute und eine schlechte Nachricht: auf der einen Seite war der Freitag nunmehr kaum planbar geworden, aber immerhin hatte ich ein Heimspiel erwischt und musste meine familiären Verpflichtungen nicht von vornherein zu den Akten legen.
Mit Clara hatte ich nicht über das Meeting geredet. Ich meine, wozu hätte ich das tun sollen? Es hätte weder etwas am Zustandekommen noch am Ablauf der Besprechung geändert. Es hätte höchstens und das mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit nur zu einem weiteren Streit geführt.

Immerhin begann das Meeting pünktlich und wir handelten die ersten Tagesordnungspunkte so zügig und konzentriert ab, dass mich die Hoffnung auf das Erreichen des Zuges nach Münster um 18:36 Uhr (sollte ich diesen Zug erreichen, würde ich es schaffen, pünktlich gegen 20:00 Uhr bei meinen Schwiegereltern zu sein) streifte. Gut, es würde dennoch Stress mit Clara geben, die dann alleine zu ihren Eltern hinfahren müsste, denn ich würde direkt mit dem Taxi weiter nach Gievenbeck fahren und wir würden nicht gemeinsam, so wie sich auf dem Lande nun einmal gehört, dort eintreffen.
Als es dann aber um den Logoentwurf ging, hatte ich das Gefühl von Wahnsinnigen umgeben zu sein und sie alle zerrten mit ihren endlos langen Diskussionsbeiträgen um meist weniger als Nichtigkeiten an dem dünnen Faden herum, an dem der erfolgreiche Start in mein ohnehin karges Privatleben an diesem Wochenende hing.

Ich erreichte den Dortmunder Hauptbahnhof kurz nach halb Acht, hastete eilig durch die Menschenmassen (in Bahnhöfen merkt man erst, wie viele verschiedene Menschen es wirklich gibt und das es verdammt viele sind) in Richtung Bahnsteig 21 a/b, nahm, entgegen meiner sonstigen Art und Weise des eher zurückhaltenden Auftretens, keine Rücksicht auf die Passanten um mich herum und war tatsächlich noch pünktlich am bereitstehenden Zug. Etwas außer Atem ließ ich in meinen Sitz in der 1. Klasse – ja, ich gebe zu, 1. Klasse zu fahren, denn ich nutze meinen Arbeitsweg halt auch gerne zum konzentrierten Arbeiten oder auch nur entspannten Zeitung lesen - sinken und schloss die Augen. Ich musste kurz eingenickt sein und als sich der Lünener ruckartig in Bewegung setzte und ich die Augen öffnete, blickte ich in das freundlich lächelnde Gesicht eines Mitreisenden.
„Bitte, bitte kein Gespräch“, dachte ich mir, ein Freitag mit einem unendlichen, kurzfristig anberaumten Meeting hinter und eine Gartenparty meiner Schwiegereltern noch vor mir reichte an Kommunikation.
Mein Gegenüber lächelte mich immer noch an. Ich fühlte mich beobachtet und unwohl, aber lächelte trotzdem zurück. Der Lächelnde verstand dies offensichtlich falsch, als Einladung zum Gespräch.
„Fahren Sie auch nach Münster?“
Danke, das war es also mit meiner Stunde Ruhe und Erholung im Nahverkehr.
Ich nickte ihm zu und sagte: „Ja.“
„Und dann, fahren Sie dann noch weiter oder ist dort für Sie Endstation?“
„Endstation.“
„Ach was bin ich unhöflich“, sagte er fröhlich und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Ich frage Ihnen hier Löcher in den Bauch und dabei habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Ich bin Katze, Herrmann Katze.“
Mit diesen Worten stand Herr Katze auf und reichte mir seine Hand.
Was blieb mir übrig, als ebenfalls aufzustehen, die angebotene Hand einzuschlagen und mich vorzustellen.
„Angenehm“, sagte Herr Katze, wir setzten uns und er lächelte mich wieder an.
Ich wollte eigentlich meine Ruhe und keinesfalls eine Unterhaltung, aber da war nicht nur dieses freundliche Lächeln, das mich berührte, sondern eine unbeschreibliche positiv geartete Ausstrahlung ging von diesem Menschen aus, der mir da im Abteil gegenüber saß und als mich diese im Moment unseres Händedruckes erreichte, wusste ich, dass ich die Unterhaltung fortsetzen wollte.
„Und Sie, wollen Sie auch nach Münster?“
Herr Katze schaute einen Augenblick aus dem Fenster und wandte sich mir dann wieder zu.
„Nein. Ich habe Münster schon probiert, dort ist kein Platz für mich. Ich muss noch weiter.“
Ich verstand die Antwort nicht und eine Zeitlang blickten wir schweigend aus dem Fenster. Es regnete, als wir in Preußen hielten und Herr Katze das Gespräch wieder aufnahm.
„Wie viele Leben hat Katze?“
Ich hatte gerade an Clara und den unvermeidlichen Wutausbruch im Anschluss an das Fest ihrer Eltern gedacht. Sie hasste es, wenn ich mich verspätete, würde mir aber im Beisein Dritter niemals eine Szene machen, denn die Fassade einer heilen Welt vor sich herzutragen war ihr immens wichtig. Aber im Grunde schien sie ohnehin alles zu hassen was ich tat, außer sie hatte es mir aufgetragen und ich hatte alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt. Das war nicht oft der Fall.
„Neun“, antwortete ich überrascht.
„Dann habe ich ja noch einige vor mir“, sagte Herr Katze und lächelte wieder.
Ich schaute ihn irritiert an.
„Bei neun Leben habe ich eine große Chance ein Leben zu finden, dass mir gefällt und in dem alles zusammen passt.“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun, es gibt Momente im Leben, da will man die Situation, in der man sich befindet, beenden. Manchmal ist das ganz einfach, manchmal aber auch nicht. Ein Beispiel: Ist eine Beziehung kaputt, kann ich mit 16 Jahren kann ich eine Freundin problemlos sitzen lassen, ist sie Mitte Dreißig und hat ein paar Kinder mit mir, wird es schon schwieriger. Es gibt unendlich viele Beispiele für unerträgliche Lebenssituationen. Und je nach Typ und jeweiliger Verfassung zieht man dann die Konsequenzen. Mitunter sind diese in ihrer Auswirkung durchdacht, oft sind es aber auch Kurzschlusshandlungen. Das führt nicht nur zu Mord und Totschlag sondern auch zu dieser hohen Selbstmordrate, die es hier, in einem Land gibt, in dem niemand hungern müsste und wo auf hohem Niveau heftigst geklagt wird. Ist es nicht so?!“
Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort: „Bei mir ist es anders: Wenn ich nicht mehr weiter kann oder keinen Ausweg weiß, dann setze ich mich in den Zug und verlasse mein bisheriges Leben.“
„Aber wenn das Neue nicht besser ist“, warf ich ein.
„Man weiß zum Glück nie, wie es im Alten weitergegangen wäre. Zudem gibt es ja auch Rückfahrkarten.“ Er lächelte mich dabei sanft an.
„Das wiederum klingt plausibel. Aber ist Flucht die richtige Lösung von Problemen?“
„Sind Katastrophen vorzuziehen?“

Es regnete noch immer, als wir die Münsteraner Peripherie erreichten. Ich schaute nachdenklich aus dem Fenster und freute mich plötzlich auf das Sommerfest mit all seinen möglichen Auswirkungen.

Ich wollte mich wieder meinem Gegenüber zuwenden und den Gedankenaustausch fortsetzen, aber als ich hochschaute, war Herr Katze geräuschlos verschwunden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.09.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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