Wolfgang Hermsen

Weihnachten bei Familie Schmidt

Dieses Jahr sollte das Weihnachtsfest zu einem ganz besonderen Ereignis werden. Markus Schmidt und seine Frau Gisela hatten schon Wochen vorher die Geschenke für ihre Kinder, die Zwillinge Manuela und Oliver gekauft und bei Giselas Mutter gelagert. Oliver sollte eine Autorennbahn bekommen und Manuela einen Erweiterungsset für ihre elektrische Eisenbahn. Es war unglaublich welch ein handwerkliches Geschick ihre Tochter an den Tag legte. Sie hatte mit ihren zwölf Jahren die Landschaft für die Eisenbahn fast komplett selber gebaut und zwar mit einer Liebe zum Detail, die einfach unnachahmlich war. Oliver hingegen kam nur mit vorgefertigten Sachen klar, selbst Lego war nichts für ihn. Seine Stärke war seine unheimlich schnelle Reaktionsfähigkeit und beim Autorennen hatte gegen ihn keiner eine Chance.

Am heiligen Abend so gegen fünf Uhr als es schon fast dunkel war, hielten es die Kinder nicht mehr aus. Furchtbar ungeduldig drängten sie die Eltern, doch endlich die Geschenke zu holen. Vater sah Mutter an, Mutter sah Vater an. Sie seufzten und erhoben sich vom Sofa. Quälend langsam gingen sie in den Keller und brachten die Weihnachtsgeschenke mit, die sie unter den festlich geschmückten Tannenbaum neben die Krippe legten. In der Zwischenzeit hatten die Zwillinge die Geschenke für die Eltern, eine Sonnenbrille für Mutter und einen Modell-Lkw für Vater, aus ihrem Zimmer geholt und hinter dem Baum platziert. Die Sache mit der Sonnenbrille war eine Meisterleistung der Verheimlichung gewesen, denn Mütter haben ein unheimliches Gespür in Bezug auf ihre Kinder und deren Taten.

Allen neumodischen Strömungen zum Trotz wurde vor der Bescherung ein wenig gesungen. Die Kinder empfanden das zwar als fürchterlich kitschig und meinten, diese Singerei wäre Gefühlsduselei aber sie konnten sich der Ergriffenheit nicht entziehen. Fast hätten sie sogar geweint vor Rührung aber das verkniffen sie sich. Danach bekam jeder sein Geschenk aber Mutters Überraschung über die Sonnenbrille war nicht zu übertreffen. Alle waren zufrieden und Oliver ging sofort in sein Zimmer, um die Autorennbahn aufzubauen. Kurz darauf folgte ihm sein Vater und half ihm dabei. Anschließend begab der sich zu Manuela und schaute ihr zu, wie sie den neuen Zug sorgfältig auf die Schienen setzte.

Gegen sieben Uhr wurde der Esstisch gedeckt und das Abendessen aufgetragen. In diesem Jahr gab es Räucherlachs mit Meerrettichsoße als Vorspeise, Hähnchenbrust auf Reis indische Art und Eis zum Nachtisch. Nach diesem vorzüglichen Essen, das der ganzen Familie ausgezeichnet geschmeckt hatte, räumten sie gemeinsam den Tisch wieder ab und setzten sich aufs Sofa, um den Familienfilm im Fernsehen anzuschauen. Die Eltern tranken noch ein Gläschen Rotwein und die Kinder Apfelschorle. Nach etwa 20 Minuten passierte es.

Plötzlich fiel der Strom aus. Zum Glück brannten die Kerzen auf dem Adventskranz und gaben Licht. Schnell holte Markus einige andere Kerzen und entzündete sie. Zusätzlich hatte Gisela eine Tüte mit Teelichtern auf den Tisch gestellt. Oliver war in die Küche gelaufen, hatte den Rolladen hoch gezogen und konnte sehen, dass die ganze Straße keinen Strom mehr hatte. Da klingelte das Handy und die Stimme eines Nachbarn teilte ihnen mit, dass er beim Elektrizitätswerk angerufen hätte. Der Stromausfall würde wohl einige Stunden dauern, denn die Fehlersuche und Reparatur gestalteten sich äußerst schwierig. Markus bedankte sich und beendete das Gespräch. Er gab die Nachricht an die Familie weiter und bat um Vorschläge bezüglich des weiteren Ablauf des Abends. Manuela meinte, ein Gesellschaftsspiel wäre schön aber das lehnte Oliver kategorisch ab, denn er verlor fast immer. Gisela schlug vor, dass jeder ein Buch lesen sollte. Zum Lesen hätten die Zwillinge aber auch keine Lust. Markus hatte eine Idee, die erst nach einiger Bedenkzeit Zustimmung fand. Jeder sollte eine erfundene Geschichte erzählen, denn das würde seiner Meinung nach am besten in die Weihnachtszeit passen. Danach ging er Decken holen, denn die Heizung funkzionierte nicht mehr und es kühlte merklich ab.

Als die gesamte Familie unter den dicken Decken auf dem Sofa saß, sich zusammen kuschelte und dadurch gegenseitig wärmte, begann Gisela mit dem Geschichten erzählen. Sie konnte sehr gefühlvoll und warmherzig vortragen. Gebannt hingen die anderen Familienmitglieder an ihren Lippen. Markus hingegen liebte Satiren, Manuela mochte Horrorgeschichten und Oliver hatte das Talent eines orientalischen Märchenerzählers. Gisela hatte ihre zweite Geschichte fast beendet, als der Strom wieder kam. Sie atmeten auf und hörten sich das Ende trotzdem aufmerksam an.

Immer wieder erinnerte sich Jeder noch gern an dieses Weihnachtsfest und manchmal wurde im Kreise der mittlerweile großen Familie, denn die Zwillinge hatten selbst schon Kinder, solch ein Geschichtenabend veranstaltet.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.09.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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