Michael Speier

Wer ermordete Thomas Wild?

An diesem schönen Dezembermorgen im Jahre 1877 hatte die Londoner Times eine Schlagzeile die ihr eine stark erhöhte Auflage sicherte. Vor 3 Tagen war der bekannte, und sehr wohlhabende, Geschäftsmann Thomas Wild spurlos verschwunden, und an diesem schönen Morgen war er wieder da. Teilweise zumindest, denn unglücklicherweise fehlten ihm ein Ohr und drei Finger. Aber diese Teile benötigte er nicht mehr. Das Einzige was er im Moment noch benötigte war ein schöner, warmer Sarg, und selbst die Wärme war für ihn nur noch Peripher von Interesse. Er war tot. Die Bevölkerung, oder zumindest ein Großteil davon, war sehr erfreut. Vor allem seine Geschäftskollegen. Denn Thomas Wild war Geldverleiher. Die Ermittlungen führte ein Inspektor James Holden. Er war Säufer, und somit eine große Belastung für die Polizei von Whitechapel. Er war der nahezu unfähigste Mann den die Polizei zu bieten hatte, es sei denn sie wollten irgendeinen Pubbesitzer ausspionieren. Aber Holden war mit den meisten gut befreundet. Somit war er selbst für diese Aufgabe denkbar ungeeignet. Dabei war es nicht immer so. Früher einmal hatte er sogar für Scotland Yard gearbeitet, doch diese Zeiten waren längst vorbei. Er war jetzt über 50 und wartete nur noch auf seine Pensionierung. Dann würde er vielleicht zurück aufs Land ziehen. Er hatte bis vor 10 Jahren mit seiner Frau und seiner Tochter in einer recht ansehnlichen Waldhütte gelebt, doch dann gab es diesen Zwischenfall. Er quittierte seinen Dienst und ließ sich zur Whitechapel Police versetzen, eine Truppe die sich um weniger prestigeträchtige Fälle kümmerte. Eine Truppe die es nicht mit gefährlichen Gewaltverbrechern, sondern mit Säufern und Prostituierten zutun hatte. Möglicherweise hatte dieser Umgang auf Holden abgefärbt. Er begann zu trinken, aber er trank nie mehr als mit Gewalt hineinging. Zur gleichen Zeit begann sein früher so geniales Gehirn zu verkümmern, und er mauserte sich zur größten Witzfigur der Whitechapel Police. Doch das war ihm egal, solange er nur genug zu trinken hatte. Genau aus diesem Grund war er für die Ermittlungen im Mordfall Thomas Wild genau der richtige Mann. Denn eigentlich hatte niemand großes Interesse an der Auflösung des Falls. Nicht einmal seine Frau. Die wesentlich jüngere Yvone Wild war eine recht attraktive Brünette, die in der ganzen Stadt gerngesehen war, zumindest bei den Herren. Elf Jahre später wäre sie ein potentielles Opfer für Jack the Ripper gewesen, wenn sie wissen was ich damit meine. Doch ich schweife ab. Lassen sie uns lieber wieder zu Thomas Wild zurückkehren, denn ein weiterer Punkt sollte an dieser Stelle erwähnt werden. Thomas Wild war ein begnadeter Jäger, vor allem hatte er es auf Wölfe abgesehen. An den Wochenenden ging er gerne auf Wolfsjagd. Scheinbar hatte eines der Tiere einen Wutanfall bekommen und ihn getötet. Dazu hätte es allerdings einiger anatomischer Besonderheit bedurft. Es hätte aufrecht gehen und ein Messer oder eine Säge bedienen können müssen. Besonders fiel auf das die Daumen der beiden Hände fehlten, sowie der Zeigefinger der rechten Hand. Also eben die Finger die ein Mensch benötigte um ein Gewehr oder eine Handfeuerwaffe zu bedienen. Das alles läßt darauf schließen das ein Mensch den Guten in die ewigen Jagdgründe befördert hatte, doch die vierte Verstümmelung, das fehlende Ohr, war eindeutig abgefressen worden. All diese unverständlichen Punkte führten Inspektor Holden in eine Sackgasse. Zum Glück war am Ende der Sackgasse eine Gaststätte in die er sich setzen und in Ruhe über den Tathergang nachdenken konnte. Der Pub quoll über vor Menschen. Hauptsächlich Arbeiter und Tagelöhner die ihren Feierabend genossen. Es waren auch viele Frauen anwesend, aber ihre Zuneigung war eher käuflicher Natur. James Holden saß vor einem Krug Schwarzbier (dem dritten) und starrte in die Runde. Der Hocker neben ihm war noch frei. Vor einigen Minuten hatte hier noch ein zwielichtig aussehender Mann gesessen und getrunken, doch er hatte das Weite gesucht als er bemerkte das der grauhaarige Mann auf dem Stuhl neben ihm ein Freund und Helfer war. Selbst die leicht bekleideten Damen hielten sich von ihm fern, denn er neigte zu aggressiven Handlungen wenn sein Alkoholgehalt im Blut zunahm. Der Wirt stand vor ihm und war gerade dabei ein Glas zu polieren (ein Sinnloses unterfangen, wenn man das Tuch in Augenschein nahm, welches er dafür benutzte.)

“Nun, James. Bei wem leihst du dir denn jetzt dein Trinkgeld?“

Der Wirt lachte über seinen eigenen (besonders blöden) Witz.

“Keine Ahnung, Frank. Wahrscheinlich mußt du jetzt anschreiben.“

“Ne ne, Kumpel. Bei dir schreibe ich nichts an. Weiß der Geier wann ich dann mein Geld zurück kriege.“

James Holden wollte gerade den Krug zum Mund führen, als ein kühler Zug Nachtluft seinen Rücken heraufkroch. Die Türe war geöffnet worden, nicht ungewöhnlich zu dieser Zeit, doch von draußen schien eine unangenehme Kälte in den Raum getreten zu sein. Holden drehte sich zur Türe um zu sehen wer da gerade eingetreten war. Es war ein Mann etwa Mitte Zwanzig. Er hatte einen pechschwarzen Anzug an, ein schwarzes Cape umgelegt und auf dem Kopf trug er einen schwarzen Zylinder. Er hatte lange schwarze Haare, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sein gesamtes Auftreten lies darauf schließen das der Mann von Adel war. Ungewöhnlich war auch seine Größe. Holden war 1 Meter 80 Groß, doch dieser Fremde in Schwarz war locker einen Kopf größer als er, wenn nicht noch mehr. Eine zwielichtige Kneipe im Londoner East End zog die merkwürdigsten Gestallten an, aber ein Mann von Adel? Es gingen zwar Gerüchte um das selbst Angehörige des Königshauses diese Gegend aufsuchten, jedoch nur um sich die ein oder andere Dame in ihre Kutsche zu holen und .... Nun, sie wissen schon, denn einen Straßenstrich hat es immer gegeben, und den wird es immer geben. Auch wenn heute keine Pferde mehr den Damen vor den Laden scheißen. Jedenfalls war da dieser Mann, und obwohl er die Türe wieder geschlossen hatte war noch immer diese unangenehme Kälte im Raum. Obwohl eine recht ansehnliche Geräuschkulisse in dieser Häuslichkeit herrschte konnte Holden die Lackschuhe auf dem Holzboden klacken hören als der Mann auf ihn zukam. Der Inspektor drehte sich wieder zur Bar um, doch er bemerkte das der Schwarzgekleidete auf ihn zukam. Er setzte sich auf den Stuhl neben ihm. Der Wirt kam und fragte ihn was er zu trinken haben wollte. Der Schwarzgekleidete blickte ihm lediglich in die Augen, und der Wirt drehte sich augenblicklich um und kümmerte sich um die anderen Gäste. Holden bekam eine Gänsehaut. Er starrte auf den Tresen, doch er bemerkte das der Mann ihn anstarrte. Nach einigen Sekunden hob er den Kopf und sah zu dem Fremden herüber. Dieser lächelte ihn freundlich an.

“Inspektor James Holden, richtig?“

Holden nickte. Er war bekannt in dieser Gegend, auch wenn er den Fremden noch nie zuvor gesehen hatte, es war doch nicht unmöglich das er ihn kannte.

“Ja, genau. Mit wem habe ich das Vergnügen?“

“Ich nehme an mit drei oder vier Bieren, Inspektor. Ich sehe das sie im Moment sehr beschäftigt sind. Sie ermitteln doch im Mordfall Thomas Wild, bin ich da richtig informiert?“ Holden nickte dem Fremden in Schwarz stumm zu.

“Dann sind sie sicher an den Informationen interessiert, die ich für sie habe. Kommen sie doch einfach morgen abend zum Lunch in mein Haus, Inspektor. Wir können uns dann in aller Ruhe darüber unterhalten.“

Holden war verwirrt. Er konnte sich an den Mann in Schwarz erinnern der da eben noch neben ihm gesessen und mit ihm gesprochen hatte. Er wußte noch was er anhatte, und wie angenehm seine Stimme klang, doch das einzige was jetzt noch an ihn erinnerte war die blütenweiße Visitenkarte die vor Holden auf dem Tresen lag. In einer dünnen und sehr verschnörkelten Schrift stand dort ein Name und eine Adresse geschrieben, und mit blauer Tinte war eine Uhrzeit unter den Namen geschrieben worden. „7 Uhr abends“ stand da, mit einer sehr ansehnlichen Handschrift geschrieben. Der Namen auf die Karte war Holden jedoch gänzlich fremd. Nie zuvor hatte er von einem Vincent Delakay gehört. Dabei war die Adresse wiederum sehr bekannt. Er kannte die Straße. Soweit er wußte war der Ashton Place eine Gegend in der die feinsten Leute Londons wohnten. Er wollte ihm auf jedem Fall am nächsten Abend einen Besuch abstatten. Möglicherweise hatte er tatsächlich sachdienliche Hinweise die zur Ergreifung des Mörders führten. Er würde es seinen Vorgesetzten schon zeigen. Er war ein guter Polizist.



Am nächsten Abend, es war exakt 7 Uhr abends, bog die Mietdroschke auf den Ashton Place ein. Die angegebene Hausnummer war in silbernen Ziffern an die Hauswand geschraubt. Das Haus selbst war mehr als auffällig. Es war nicht nur das mit abstand größte Haus auf dieser ohnehin protzigen Straße, sondern auch das sicherste. Es war von einer 3 Meter hohen Mauer umgeben, die nur von einem zweiflügligen Stahltor unterbrochen wurde, welches einen spärlichen Blick auf das Anwesen erlaubte. Das Tor selbst schien aus massivem Stahl zu bestehen das von einem Schmied hergestellt worden war der sein Handwerk mehr als verstand. Die Gitterstäbe waren ineinander gewunden und bei genauerem Hinsehen waren es keine einfachen Rundeisen sondern Schlangenkörper, deren Köpfe nach oben sahen und deren Rachen weit geöffnet waren. Sie wanden sich um die beiden Buchstaben V und D welche, jeweils einer pro Torflügel, in einer Art fünfeckigem Stern eingelassen waren. Als die Droschke vor dem Tor zum stehen kam öffnete es sich wie von Geisterhand. Der Kutscher war lediglich verdutzt, doch den Pferden schien die ganze Sache nicht geheuer zu sein. Sie weigerten sich weiterzugehen. Also stieg Holden aus, zahlte für die Fahrt und ging zu Fuß weiter. Der frisch gehakte Kies knirschte unter seinen billigen Schuhen und er fühlte sich unwohl, regelrecht ängstlich. Er fühlte das ihn jemand beobachtete. Und Möglichkeiten hierfür bot der große Hof vor dem Haus genug. Links und rechts von dem Weg wuchsen riesige Büsche die, obwohl so dicht und riesig, sehr gepflegt wirkten. Der Inspektor entschied sich den Rest des Weges etwas schneller zu bestreiten als bisher. Er überwand die drei Stufen vor der Haustür mit nur einem Schritt und betätigte den gewaltigen Türklopfer der wohl einen Drachenkopf darstellen sollte welcher wiederum einen Eisenring im Maul trug. Links und rechts neben der Tür standen zwei Statuen. Es waren Löwen die eine Art Wappenschild in ihren Pfoten hielten. Gerade als Inspektor Holden sie sich etwas genauer ansehen wollte wurde die Türe geöffnet. Ein Mann, wesentlich größer als Holden, jedoch reichlich dürr, stand in einem perfekten Frack in der Türe und sah auf den Inspektor herab. Er wirkte Hochnäsig, und sein Blick war mehr als herablassend. Er war offenbar ein Diener, doch er hielt sich für etwas Besseres. Holden mochte ihn nicht.

“Inspektor ´olden, nehme isch an. Bitte treten sie ein. Monsieur Delakay erwartet sie bereits.“

Der Dürre trat einen winzigen Schritt zur Seite und ließ gerade genug Platz damit Holden eintreten konnte. Beim vorbeigehen stach der penetrante Geruch von süßlichem Parfüm in Holdens Nase. Vor ihm lag eine Eingangshalle die den Inspektor unwillkürlich an eine Kirche erinnerte. Die Eingangshalle wurde von Kerzenleuchtern erhellt die überall an der Wand angebracht waren. Auch über ihm hing ein Kerzenleuchter, und Holden fragte sich wie jemand die Kerzen darin entzündet hatte, denn er hing in etwa Fünf Metern Höhe. Die ganze Halle wirkte gigantisch. An den Wänden hingen Gemälde von Männern und Frauen der verschiedensten Epochen. Es schienen allesamt Verwandte von diesem mysteriösen Monsieur Delakay zu sein, denn die Gesichtszüge wiesen eine enorme Ähnlichkeit auf. Aber nicht nur die enorme Höhe war es, die Holden an eine Kirche erinnerte, auch der Fußboden wirkte edel. Er sah ihn sich genauer an und trat ein paarmal mit der Fußspitze auf.

“Hm, Marmor, wie?“

“Monsieur Delakay kann es sich leisten, Sir. Wenn sie mir bitte folgen möchten. Monsieur wartet nicht gerne.“

Mit diesem Worten setzte sich der Butler auch schon in Bewegung. Er schritt auf eine gewaltige Türe zu die am andern Ende der Halle war. Holden hatte Mühe mit ihm Schritt zu halten. An der Türe angekommen blieb der Butler stehen und drehte sich zu dem Inspektor um. Dann klopfte er an die Türe und öffnete sie. Holden versuchte in den Raum hinein zu sehen, doch es war zu dunkel.

“Monsieur, der ´err von der Polizei wäre dann ´ier“

“Nur herein mit ihm, Jaques.“

Die Stimme kam aus dem Dunkel. Dem Hall nach zu urteilen mußte der Raum hinter der Tür noch wesentlich größer sein als die Eingangshalle, und die kam Holden bereits gigantisch vor. Der Butler trat zu Seite, und Holden ging an ihm vorbei. Abermals stach der penetrante Parfümgeruch in seiner Nase. Als er den Raum gerade betreten hatte wurde die Türe hinter ihm geschlossen.

“Ah, Inspektor, ich bin sehr froh das sie meiner Einladung gefolgt sind.“

“Ja ja, gerne, Mister Delakay.“

Es dauerte etwas bis sich die Augen des Polizisten an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Raum schien in der Tat wesentlich größer zu sein als die Eingangshalle. Ein weiterer Unterschied bestand darin das es absolut keine Fenster gab. Und auch keine Kerzenleuchter. Lediglich eine einzige Kerze stand auf einer langen Tafel, die in der Mitte des Raumes aufgebaut war. Und an dieser Tafel saß Vincent Delakay, zumindest vermutete Holden dies, denn die Stimme kam aus eben dieser Richtung, und er hatte die Stimme wiedererkannt.

“Bitte Inspektor, kommen sie doch zu mir und leisten mir Gesellschaft. Nehmen sie doch bitte auf dem Stuhl am anderen Ende der Tafel Platz.“

Holden ging mit kleinen, vorsichtigen Schritten auf die Tafel zu.

“Keine Angst, sie werden über nichts stolpern, außer über ihre eigenen Füße. Der Raum ist absolut leer.“

Delakay schien sich über Holden zu amüsieren, jedenfalls klang seine Stimme danach. Er erreichte die Tafel auf der anderen Seite und setzte sich auf den hohen Stuhl der dort aufgestellt war.

“So, Mister Delakay, was wollten sie mir sagen?“

“Wie ich sehe verlieren sie keine Zeit, verehrter Inspektor Holden. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt wir könnten uns vorher vielleicht ein wenig besser kennenlernen. Mögen sie Wein?“

Holden betrachtete Delakays Gesicht. Es sah gespenstisch aus wie der Schein der einzelnen Kerze es erhellte. Seine Augen schienen zu leuchten, und seine Haare trug er diesmal offen. Sie fielen ihm auf die breiten Schultern herab. Langsam konnte Holden besser sehen. Er befand sich in einem riesigen Raum der in der Tat, mit Ausnahme der Tafel, absolut leer war. Vor ihm stand ein leeres Glas. Plötzlich füllte es sich mit einer roten Flüssigkeit. Holden erschrak. Er hatte überhaupt nicht bemerkt wie Delakay aufgestanden und zu ihm hin gekommen war. Jetzt stand er neben ihm und goß ihm Wein ein.

“Ein Ausgezeichneter Jahrgang, wissen sie. Ich selbst mache mir nicht viel aus Wein, aber glauben sie mir, ich verstehe etwas davon.“

Delakay stellte die steinerne Karaffe neben Holdens Glas und schritt langsam und absolut lautlos zurück zu seinem Platz. Holden nahm das Glas und schnüffelte vorsichtig daran.

“Sie glauben doch hoffentlich nicht das ich sie vergiften will, Inspektor?“ Delakay schmunzelte und Holden führte vorsichtig das Glas zum Mund um zu nippen. Es war tatsächlich Wein, und es war sogar der mit Abstand Beste Wein den er jemals in seinem Leben getrunken hatte. Er leerte das Glas genussvoll, stellte es behutsam wieder auf den Tisch und sah zu Delakay herüber. Beziehungsweise sah er dorthin wo Delakay noch vor wenigen Sekunden gesessen hatte.

“Nehmen sie sich ruhig noch wenn sie möchten, Inspektor.“

Der Stimme nach zu urteilen befand sich Delakay nun hinter Holden, allerdings ein ganzes Stück weit weg.

“Sie wollen mich doch nicht etwa betrunken machen, oder?“

Delakay lachte. “Ich denke mal dazu gehört wesentlich mehr als ein paar Gläser Rotwein, Inspektor, oder etwa nicht?“

Die Stimme bewegte sich durch den stockdunklen Raum.

“Das ist französischer Wein, nicht?“ Holden hatte das Bedürfnis irgendetwas zu sagen, nur damit er eine Antwort bekam und einschätzen konnte wo sich Delakay momentan befand.

“Nein, Mister Holden. Das einzig französische in diesem Haus ist mein Butler.“

“Und was ist mit ihnen, Mister Delakay? Ihr Diener sprach sie mit Monsieur an.“

“So sind diese Franzosen nun mal. Reden einfach jeden mit Monsieur und Madame an. Mir soll es recht sein. Es ist sehr schwer vernünftige Diener zu finden. Selbst hier in London.“

“Aber aus der Gegend kommen sie nicht?“

“Nein, Inspektor. Aus der Gegend komme ich nicht. Ich komme eigentlich aus Rumänien, aber meine Familie lebt seit Generationen hier in England. Aber sie kommen auch nicht aus der Gegend, richtig?“

Holden verdrehte die Augen, aber selbst wenn er den Kopf gedreht hätte wäre es ihm unmöglich gewesen Delakay zu erblicken. Es war einfach zu dunkel. Und trotzdem ging dieser Delakay mit einer beachtlichen Geschwindigkeit durch den Raum. Er schien ständig um Holden herum zu gehen.

“Nein, ich komme auch nicht von hier. Da haben sie absolut Recht.“

“Dachte ich mir schon. Ihr Blick, ihre Körperhaltung, ihre Aussprache. Das alles deutet darauf hin das sie aus der Unterschicht kommen. Etwa vom Land, nehme ich an. Aber ihrem Auftreten nach zu urteilen glauben sie das sie ihre Herkunft hinter sich gelassen haben. Dieses Auftreten haben sie bei einer recht angesehenen Einrichtung erworben. Lassen sie mich raten. Die Armee oder Scotland Yard. Liege ich richtig?“

“Scotland Yard.“

“Dachte ich mir. Aber jetzt sind sie nicht mehr beim Yard. Was ist passiert? Was hat sie zur Whitechapel Police getrieben?“

“Persönliche Gründe, Mister Delakay. Das geht sie, mit Verlaub gesagt, überhaupt nichts an. Außerdem bin ich nicht hier um über mich zu sprechen.“ Holden bemühte sich nicht so zornig zu klingen wie er war.

“Ach ja, richtig. Der Verstorbene Thomas Wild. Tragisch, nicht wahr?“

Holden zuckte zusammen als er Delakay Hand auf seiner Schulter spürte. Lautlos war er hinter ihn getreten und stand nun dort, seine Hand auf Holdens Schulter liegen. Wie ein Lehrer der seinen Schüler ins Gebet nahm. Holden fühlte sich nicht mehr wie ein Polizist, sondern eher wie ein Verdächtiger.

“Was glauben sie, James. War es ein tragischer Unfall, oder war es ein kaltblütiger Mord?“

Holden griff nach Delakays Hand um sie wegzunehmen, doch Delakay kam ihm zuvor. Er ging an Holden vorbei und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.

“Sagen sie es mir, Mister Delakay. Sagen sie mit was sie wissen.“

“Inspektor Holden, glauben sie an Werwölfe?“

Holden stockte der Atem. Er hatte viel erwartet, aber diese Frage beileibe nicht.

“Ich denke sie glauben an Werwölfe. Immerhin kommen sie aus einer Gegend in der diese Wesen weit verbreitete sind, oder irre ich mich?“

“Wie meinen sie das?“

“Exakt so wie ich es gesagt habe, James.“

Delakay stand wieder auf und kam auf Holden zu. Diesmal hielt er etwas in der Hand das wie ein Spazierstock aussah, doch in dem fahlen Kerzenschein konnte Holden das nicht mit Gewissheit sagen. Ihm fiel lediglich der Knauf am Ende des Gegenstandes ins Auge, denn er leuchtete weiß im Licht der Kerze. Er schien aus Elfenbein oder etwas ähnlichem zu bestehen und hatte die Form eines angreifenden Drachen. Holden konnte sich nicht vorstellen das er angenehm in der Hand lag wenn man damit spazieren ging, aber umso besser konnte er sich den Stock als Hiebwaffe vorstellen.

“Ich hörte sie haben mit ihrer Familie im Wald gelebt. Eine schöne Gegend?“

Holden versuchte Blickkontakt zu halten, doch es war sehr schwierig.

“Nein, eigentlich nicht. Eine sehr gefährliche Gegend.“

“Unfälle passieren nun mal, James, ist es nicht so?“

“Ja, verdammt noch mal“, schrie Holden. Er war aufgesprungen und stützte sich mit seinen Händen auf der Tischplatte ab. Der Stuhl war ihm dabei umgefallen.

“Aber, aber, mein lieber Freund. Sie brauchen sich doch wegen dem armen Mister Wild nicht so zu verausgaben.“

Holden verdrehte die Augen wieder in alle Richtungen, doch Delakay war wieder nicht zu sehen.

“Was ist das hier für ein verdammtes Spiel das sie mit mir treiben, Mister Delakay?“

“Ich gehe davon aus das sie ganz genau wissen wovon ich rede, James. Der Mörder von Thomas Wild ist auch der Mörder ihrer Familie.“

Dieser Satz traf Holden wie ein Schlag ins Gesicht. Er setzte sich. Auf halbem Weg fiel ihm ein das er den Stuhl umgestoßen hatte. Dennoch erreichte sein Gesäß die Sitzfläche. Delakay hatte ihn geräuschlos wieder hingestellt und ihn somit vor diversen blauen Flecken bewahrt.

“Meine Familie wurde nicht getötet, es war ein furchtbarer Unfall.“

“Natürlich. Glauben sie das wirklich, James? Ein Unfall? Sie sind auf der Wolfsjagd und haben vergessen die Türe abzuschließen. Die Wölfe, die eigentlich von ihnen gejagt werden, drehen den Spieß um und fallen über ihre Familie her. Und jetzt dieser arme Mister Wild. Ein Wolfsjäger. Auch hier drehen die Wölfe den Spieß um und fallen über ihn her. Glauben sie tatsächlich daß normale Wölfe zu so etwas fähig sind, James?“

Delakay stand jetzt genau vor Holden. Er war so nahe das er seinen Atem spüren konnte. Seine Augen durchlöcherten ihn förmlich. Holden fühlte sich noch unwohler als bisher. Delakay blickte ihm tief in die Augen. Sein Blick schien eine hypnotische Wirkung zu haben. Er blinzelte nicht einmal. Aber er lächelte. Er lächelte mit einer Bosheit die Holden eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Dann plötzlich löste er seinen Blick und sah auf den Spazierstock herab.

“Sehen sie, James, ob sie es nun zugeben oder nicht, sie glauben an die Existenz von Werwölfen, das weiß ich. Das ist doch genau der Grund warum sie zu dem geworden sind was sie sind. Sie hofften nie wieder den Anblick von Werwolfopfern sehen zu müssen, darum haben sie sich vom Scotland Yard getrennt. Sie dachten hier in Whitechapel würden sie nie wieder etwas vergleichbares zu sehen kriegen. Aber dummerweise scheint ihnen der Werwolf gefolgt zu sein.“

Delakay ging wieder in die hintere Ecke des Raumes. Holdens Unwohlsein wuchs ins unerträgliche.

“Wissen sie was das besondere an Werwölfen ist, James. Ein Mensch, der sich in einen Werwolf verwandelt weiß es unter Umständen nicht einmal. Er schläft, oder jedenfalls denkt er das, oder er fühlt sich als wäre er betrunken. Am nächsten Morgen kann er sich an nichts mehr erinnern. Kennen sie das Gefühl sich an nichts erinnern zu können, James. Ich meine, als Alkoholiker?“

Holden sprang auf.

“Verdammt noch mal, das reicht. Was bilden sie sich überhaupt ein Delakay?“

“Setzen sie sich hin!“ Delakay schrie. Das Erste Mal. Bisher war seine Stimme ruhig und beherrscht gewesen. Jetzt aber hatte sie einen stechenden Klang. Holden gefror das Blut in den Adern. Er ging rasch zur Türe hin. Als er sie erreichte mußte er feststellen das sie verschlossen war.

“Was soll das?“

Holden hörte Schritte auf sich zukommen. Dann plötzlich packte ihn etwas am Kragen und riß ihn mit übermenschlicher Kraft in die Höhe.

“Glauben sie an Werwölfe, James?“

“Ja!“, keuchte Holden.

“Glauben sie das ihre Familie einem Werwolf zum Opfer gefallen ist, genauso wie Thomas Wild?“

“Ja, verdammt noch mal.“

“Und wollen sie wissen wer diese verdammte Kreatur ist, damit sie Rache nehmen können?“

“Ja, Ja, JAAAA!“

Holden wurde quer durch die Luft geworfen und gegen die gegenüberliegende Wand geschmettert. Benommen fingerte er nach seinem Dienstrevolver, riß ihn hervor und spannte ihn.

“Worauf wollen sie schießen, James. Sie können doch überhaupt nichts sehen.“ Dann lachte Delakay. Es war ein eiskaltes Lachen, und das Echo der Wände ließ es klingen als käme es direkt aus der Hölle. Holden schrie, und er feuerte die Waffe in sämtliche Richtungen ab, bis der Hahn auf eine leerer Kammer klickte. Dann sank er zusammen und begann zu wimmern wie ein kleines Kind.

“Was wollen sie von mir? Wollen sie mich auch töten? Wie meine Familie? Haben sie mich deshalb hergelockt?“

Holden hörte ein Geräusch, wie wenn jemand einen Degen aus seiner Scheide zog.

“Nein, James. Ich bin nicht der Werwolf. Sie sind es.“

Holden blickte verdutzt durch die Dunkelheit.

“Nein, sie sind verrückt. Lassen sie mich in Ruhe.“

Dann merkte Holden wie eiskalter Stahl durch seinen Körper glitt. Eine rasiermesserscharfe Klinge wurde durch sein Herz gestoßen. In der gleichen Sekunde flutete ein gleißender Lichtstrahl den Raum. Holden erkannte wer ihm da mit einem Degen durchbohrt hatte. Es war Delakay. Er hielt das Ende des Degens noch in seiner Hand. Der Griff ähnelte dem Knauf seines Spazierstocks.

“Das ist Silber, James. Silber. Das Einzige was einen Werwolf töten kann. Sie sollten sich bedanken. Ich habe sie erlöst.“

Das letzte was Holden sah war Delakays eiskaltes Lächeln. Er lächelte. Dabei hob sich seine Oberlippe über seine Zähne. Es waren keine gewöhnlichen Zähne. Es waren spitze, lange Eckzähne, die da zum Vorschein kamen.

“Glauben sie mir, James. Sie sind der Werwolf. Vampire können so etwas riechen. Danken sie mir, ihre Familie ist gerächt.“

Dann wurde es dunkel. Holden war kalt. Sehr kalt. Und dann, Nichts mehr...





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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.09.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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