Lothar Krist

Liebe im Zeitalter des Weltkriegs gegen den Terror?

Was ist schon Liebe im Zeitalter des Weltkriegs gegen den Terror?
(Ein Alptraum)

Ein Herzen ist in der Welt. Mütter, die ihre Kinder lieben, die fühlen das, und deshalb herzen sie heute ihre Kinder tausend Mal an jedem Tag. Doch was ist schon Liebe? Und nicht alle Kinder kennen sie. Manchen Kindern kam die Mutter ja schon beim eigenen Geburtsfest als so genannter Kollateralschaden eines ohne UN-Mandat geführten Krieges abhanden. Und wer kann schon die Liebe verstehen, wenn sie dir deinen Vater vor deinen Augen wegschnappen – zum Verhör, von dem er nicht mehr wiederkommt?

Ist Liebe dann der Sprengstoffgürtel um deinen Hungerbauch? Kann die Selbstzerfetzung, geboren in der Verzweiflung am Leben, in einem mit Kindern eines fremden und so sehr gehassten Volkes voll gepferchtem Bus denn Liebe sein? Liebe ich so meinen zu Tode gefolterten Vater? Liebe ich so meine Mutter, die nun Witwe und dann ohne mich noch viel, viel einsamer ist? Liebe ich so meinen getöteten Bruder? Liebe ich so meine vom Feind vergewaltigte und nun vom Irrsinn besessene Schwester?

Mein Bruder wurde ja, als er einkaufen ging, von einer einfach auf ein Wohnhaus abgefeuerten Rakete des anderen Volkes zerfetzt. Unliebsamer Kollateralschaden einer notwendigen Verteidigungshandlung, doch Worte des Beileids kamen bis heute nicht bei mir an. Ich hätte sie wohl auch nicht verstanden.

Meine ältere Schwester wurde vor meiner Nase verschleppt. Die Russen haben sie einfach in ein Auto gezerrt. Sie hat dabei so fürchterlich geschrieen, dass ich mir meine Hosen voll gemacht habe. Ich konnte ihr nicht helfen. Sie haben mir einen Gewehrlauf eisenhart in die Brust gerammt, so dass ich auf die Nase gefallen bin. Rippenprellung. Ich konnte dann tagelang nicht richtig atmen.

Ich habe gehört, sie tanzt nun, abgefüllt mit willig machenden Drogen, nackt auf einem Tisch vor besoffenen, grölenden Soldaten herum, in einem geheimen Soldatenpuff auf der anderen Seite von Grosny. Man erzählt, sie macht für einen hohen Offizier für mindestens zwanzig bezahlende Soldaten pro Tag die Beine breit. Er besitzt angeblich noch vier andere entführte Mädchen aus meinem Dorf und verdient sich eine goldene Nase dabei. Und ich weiß: diese Soldaten lachen, wenn sie sagen: „Gehen wir doch Liebe machen!“

Ich habe meinen Bruder so sehr geliebt. Meine ältere Schwester war Alles für mich. Ich war öfter in ihren Armen „zu Hause“, als meine Mutter mich je geherzt hat, und das war auch nicht gerade eine Seltenheit. Doch meine Schwester hat immer auf mich aufgepasst. Sie war immer da, wenn ich sie brauchte. Ich habe in ihren Armen nicht nur geweint, wenn ich mir einmal wehgetan hatte. Wie oft haben wir doch gemeinsam so herzhaft gelacht, dass uns nachher die Wangenmuskeln schmerzten?

Ich bin heute Mann! Ich bin Bruder! Ich bin Sohn! Für immer! Und ich liebe!

Doch, bitte, wer kann mir sagen: Wo hört diese meine Liebe auf? Hat sie denn irgendwo aufzuhören? Hört meine Liebe dort auf, wo andere Menschen an ihr sterben? Oder fängt sie gar erst dort an? Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung mehr.

Ich werde morgen sterben, dabei bin ich doch noch keine sechzehn Jahre alt. Ich werde morgen gegen sechs Uhr früh geweckt, werde meine Morgentoilette machen und mich dann auf meinen kleinen Gebetsteppich knien und nach Mekka beten. Dann wird mir das letzte Frühstück serviert. Ich durfte mir Alles, wirklich Alles wünschen. Ich werde morgen das erste und einzige Mal wie die Giaurs in Amerika frühstücken: Breakfast mit Ham and Eggs, eine Riesenportion Freedom Fries, so wie die Pommes jetzt dort heißen, dazu gegrillte Tomatenscheiben und eine Schüssel Bohnen in Tomatensauce sind angesagt. Und ein dicker Kakao, ganz süß, so wie ich ihn so sehr liebe und so selten genießen durfte.

Dabei ist einem gläubigen Moslem, wie mir, ja Schweinefleisch verboten. Ich habe eigentlich auch nur einen bösen Spaß gemacht und gemeint, wenn ich schon Giaurs töte, dann sollte ich wenigstens einmal wie so einer essen dürfen, damit ich auch weiß, wen ich da töte. Der Iman hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt und gesagt: „Einer, dem das Paradies bevorsteht, kann keine Sünde mehr begehen. Einmal essen und fühlen, wie ein Giaur, und sie dann töten. Kein Problem.“

Das Schweinefleisch war jedoch fast nicht aufzutreiben. Ein Bekannter, der Kellner ist in einem Hotel für Besucher aus dem Westen, hat dann ein paar dicke Schinken- und Speckstreifen aus der Küche mitgehen lassen. Wird mich dieses American Breakfast allwissend und so glücklich machen? Werde ich morgen früh wissen, was Liebe ist?

Und dann binden sie mir den Sprengstoff mit dem Sprengkasten um den Bauch, an dem ich nicht ankommen darf, ehe ich in den Bus eingestiegen bin, beziehungsweise ehe sie mich erwischen, wenn es blöd zugehen sollte.

Und dann: BUMM! Nur ein Bumm! Hört dann die Liebe auf? Oder fängt sie gar erst an, wie sie mir gesagt haben? Etwa gar im Paradies? Steht dort etwa gar mein Bruder am Eingang und hält mir seine mich liebenden Arme zum Empfang entgegen, umringt von unseren geliebten und so sehr vermissten Schwestern und Brüdern, die auch im Krieg gefallen sind? Oder gehe ich gar ein ins Nichts für gar Nichts? Na, das will ich lieber gar nicht wissen.

Liebe! Liebe! Liebe??? Glücklich sind heute wieder einmal die, die sich nicht entscheiden müssen. Doch wer weiß das heute schon im Angesicht der Satansfratze, die da Weltkrieg gegen den Terror heißt, der nun immer mehr und immer mehr entartet? Nur die Dummen von Heute vermeinen, sie könnten das. Denn es kann schon morgen sein und der Terror kommt zu dir und frisst dir deine geliebte Schwester von der Seite!

Was ist schon Liebe im Zeitalter eines von einem dummen Weltpolizisten erklärten Weltkriegs gegen den Terror? Ich habe noch vier Brüder! Ich weiß es wirklich nicht. Und zwei Schwestern habe ich auch noch. Und meine ältere Schwester konnte endlich irgendwie aus dem Soldatenpuff flüchten. Sie meinte: nur der gerechte Tod als „Schwarze Witwe“ hätte irgendwie noch irgendeinen Sinn für sie.

Ist so ein Tod nicht die Flucht in Liebe? Oh Gott, auch dies weiß ich wirklich nicht, doch meine Schwester meinte ganz, ganz ernst: „Ich flüchte!“ Als geschändete Frau hätte sie auf Erden keine Zukunft mehr. Nur das Paradies stünde noch für sie offen.

Und dann war ich auf einmal auch der große Bruder von einem der Kinder in der Schule von Beslan, Nord-Ossetien. Und auch der große Bruder von einem der Kinder im Bus in Tel Aviv. Und dann war ich Soldat. Ich war so voller Hass und habe einfach in die Menge der mit Steinen werfenden Palästinenserkinder wild hinein gefeuert. Und ich habe ein unschuldiges Mädchen aus einem Dorf in Tschetschenien entführt und sie bestraft.

Ich war Alles auf einmal, voll von Angst und so voller Hass. Ich war nur noch ein kleines Häufchen schmerzende Angst und schmerzender Hass. Hass! Hass! Und so viel Angst war da. So viel Angst! Und dann kam ich beim Druckknopf des Sprengkastens an: Bumm!

Ich liege angeschmiegt an Danaes so unbeschreiblich weicher und so warmer Seite. Ich bin gerade aufgewacht. Ich habe geträumt. Ich bin schweißnass. Ich bin in meinem Alptraum als kleiner Junge als Todeskandidat zwischen Palästina und Tschetschenien so hilflos hin und her gesprungen. Ich war so voller Schmerz. Ich habe wirklich gedacht, ich hätte Vater, Mutter, Bruder und Schwester verloren, die ich doch so sehr liebte. Ich war Alles in Einem und so voller Angst und Hass.

In mir war dann Alles wie abgestorben. In mir war Alles so tot, so seelenleer. Ein einziges Grauen hat mich dann im Bus zerrissen und mich mit einem wilden Herzklopfen aus meinem Schlaf gerissen. Bumm! Und dann fühlte ich so Muskel für Muskel Danae an meiner Seite liegen. Ich habe mich zuerst gar nicht ausgekannt. Mann o Mann, war ich da auf einmal glücklich und zufrieden. Doch ich hatte irgendwie auch eine Heidenangst, ich würde eines Tages meine Danae verlieren.

Ich weiß: ich liebe! Doch was heute Liebe ist – im Zeitalter des Weltkriegs gegen den Terror, das weiß ich noch immer nicht. Selbst das Volk von Big Brother versteht ihn ja nicht. Doch es versteht: Big Brother muss nun das fremde und so billige Öl für die Aufrechterhaltung des eigenen Wohlstands sichern, und das auf Teufel komm raus um jeden Preis. Da darf dann schon ein bisschen gestorben werden. Auch das eine Art von Liebe? Große Bruderliebe eben! „Love&Peace“ ist tot! Es lebe die Alles umfassende Sicherheit!

What’s love? „God love America!“ Schön, wie das Big Brother Number One so gerne als Einleitung seiner Volksansprachen sagt? Eine Art von Liebe eben.

Liebe! Liebe! Liebe? Was ist das schon? Liebe? Ich habe mich dann in meine schlafende Miss Di hinein gekuschelt und ein wenig nachgedacht. Es kam Nichts dabei heraus. Ich wusste es einfach nicht und so bin ich dann gegen drei Uhr früh aufgestanden, habe erstmals eingeheizt, weil mir so kalt war, habe gedacht, der Herbst lässt schön grüßen, und habe dann bis gegen sieben Uhr diese beschissen schlechte Geschichte über meinen Alptraum und sein Drum-Herum geschrieben.

Da ist dann Danae aufgestanden. Sie hat Nichts gesagt, mir nur ein Küsschen auf die Stirn gegeben. Sie hat nur kurz auf den Bildschirm geschaut, hat gegrinst und ist dann ins Bad abgerauscht. Ich habe für uns das Frühstück zubereitet. American Breakfast, wie in meinem Traum, während sie ihre Morgentoilette gemacht hat. Ich habe sie dabei lustig singen gehört.

Sie war dann sehr erstaunt. American Breakfast? Sie liebt es genau so, wie ich. Nur auf die weißen Bohnen in Tomatensauce mussten wir verzichten. Keine Dose im Haus. Und es gab Kaffee statt Kakao. Meist geht Frühstück bei uns ja einfacher und schneller. Ein Butterbrot mit Mamas selbst gemachter Marillenmarmelade tut es auch. Besseres gibt es nicht.

Ich habe ihr beim Frühstück die Geschichte meines Alptraums erzählt. Sie hat mich dann beim Abschied ganz, ganz fest festgehalten, schwer gedrückt und gemeint: „Ich liebe dich!“ Dann ist sie in die Arbeit abgezischt. Wegen meiner langen Geschichte war sie schon ein wenig spät dran. Und ich ging wieder ins Bett. Kurz vor dem Einschlafen wusste ich dann wieder wenigstens ein Bisschen, WAS LIEBE IST!

Ich liebe Danae. Doch das hilft den Kindern im Weltkrieg gegen den Terror Nichts. Ich weiß mit absoluter Sicherheit: diese Kinder haben kein bisschen Ahnung, was Liebe ist. Ich war ja heute Nacht, wenn auch nur in einem Alp, eines von ihnen.

© Copyright by Lothar Krist (23.9.2004 von 03.10 – 06.50 Uhr zu Hause am PC)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.09.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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