Andrea Kilburger

Das Monster auf dem Kirchdach

1
Es war im November im Jahre 1978 als ich in Goetheborg zur Welt kam. Wie mir meine Mutter erzählte war es ein furchtbarer Tag. Draußen lag ein Meter hoher Schnee und kein Krankenwagen konnte meine Mutter ins Krankenhaus bringen. Unter schmerzen und ohne jede Hilfe brachte sie mich am 25. November zur Welt. Warum ich ohne Vater aufwuchs, die Wahrheit kenne ich bis heute noch nicht. Meine Mutter erzog mich streng, aber ich vermisste mein ganzes Leben, so lange meine Mutter lebte, kein bisschen Liebe. Als ich 12 war, starb sie. Ich erinnere mich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Ich kam wie jeden Tag von der Schule und eigentlich war es ein ganz normaler Tag, wie jeder andere auch. Ich machte im Wohnzimmer meine Hausaufgaben, als es an der Tür klingelte. Meine Mutter machte sich auf den Weg zur Eingangstür und öffnete diese. Dann fiel ein Schuss. Als ich in die Richtung blickte, lag meine Mutter am Boden und bewegte sich nicht mehr. Ich hatte plötzlich furchtbare Angst und mein Herz klopfte so laut, dass ich es förmlich hören konnte. Als die beiden Männer, die meine Mutter niedergeschossen hatten, in der Küche waren, lief ich zu ihr. In der Schule hatte man uns beigebracht, den Puls zu messen, und wenn er nicht mehr vorhanden war, so war man tot. Ich dachte an die Worte des Lehrers, als er mich prüfte: “Stell dir vor, Rebecca, du gehst spatzieren und vor dir liegt plötzlich ein Mensch und rührt sich nicht mehr. Was tust du? WAS TUST DU........WAS TUST DU.....?” Ich beugte mich über sie und fühlte ihren Puls. “ER IST NICHT DA....ER IST NICHT DA....” sagte ich leise. Dann fing ich an zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Ich dachte wieder an die eine Unterrichtsstunde. Der Lehrer sagte: “Das ist richtig, Rebecca. Jetzt habt ihr alle etwas dazu gelernt, aber ich hoffe es für euch, dass ihr so schnell nicht damit konfrontiert werdet....ICH WÜNSCHE ES KEINEM VON EUCH...” Aber nun war es passiert. Ich konnte es nicht fassen, konnte es nicht glauben. Sie war tatsächlich tot. Ich lag noch auf ihr und weinte auf ihr Gesicht. Dann hörte ich einen der Männer sagen: “Sieh nach, ob noch jemand im Haus ist!” Als ich diese Worte hörte, bekam ich noch größere Angst. Ich wusste nicht, wie ich von diesem Tag an ohne meine Mutter zurecht kommen sollte, aber sterben wollte ich auch nicht. Meine Mutter hätte das auch nie gewollt. Der eine Mann kam immer näher. Ich stand auf, öffnete die Haustür und lief davon. Ich lief so weit mich meine kleinen Füße trugen. Außer Atem blieb ich dann irgendwann stehen. Ich blickte zurück. Keiner war mir gefolgt. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich ging auf ein Haus zu und klingelte. Eine etwas ältere Frau öffnete die Tür und fragte: “Was kann ich für dich tun, Kleines?” Schweratmend antwortete ich: “Bitte, rufen sie sofort die Polizei, bei uns im Haus sind Einbrecher...sie haben meine Mama erschossen...” Als ich diesen Satz aussprach, bat die Frau mich in ihr Haus, fragte nach meiner Adresse und rief anschließend die Polizei. Es war wie Glück im Unglück. Der Streifenwagen war so schnell dort, dass die beiden Einbrecher keine Chance hatten zu entkommen. Ich blieb draußen stehen und beobachtete, wie sie meine Mutter aus dem Haus brachten. Es war ein komisches Gefühl. Ich hatte mich zwar sehr schwer damit abgefunden, dass sie tot war, aber wo sollte ich jetzt hin, ich hatte doch niemanden.

2
Es kam, wie es kommen musste, ich landete im Heim. Es war eine furchtbare Zeit und im zarten Alter von 15 Jahren, also drei Jahre nachdem Mutter starb, wurde ich erneut mit dem Tod konfrontiert. Es war grausamer, als alles , was ich je in meinem Leben gesehen hatte. Es war, soweit ich mich erinnern kann, zur Weihnachtszeit im Jahre 1993. Ich lag in meinem Zimmer und las in einem Buch. Heute weiß ich nicht mehr, was es damals für ein Buch war. Irgendwann bekam ich furchtbare Kopfschmerzen. Ich ging ans Fenster, öffnete es und blickte hinaus. Draußen war es schon dunkel und auf der Straße standen viele Freunde aus dem Heim. Ich beschloss zu ihnen runter zu gehen. Ich schloss das Fenster wieder und verließ mein Zimmer. Als ich jedoch auf der Straße war, war keiner meiner Freunde mehr dort. Allein ein Mann stand vor einem Zigarettenautomaten auf der anderen Straßenseite. Ich setzte mich auf die Bank vor dem Gebäude und beobachtete den Mann, wie er sich aufregte. Der Automat hatte sein Geld geschluckt und wollte keine Zigaretten rausrücken. Er schlug dagegen und fluchte. Plötzlich passierte etwas furchtbares. Aus der Baumkrone des Baumes, der direkt neben dem Automaten stand, fiel etwas auf den Mann, dass ihn zu Boden gehen ließ. Auf einmal war es furchtbar still. Kein fluchen mehr, kein Treten gegen den Automaaten. Nur eine Eule hörte man und rascheln aus der Baumkrone. Ich hatte ein komisches Gefühl in der Magengegend. Ich wollte eigentlich zu dem Mann um ihm zu helfen, vielleicht lebte er ja noch. Aber ich hatte Angst, Angst davor, keinen Puls zu finden, wie damals bei meiner Mutter (Boooom)... Ich versteckte mich hinter der Litfaßsäule, die neben der Bank stand, auf der ich sass. Plötzlich kam etwas aus der Baumkrone geschossen. Ich konnte nicht genau erkennen, was es war. Ich konnte nur Konturen, Menschliche Konturen erkennen und einen Schatten, der ganz und gar nicht menschlich wirkte. Die Gestalt beugte sich über den Mann auf dem Boden und legte ihn über seine Schulter. Die Gestalt ging auf dem Bürgersteig, als wär nichts passiert, in Richtung der Kirche, die nur ein paar Häuser weiter stand. Außer mir war keine Menschenseele mehr auf der Straße. Was sollte ich nur tun? Sollte ich ihm folgen, oder sollte ich einfach wieder auf mein Zimmer gehen und so tun als hätte ich nichts gesehen? Auf dem Bürgersteig vor mir lag ein großer Stock. Ich hob ihn auf und folgte dem Schatten. Zum Glück standen in dieser Strasse genug Bäume, so konnte ich mich immer gut verstecken. Meine Verfolgung endete vor der Kirche. Als die Gestalt dort ankam, haftete sie sich an die Mauer und kletterte diese hinauf. Wie eine Spinne, aber als ich genaustens hinsah, bemerkte ich seine Krallen, die sich in der Mauer fest griffen. Wo wollte es nur hin? Ich öffnete die Kirchentür und blickte mich um. Ich entdeckte eine Tür und als ich auch diese öffnete, führten mich ein paar Treppen nach oben auf den Dachboden. Ich ging langsam hoch, Stufe für Stufe. Beide Hände hielten den Stock fest. Es war sehr dunkel und von oben hörte ich mal ein rascheln, mal ein paar Stimmen. Dann blickte ich auf die Uhr. Es war schon recht spät. Im Innersten hoffte ich, dass mich noch keiner vermisste. Aber spätestens in einer Stunde musste ich zurück sein. Am Ende der Treppen blieb ich stehen. Die Tür, die auf das Dach der Kirche führte, war weit offen. Mein Herz schlug immer schneller und immer lauter. Ich wusste beim Besten Willen nicht, was mich da oben erwartete. Ich trat aus der Tür heraus und blickte mich um. Es war nichts, einfach nichts. Aber es erleichterte die Sache kein Wenig. Ich ging nach rechts, Schritt für Schritt. Und jedesmal, wenn ich einen Fuss vor den anderen setzte, schlug mein Herz nur noch schneller und lauter. Dann hörte ich wieder diese Stimmen. Es waren eine Männliche und eine Weibliche, die sich unterhielten. Aber es war nicht schwedisch, sondern mir eine Unbekannte Sprache. Ich ging weiter. An einem Mauervorsatz blieb ich stehen. Die beiden waren ganz nahe. Ich streckte den Kopf etwas nach vorne. Ich sah zwei Gestalten, den Rücken zu mir gewandt, auf dem Boden sitzen. Sie neckten sich andauernd. Als sie seitlich sassen, konnte ich so eine Art Stachel auf dem Rücken sehen. Es war verrückt, aber ich konnte es genaustens im Schatten des Mondlichtes erkennen. Dann schlug die Kirchenuhr Mitternacht. Die beiden standen auf und alberten herum. Dann setzten sie sich auf die Mauer der Kirche. Dann wurde es noch unheimlicher. Die beiden Gestalten bekamen plötzlich Flügel und flogen davon. Ich traute meinen Augen kaum, es war wie in einem schlechten Horrorfilm, denn die beiden sahen immer noch sehr menschlich aus. Ich nutzte die Chance ihrer Abwesenheit und begab mich zu dem Platz, wo sie vorher sassen. Dort lag er nun, der Mann vom Zigarettenautomat. Der Schnee um ihn herum war mit Blut voll getränkt. Sein Gesicht, war das einzige, welches noch zu erkennen war. Der Rest seines Körpers war grausam zugerichtet. Seine Arme und Beine waren nicht mehr vorhanden. Es war einfach nur furchtbar. Ich riss mich zusammen um nicht zu schreien. Ich bin mein Leben noch nie so gerannt wie in dieser Nacht. In weniger als drei Minuten war ich zurück im Heim. Ich hatte großes Glück, keiner hatte mich vermisst und ich konnte mich zurück in mein Zimmer schleichen. Ich blieb noch sehr lange wach in dieser Nacht und grübelte über diese Gestalten nach. Was waren das für Wesen, und warum hatten sie diesen armen Mann so zugerichtet? Sie hatten eine Menschliche Gestalt und doch waren sie anders. Sie hatten diese Art Stacheln auf ihren Rücken und diese Flügel. Und soweit ich erkennen konnte waren ihre Gesichter mit etlichen Hörnern übersäht. Sie waren einfach nur hässlich. Irgendwann schaffte ich es einzuschlafen und konnte alles für eine Weile vergessen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fragte ich mich, ob das alles Wirklichkeit war. Ich stand auf und ging wie immer zum Unterricht. Dieser zog sich dermaßen, das ich schon fast einschlief. Als er dann endlich vorbei war, beschloss ich erneut in die Kirche zu gehen. Ich besorgte mir vorher nur noch schnell im Supermarkt an der Ecke ein Pfefferspray und ging anschließend dort zurück, wo sich gestern ein furchtbarer Mord abspielte. Drinnen sassen ein paar ältere Leute, die beteten, aber es störte mich nicht weiter. Ich ging erneut die Treppen hoch auf das Dach der Kirche. Dort angekommen schritt ich den selben Weg wie gestern zu dem Platz, wo der Mann lag. Es war nichts mehr dort. Kein toter Mann, keine merkwürdigen Wesen, gar nichts. Hatte ich mir doch alles nur eingebildet oder war es nur ein schlimmer Traum? Ich begutachtete den Platz. In der letzten Nacht hatte es noch sehr gut geschneit, ich erinnerte mich daran, als ich nach Hause lief. Ich strich den Neuschnee zur Seite und konnte dort Blut erkennen. Also doch kein Traum. Ich war vorsichtiger und blickte mich erstaunt um. Wo waren aber die Wesen von letzter Nacht? Ich ging weiter, Schritt für Schritt. Dann erblickte ich auf der Dachmauer zwei Steinfiguren. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass diese letzte Nacht dort standen. Ich begutachtete die Figuren ganz genau. Dann stellte ich fest, dass sie eine Ähnlichkeit mit den Wesen hatten. Sie hatten Hörner im Gesicht und die Stachel auf dem Rücken. Ebenfalls hatten sie Flügel. Jetzt machte alles einen Sinn. Ich hatte vor einem Jahr über solche Fabelwesen gelesen. Sie waren Nachtaktiv und Tagsüber wurden sie zu Stein. Aber das sie tatsächlich existieren, hätte ich nie geglaubt. Es stand aber nicht in dem Buch, dass sie sich von Menschen ernähren. Oder hatte ich da etwas übersehen? Wie dem auch sei, ich wollte alles darüber wissen. Ich beschloss der Stadtbücherei einen Besuch abzustatten. Dort hatten sie viel mehr Auswahl an Büchern als in der Bücherei im Heim. Ich verließ die Kirche und ging zu Fuß in Richtung Stadtbücherei. Es war heute nicht besonders viel los dort. Ich suchte und suchte, bis ich endlich fündig wurde. Dieses Buch hatte ich auch vor einem Jahr in meinen Händen. Ich öffnete es und fand einen Bericht über Fabelwesen, die sich selbst GARGOYLES nannten. In dem Buch stand, dass sie eigentlich aus Schottland stammten. Die Geschichte war furios. Alles fing im Jahre 930 nach Christus an. Dort regierte einst ein König Namens McBeth das Land. Zu der Zeit wurde Schottland von den Sachsen angegriffen und McBeth unterlag mehreren Kriegen. Ein junges Gargoyle - Mädchen und ihr Clan standen McBeth in dem entscheidenden Krieg zur Seite. Als Dank dafür durfte der Clan der Gargoyles auf seinem Schloss hausen. Es vergingen Jahre und McBeth verlor keinen Krieg mehr. Tagsüber wurden die Gargoyles jedoch zu Stein und die feindliche Armee wusste dies. So griffen sie Tagsüber an. Hunderte von Gargoyles verloren an diesem Tag ihr Leben und McBeth die Krone. Er flüchtete und nur so konnte er sein Leben retten. Aber der Feind verfolgte ihn und spät in der Nacht überraschte er McBeth als er sein Zelt aufschlug. Sie zogen ihr Schwert und kämpften. McBeth verlor diesen Kampf und so war der Feind der neue König über Schottland. Über Jahre, sogar Jahrhunderte hörte man nichts von den Gargoyles, bis eines Tages Dämona, das junge Gargoyle Mädchen wieder auftauchte. In der Legende zufolge soll sie sich nach dem Tod von McBeth auf ein Pakt eingelassen haben, der nicht nur McBeth wieder zum Leben erweckte, sondern sie beide für unsterblich machte. Von diesem Tag an konnte Dämona Tagsüber als Mensch umhergehen. Nachts jedoch blieb sie nicht davon verschont, zu einem Monster zu werden. Es vergingen wieder Jahrhunderte um Jahrhunderte und der Legende zu Folge soll Dämona den Bann zwischen ihr und McBeth gebrochen haben und eines Tages im Schlaf getötet worden sein. Seit dem hörte man nichts mehr von ihnen. Aber jetzt war die Frage, wie sie überhaupt nach Schweden kamen und warum sie sich so plötzlich von Menschen ernährten. Es waren Tausende von Fragen in meinem Kopf, auf die ich keine Antwort fand. Ich entschloss mich das Buch mitzunehmen um im Heim nochmal alles genauer durch zu lesen. Der Weg zurück kam mir ziemlich lange vor. Unterwegs kam mir der Einfall, dass diese Gestalten gar keine Gargoyles sein könnten. Laut der Legende war Dämona die letzte. Nun stand ich wieder bei Null. Ich wusste immer noch nicht, was für Wesen das waren und ob sie nur die einzigsten ihres Stammes waren. Aber auf jeden Fall waren alle Menschen hier in Goetheborg bedroht. Vielleicht sogar auf der ganzen Welt. Sie mussten irgendwie vernichtet werden. Aber was soll schon so ein kleines Mädchen anrichten. TAGSÜBER WAREN SIE STEIN... HUNDERTE VON GARGOYLES VERLOREN AN DIESEM TAG IHR LEBEN... IM SCHLAF GETÖTET... Natürlich, ich sollte sie einfach von der Mauer werfen oder sie zerschlagen. Aber sicher. Anstatt direkt zum Heim zurück zu kehren, ging ich erneut in die Kirche. Es war im Moment Abendmesse. Ich hatte großes Glück. Nicht nur, dass die Sonne noch nicht untergegangen war, nein, die Orgeltöne würden den Krach umhüllen, wenn ich die Statuen runter werfen würde. Ich ging die Treppe wieder hoch und zu dem Ort, wo ich am Nachmittag die Steinfiguren fand. Ich musste mich beeilen, denn bald würde die Sonne untergehen und ich wäre ihr Opfer, wenn sie mich hier fänden. Sie hätten bestimmt Hunger. Es war schwerer als ich es mir gedacht hatte. Mit größter Mühe schaffte ich es zumindest eine Statue runter zu werfen. Dann musste ich schleunigst verschwinden. Kaum war ich auf der Strasse, ging schon die Sonne unter. Das Weibliche Wesen lag in tausend Stücken auf dem Boden. Als ich mich auf den Weg zum Heim machte hörte ich einen furchtbar lauten Schrei. Ich blickte zur Kirche. Die Vögel, die auf der Dachmauer sassen, flogen auf. Das Männchen hatte den Verlust seiner Gefährtin gemerkt und um sie getrauert. Ich versteckte mich hinter einen Baum und beobachtete, wie es auf der Strasse landete, die Scherben begutachtete und erneut aufschrie. Irgendwie tat er mir leid, aber ich hatte keine andere Wahl. Als er verschwunden war kam ich aus meinem Versteck und setzte den Weg zum Heim fort. In dieser Nacht schlief ich relativ ruhig. Das Wochenende stand bevor und viele wollten auf die Eisbahn. Ich jedoch hatte einen ganz anderen Plan. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück ging ich wieder zur Kirche. Doch er war weg. Er war einfach verschwunden. Hatte er die Gefahr geahnt? Na prima, jetzt darf ich alle Kirchen absuchen. Ich war den ganzen Tag in der Stadt unterwegs, vorbei an vielen Kirchen. Aber von ihm war keine Spur. Die Stadt war wohl doch zu groß für ein kleines Mädchen. Und vor allem waren die Menschen immer noch sehr bedroht. Es hatte keinen Zweck. Ich musste schnell wieder zurück, bevor die Sonne unterging. Ganz knapp schaffte ich es auch. Nun war die Welt wieder verloren. Es vergingen Wochen, Monate, Jahre und von dem Wesen war keine Spur. Manchmal fragte ich mich, ob es wirklich noch lebte.

3
Als ich 18 war, konnte ich endlich aus dem Heim raus. Ich machte eine Lehre als Köchin und so konnte ich mir eine kleine Wohnung in der Innenstadt leisten. Die drei Jahre Ausbildungszeit verging wie im Fluge. Die Arbeit machte mir so großen Spaß und ich stellte mich richtig gut an. So kam es das die Besitzerin des Restaurants mich übernahm und nach einem Jahr Arbeit, war ich Küchenchefin. Mit 22 Jahren ganz weit oben. Eines schönen Winterabends ging ich in der Straße spatzieren, wo das Heim stand, indem ich einst lebte. Ich ging an der Kirche vorbei, am Zigarettenautomat und dachte an damals, vor sieben Jahren. Ich entnahm aus meinem Portemonnaie Geld und warf es in den Automaten. Ich hatte im Alter von 18 Jahren angefangen zu rauchen, und ich bereute es nicht. Dabei blickte ich immer hoch zu dem Baum, der neben dem Automaten stand. Es war ein mulmiges Gefühl. Doch es war nichts oben in der Baumkrone, nichts. “VERDAMMTER AUTOMAT, GIB MIR ENDLICH MEINE KIPPEN...” Die Worte des Mannes von vor sieben Jahren fielen mir wieder ein. Es waren seine letzten Worte. Es war schon komisch. In dem Moment dachte ich wieder daran, wie die Scherben des Weibchens auf der Strasse lagen, als ich erneut an der Kirche vorbei ging. Ob er wohl wieder da ist?, dachte ich. Es war ein Versuch wert. Ich betrat die Kirche und ging die Treppen hoch auf das Kirchendach. Oben angekommen sah ich mich vorsichtig um. Es war sehr still hier oben, zu still. Der weiche Schnee unter meinen Füßen knirschte. Ich hatte plötzlich große Angst. Dann stand er vor mir. Noch nie hatte ich ihn so deutlich gesehen. Das Mondlicht schien direkt auf ihn. Er kam näher, immer näher. Dann war er mir so nah, dass ich sein Atem spüren konnte. Mit tiefer Stimme sagte er: “Wer bist du und was hast du hier oben zu suchen?” Er sah mich mürrisch an. Hinter ihm entdeckte ich eine Leiche. Ich war irgendwie beruhigt, denn sein Hunger war ja mal zumindest gestillt. “Sag mir, wer DU bist”, gab ich als Antwort. “Das ist doch unwichtig...” “Ach, ist es das? Und wer ist das da hinter dir? Wohl Dein Abendessen, was? Ich töte wenigstens keine Menschen...” “Aber du isst tote Tiere um satt zu werden, ist das denn auch ein Verbrechen?” Irgendwie hatte er Recht. “Ja, Nutztiere. Aber der Mensch ist kein Tier, er ist intelligent, er beherrscht diese Welt...” “Wenn er das tut, so wie du es sagst, warum gibt es dann Kriege? So intelligent seid ihr Menschen nun auch wieder nicht. Kriege zerstören mehr Leben, als unser Volk...” “Euer Volk? Erzähl mir mehr davon. Bist du ein Gargoyle?” “Machst du Witze? Gargoyles sind schon lange ausgestorben. Ich gehöre zu dem Volke der Grayas.” “Das klingt interessant, erzähl weiter.” Er ging ein paar Schritte und wandte mir so den Rücken zu. Ich hätte fliehen können, aber ich tat es nicht. Dann fuhr er fort: “Wir Grayas sind eigentlich ein Friedlebendes Volk. Uns gibt es schon seid über tausend Jahre. Am Anfang unserer Existenz haben uns die Menschen geachtet und respektiert. Wir ernährten uns zuerst von Nutz- und anschließend von wilden Tieren. Doch eines Tages merkten wir, dass es nicht genug zu Essen für uns alle gab. Die Menschen wurden uns gegenüber immer aggressiver und töteten viele von uns.” Er machte eine Pause. Ich merkte, wie Tränen in seinen Augen standen. “Unser Volk wurde immer kleiner, bis vor 30 Jahren noch vier von uns übrig waren. Wir töten grundsätzlich keine Frauen und Kinder, es sei denn, sie töten einen von uns. Vor sieben Jahren tötete ein Kind meine Frau, sie war alles was ich noch hatte. Ich bin der letzte, der von unserem Volke übrig ist.” Er atmete tief durch. “Woher weißt du, dass es ein Kind war?” fragte ich ihn. Er drehte sich um, sah mir in die Augen und sagte: “Ich habe sie gesehen, sie war in der Nacht zuvor hier oben.” “Hast du ihr Gesicht gesehen? Hast Du sie getötet?” “Ich habe nicht ihr Gesicht gesehen und NEIN, ich habe sie nicht getötet. Ich bitte Dich gehe jetzt, ich bin noch nicht satt.” “Eine Frage noch: Was für Menschen tötest Du?” “Menschen, die keine Zukunft haben, die Grundtief Bösartig sind. Ja, auch der Mann vor dem Zigarettenautomat war böse. Er hatte in der Nacht zuvor ein Kind getötet...” “Woher...” “Ich habe Dich gerochen, Mädchen...” Du kannst von Glück reden, dass ich dich laufen lasse, aber das nächste Mal, wenn ich dich sehe, werde ich nicht mehr so gütig sein...” Der Blick in seinen Augen wurde plötzlich voller Hass. Ich ging, ohne nach hinten zu sehen. Es war wieder wie in einem Alptraum. In der Nacht träumte ich von ihm, dem Namenlosen Graya. Ich konnte es beim Besten Willen nicht begreifen und einfach nicht wahrhaben, das er Menschen tötete, jede Nacht einen. Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, machte ich mich auf den Weg zur Kirche um das zu vollenden, was ich vor sieben Jahren anfing. Und er war tatsächlich dort. Ich hatte mir von dem Hausmeister einen großen Hammer geliehen und diesen mitgebracht. Ich stellte mich vor ihn und sagte. “Das ist keine Entschuldigung. Wenn Menschen, Menschen töten oder verletzen, wandern sie ins Gefängnis. Auch wenn ein Mensch böse ist, Gott wird ihm seine gerechte Strafe geben. In unserem Land gibt es Gesetze, an die man sich halten sollte. Und du, DU hast dich an eines bestimmt nicht gehalten. Ich weiß nicht, ob ich dir nur ein Wort glauben soll, aber für mich gehörst du einfach nicht in diese Welt. Du bist kein Mensch, du bist auch kein Tier, du bist ein Monster, und Monster werden von Menschen gefürchtet und gehasst. Ich denke darüber brauche ich dir nicht mehr viel zu sagen, denn wenn alles der Wahrheit entspricht, was du mir über Dein Volk erzählt hast, weißt du ganz genau, was ich meine!” Ich nahm aus und in einem Zug waren die Scherben auf dem Boden der Rest, was vom letzten Graya übrig blieb. Dann packte ich den Hammer zurück in die Tasche und verließ die Kirche. Diese Erinnerung über Dieses Geschehen, werde ich mein Leben lang nicht vergessen...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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