Stephanie Hermann

Die Frau im Spiegel

Ich sollte ein Ritual haben für diesen Sonntagabend im Herbst. Wenn es kalt ist und regnet und allein plötzlich einsam bedeutet. Ich könnte Tee kochen, meine rosa Decke über meine müden Beine legen, ein Buch lesen. Ich könnte eine Gurkenmaske auflegen, meine Nägel maniküren und Haarkur in die kaputten Haarspitzen massieren. Ich könnte meine beste Freundin anrufen und ihr was vorheulen. Aber ich habe keine Lust zu lesen, ich will keine Gurke schälen und traurig bin ich auch nicht.
Ich liege lustlos auf meinem Sofa und starre an die weiße Decke, die durch das flackernde Kerzenlicht plötzlich zu leben scheint. Im Radio läuft Sting. "I`m a english man in New York". Wenn ich in New York leben würde, wäre mir vermutlich nicht so langweilig.
Ich höre meinem Atem zu und dem Ticken meiner Uhr. Dann geh ich zum Fenster. Ich liebe meine Altstadtwohnung.Wenn man auf die Strasse schaut, sieht man kleine Cafès, eine Bäckerei, eine Buchhandlung, alleeartig gepflanzte Birken und Laternen. Die Bäume haben fast keine Blätter mehr. Es wird dunkel.Ein paar Menschen mit viel zu bunten Schirmen und gesenkten Köpfen gehen schnell und frierend an den dunklen Schaufenstern vorbei.
Am Sonntag kommt nur Müll im Fernsehen. Am Sonntag vergeht die Zeit langsamer. Am Sonntag ist der Wind kälter und der Regen nasser.Am Sonntag schlägt mein Herz leiser.
Ich koche Tee. Die rosa Decke habe ich wie eine Toga um mich gewickelt. Vanille- Zimt. Der Teeduft breitet sich hauchartig in der Wohnung aus. Ich betrachte die Photos in den hellen Holzrahmen auf meinem weißen Ikea Sideboard, als würde ich mit meiner heißen Tasse in einer Kunstgalerie stehen.Familie, Freunde, Urlaub, Parties sind darauf festgehalten. Lachende Gesichter, tanzende Menschen, die den Kontrast zu diesem hungernden Sonntagabend bilden. In meinem Wohnzimmer steht ein mächtiger, hoher Spiegel an die Wand gelehnt. Ein dicker Goldrahmen umgibt ihn. Dieser Spiegel hat schon so viel gesehen. Jetzt sieht er mich gerade an. Ich sehe zurück. Sehe mich von oben bis unten. Wie lange ich hineinsehe weiß ich nicht. Irgendwann, als der Tee bitter schmeckt, weil ich vergessen habe den Beutel rauszunehmen, sehe ich mich nicht mehr. Da steht jemand anderes.
Sie hält eine weiße Tasse in der Hand. Die Decke um ihren Körper wirkt grotesk.Das Rosa passt nicht zum Rest des Zimmers. Alles ist weiß oder cremefarben. Selbst die Buchrücken und die Kerzen, die als einzige Dekoration im Raum verteilt sind. Wie Milchschaum, in dem eine Palme, steht. Sie sieht nett aber traurig aus. Müde. Ich schätze sie auf 28. Typischer Single. Nach dem Büro ins Fitness. Samstagvormittag Shopping. Samstagabend Cocktailbar mit der Singlefreundin. Sie träumt von einem Wochenenddausflug nach Wien und dem Mann zum Altwerden. So banal wie das für andere klingt, aber für die Frau im Spiegel ist es das Non- Plus- Ultra.
Sie sieht kindlich aus. Nicht wie die Frau, die man sich vorstellt, wenn man sich mit sechzehn fragt, wie es wohl später sein wird. Sie ist so zerbrechlich, schießt es mir durch den Kopf. Jemand sollte sie in den Arm nehmen. Unsere Hände berühren sich. Ihre Hand ist so kalt wie die Luft draussen. Die Frau im Spiegel macht mir Angst. Sie sieht mich an, als ob sie alles wüßte. Selbstgerecht und prüfend sind ihre kalten Augen. Ich drehe mich weg von ihr.
Gar nichts weiß sie. Ich werde mir einen Goldfisch kaufen, in einer Glaskugel, in die ich weiße Kieselsteine geben werde und eine apfelgrüne, kleine Pflanze.
Als ich wieder am Fenster stehe, ist die Straße leer. Die Frau im Spiegel ruft nach mir. Sie will nicht allein sein. Aber heute will ich sie nicht mehr sehen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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