Volker Winkler

Haftantritt

2007 - JVA Nürnberg.
„Hey Packow, aufwachen! Ein neuer ist im Anmarsch.“ Murmel, ein glatzköpfiger, dicklicher Mann Mitte 40 mit einem rundlichen Gesicht und einem mit Tatoos übersäten Körper rüttelte seinen Zellenkumpanen wach.
„Mmh, laß mich, du Sack!“ antwortete eine verschlafene Stimme schroff.
„Steh auf, da kommt wieder einer von den Jungelchen!“, Murmel ging zum Gitter und spähte nach links in den Gang. An dessen Ende öffnete sich eine Stahltür und 3 Männer traten hindurch. Vor weniger als einer Minute hatten sie den Gefängnisraum betreten, durchschritten schnell den Appellplatz und erklommen die Stahlstufen einer Wendeltreppe, die den einzigen Zugang zu den an den Wänden entlangführenden Zellgängen darstellte. 3 solcher Gänge befanden sich übereinander an den beiden Längsseiten des Raumes. Jeder ermöglichte den Zugang zu jeweils 20 Doppelzellen. 240 Gefangene konnten also untergebracht werden. Beim letzten allmorgendlichen Durchzählen erreichten sie die Zahl 214, doch jeden Tag erhöhte sich diese Zahl.
Packow hatte sich inzwischen erhoben und stand ebenfalls am Gitter. Er rieb seine müden Augen und versuchte einen Blick auf den Neuling zu erhaschen. Dann lachte er.
„Hahaha, wieder so ne Tippse. Schwuchtel, blöde!“ Der junge Mann Mitte 20 war schmächtig und kalkweiß. Langsam, ohne Widerstand, ließ er sich von den beiden Wächtern zu seiner Zelle schieben.
Thomas Müller war sein Name. Der Richter hatte ihn danach gefragt und ihn dabei schief angesehen. Die Brille auf das Papier gerichtet stierte er ihn an, ihn, den Fast-Absolventen der Uni Nürnberg. Bachelor für Informatik, später Master und irgendwann der Doktortitel, das war sein Ziel. Niemand hätte ihn stoppen können in seinem Wissendrang. Sein ganzes Leben bestand aus der Frage, Jahresbester oder nicht. Meistens schaffte er es. Zweifellos, er war ein Freak, fast eine Beschimpfung, aber er mochte diese Bezeichnung, denn nichts anderes stellte er dar. Er liebte seinen PC, er liebte Musik, das Kino, Fernsehen. Immer umgab ihn mindestens eines dieser Medien und immer wieder mußte er feststellen, daß er ohne dem nicht sein wollte. Das Stipendium reichte gerade um sein karges Zimmer in den Außenbezirken Nürnbergs zu finanzieren. Mit eingerechnet natürlich die Onlinekosten, um sich mit der Welt da draußen zu verbinden.
Aus der Zelle neben ihm erhallte eine krächzende Stimme: „Atze, ich wette 2 Euro auf Diebstahl im Kaufhaus“ . Thomas blickte hinein und erkannte flüchtig eine Fratze mit Hakennase und kurzgeschorenen Haaren.
Natürlich hatte er auch Filme heruntergeladen. Das war normal, jeder machte das. Es war IN. Keine große Sache. Die CD’s in den Läden wären eh viel zu teuer gewesen.
Hinter ihm hallte eine klare alte Stimme: „Ach spinn doch nicht, Körperverletzung, sein Mädchen wollte nicht so wie er!“ frohlockte die Stimme. „5 Euro, Atze!“
Thomas schluckte.
Katja, seine Freundin, wo mochte sie jetzt sein, er vermißte sie so. Es war so schön. Erst verbrachten sie nur die Zeit in der Uni zusammen, dann die Abende. Irgendwann übernachtete sie bei ihm. Und da war es geschehen. Sie verliebten sich, versprachen sich einander, machten Pläne, große Pläne. Wie ein Traum schien diese Zeit zu sein, niemand konnte sich zwischen sie stellen. Alles lief perfekt - genauso, wie er es sich immer vorgestellt hatte.
Ganz am Ende des Gangs kam eine Faust zum Vorschein. „Du Sack hast sie mißbraucht? Komm du mir in die Finger, ich mach Hackfleisch aus dir, harharhar“
Thomas holte tief Luft.
Der Staatsanwalt hatte ihm Protokolle vor die Nase gehalten. 20 Gigabyte Musik, Filme, und Software wurde ihm nachgewiesen, Stück für Stück, Megabyte für Megabyte. Sein Provider wurde gezwungen die Daten herauszugeben. Das war der Auslöser.
Es ging ganz schnell. Es war so gegen 2 Uhr, sie schliefen gerade. Er träumte von einem Urlaub auf einer Insel - nur Katja und er, ganz allein. Wundervoll. Doch plötzlich ging das Licht an. Männer standen in seinem Schlafzimmer. Fremde Männer. Männer mit Uniform. 5 Mündungsrohre zeigten auf ihn.
„HÄNDE HOCH“ hatten sie geschrieen. Und immer wieder „HÄNDE HOCH“. Sie streckten sie in die Höhe, so sehr sie nur konnten. „HÄNDE HOCH“ - Sie blickten die Männer blinzelnd an. Das gleißende Licht blendete ihre Augen. Ihre Ohren waren betäubt vom Lärm der einbrechenden Polizisten. Ihre Uniformen strömten einen merkwürdig abstoßenden Geruch ab. Er würde ihn nie wieder vergessen.
„Atze, ich wette 10 Euro, daß er eine Tippse ist, Alter“, Murmel reckte seine krumme Nase aus dem Gitter und versuchte Atze zu sehen. Seine Zelle am Ende des Gangs war stumm geblieben in den letzten Sekunden.
Stumm waren sie, als sie behelfsmäßig bekleidet in das Polizeifahrzeug gestoßen wurden. Die vermummten Männer quetschten sich neben sie. Stille. Nur der Motor heulte auf und Katjas leises Schluchzen war zu hören.
„Illegales Raubkopieren und Vervielfältigen, Verletzung des Urheberrechts und Verbreitung illegal erworbener Daten“ tönte der Staatsanwalt siegessicher und grinste ihm ins Gesicht. Katja wurde nach Hause geschickt.
Die erste Nacht war die grausamste. Heimweh plagte ihn. Das allmählich aufkeimende schlechte Gewissen tat sein übriges. Er vermißte Katja, sie wohnten nur 10 Minuten von hier, so nah und doch so fern. Mit 10 weiteren Untersuchungshäftlingen zusammengepfercht in einer kleinen Zelle auf der Polizeiwache Nord. Er, Thomas, war einer von ihnen, obwohl er sich nicht so fühlte. Er hatte ihre Körperhaltung angenommen, ihren Gesichtsausdruck, ihren Geruch, ihre Ausdrucksweise. 30 Tage, die sein Leben und ihn verändert hatten. Er war eine Tippse. Anfangs verstand er nicht, was das bedeutete. Doch mittlerweile konnte er sich den Sinn denken. Tippse - tippen - Computer - Computerkriminalität - er war ein Krimineller. Schlimmer noch, er wurde gleichgesetzt mit organisierten Verbrechern. Kein Kavaliersdelikt. Seit 2004 wurden die Gesetze verschärft. Kaum ein Internetnutzer konnte noch von sich behaupten, er hätte eine weiße Weste, doch kaum jemand nahm das ernst ... bis es zu spät war.
„15 Euro, daß er seine Familie erschlagen hat, verwöhnter Bengel, hahaha, hat Mama dir kein Taschengeld mehr gegeben, oooooh“, höhnte ein Insasse in Zelle 13. Mit einem ekelhaften Lachen wandte er sich von Thomas ab und trat vom Gitter zurück. Sie blieben stehen. „ZELLE 9, ÖFFNEN!“ schrie einer der Wächter. Die Tür öffnete sich leise wie von Geisterhand.
„Rein mit dir.“ Thomas bekam einen derben Schubs und flog unsanft ins Innere der Zelle.
„ZELLE 9 , SCHLIESSEN!“Das Geräusch von Metall auf Metall ertönte und Thomas hörte hinter sich die Schritte der sich entfernenden Aufseher.
„Wer bist’n du?“ eine brummende Stimme drang an sein Ohr. Thomas hob den Kopf und blickte um sich. Dunkle Umrisse, überall, es war Nachtruhe seit dem Moment, als er die Zelle betreten hatte. Die fahlen Lichter auf den Gängen waren erloschen. Ein schwarzer Fleck an der linken Wand schien sich zu bewegen. Er wurde größer und näherte sich ihm.
„Alois, mein Name“ mit diesen Worten reichte er Thomas eine seiner Pranken. Thomas faßte zu und ließ sich von dem 2m-Fleischkloß hochziehen.
„Thomas, Thomas Müller“ ächzte er etwas gequält, als er sich auf die Pritsche fallen ließ.
„Und? Was hast du angestellt?“ der Große sah seinen schmächtigen Zellenkumpanen ruhig an.
„Hab Musik ausm Internet geladen, und du?“ er drehte sich interessiert zu dem Großen.
„Naja, ich hab meinen Chef erwürgt.“ Thomas wich entsetzt zurück. Sein Herz schlug schneller. „Aber ich war unzurechnungsfähig, hat mein Anwalt gesagt“ fügte er schnell hinzu.
„Wieviel hast bekommen?“
„4 einhalb Jahre und wieviel bekommt man für so Inter- .. ääh -kram?“
Der Gerichtsdiener stand auf und rief: „Angeklagter, erheben sie sich!“
Der Richter betrat den Raum, setzte sich auf seinen Stuhl und blickte in die Runde, während sich die Zuschauer beruhigten. Gelassen schaute er Thomas in die Augen.
„Das Urteil erfolgt im Namen des Volkes und lautet folgendermaßen: Der Angeklagte Thomas Müller wird wegen Verletzung des Urheberrechts und Nutzung und Verbreitung illegal erworbener Daten zu 5 Jahren Haft verurteilt. Wegen der besonderen Schwere wird die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt!“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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