Volker Hofmann

Gottlieb Klöppel - das Portrait eines unbekannten Menschen

Gottlieb Adalbert Klöppel wurde am 13.7.1941 in Basdorf am Edersee geboren. Der zweite Vorname "Adalbert" steht nur in seiner Geburtsurkunde, in späteren Dokumenten erscheint er aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht mehr.
Sein Vater, ein Klempnergeselle aus Waldeck, ist im Krieg geblieben; aber nicht, weil er umkam, sondern weil er seine persönlichen Chancen für die Nachkriegszeit als Lebensgefährte einer alternden Fabrikantenwitwe in Südfrankreich besser einschätzte als bei seiner Frau in der hessischen Provinz. Er galt als vermißt. Gottliebs Mutter war eine Magd aus dem preußischen Thorn. Sie suchte und fand noch in den letzten Kriegsmonaten einen neuen Lebensgefährten, einen Schneidermeister aus Vöhl, der den Krieg an der Heimatfront mit der Produktion kriegswichtiger Hemden, Anzüge und Krawatten für die Volksgenossen aus der mittleren Parteiebene verbracht hatte.
Gottliebs Kindheit ist geprägt durch die Eindrücke der letzten Kriegsjahre. Am Ende des Krieges sah er unter amerikanischen Soldaten zum ersten mal einen Neger und bemerkte mit großem Erstaunen dessen helle Handflächen. Ein Witzbold in seiner Umgebung erklärte ihm diesen verwunderlichen Sachverhalt damit, daß sich durch schweres Arbeiten die Farbschicht von der Haut löse. Einer solchen Gefahr für seine Gesundheit wollte sich Gottlieb nicht aussetzen, und so reifte bei ihm schon früh der Entschluß, körperliche Arbeit weitestgehend zu meiden und, wenn sie unausweichlich sein sollte, auf ein absolut erforderliches Mindestmaß zu reduzieren.
Ein weiterer stark prägender Faktor seiner Kindheit und Jugend war der schon erwähnte Schneidermeister, der ihn als ein notwendiges Anhängsel seiner Mutter immerhin zu achten und zu mögen versuchte. Von ihm bekam Gottlieb die Notwendigkeit vermittelt, bei wichtigen Leuten einen positiven Eindruck zu machen und bei wirklich wichtigen Leuten immer etwas gegen diese in der Hand zu haben - oder wenigstens überzeugend so zu tun. Ein angeborenes Gespür für wichtige und wirklich wichtige Leute trieb diese Ratschläge rasch zu einer gewissen Blüte, die auch seiner späteren Laufbahn förderlich war. Und was die wirklich wichtigen Leute betraf: In der Nachkriegszeit war es nicht weiter schwer, mehr oder weniger echte dunkle Punkte in der Vergangenheit seiner Mitmenschen zu finden.
Gottliebs schulische Ausbildung verlief, an den Umständen der Nachkriegszeit gemessen, recht geradlinig. Er glänzte nirgendwo wirklich, war aber, da er seine Lehrer als temporär wichtig oder zum Teil sogar wirklich wichtig ansah, nie unter den schlechten Schülern. Einzige Ausnahme in seinem streng durchschnittlichen Bild war ein echtes Interesse an den grundlegenden Theorien des Kapitalismus. Im wurde klar, daß Geld die Welt regiert und daß materieller Wohlstand unbedingt erstrebenswert sei.
Nach Grund- und Realschule kam er durch Unterstützung des Dorfgeistlichen an eine von einem Jesuiten geleitete katholische Klosterschule, um dort sein Abitur zu machen. Allerdings fiel ihm der Aufenthalt unter den "Offizieren des Papstes" schwer, das Eingliedern in eine doch recht streng reglementierte Gemeinschaft war nicht seine Stärke. Also brach er vor dem Abitur seine schulische Ausbildung ab und wandte sich den Möglichkeiten zu, die die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs jedem zu bieten schien.
Er begann eine Ausbildung zum Kaufmann in einem Frankfurter Gemischtwarenladen und wurde im Innersten erschüttert von der Tatsache, daß sich auch im kaufmännischen Bereich Arbeit (und zum Teil sogar körperliche Arbeit im Lager) nicht vermeiden lassen sollte. Aus diesem Grund beendete er seine Lehre vorzeitig und stieg in das Berufsleben ein.
In diese Zeit fällt die Loslösung aus dem Schoß der Familie, seine Besuche in der nordhessischen Heimat waren ohnehin immer seltener geworden.
Eine zunächst recht vielversprechende Karriere als Scheuerpulververtreter endete abrupt, als er in der Villa eines Unternehmers in Bad Homburg dessen Frau die Wirksamkeit des von ihm vertriebenen Produktes an einer Ming-Vase demonstrierte. Er war Opfer seiner euphorischen Verkaufsstrategie geworden, die den etwaigen Einwänden potentieller Kunden nur wenig Raum ließ.
Da er aber auch auf gewisse Erfolge beim Verkauf seiner Waren zurückblicken konnte, blieb er dem Beruf des Vertreters treu und wechselte mehrfach den Produktbereich, wobei er immer darauf achtete, durch den Vertrieb von Nischenprodukten nicht allzuviel Konkurrenz auf dem jeweiligen Sektor zu haben. Allerdings ergab das in Verbindung mit seinem doch recht eingeschränkten technisch-praktischen Verständnis einen häufigen Wechsel der von ihm verkauften Waren. Er vertrieb unter anderem Patent-Korkenzieher, Patent-Sockenhalter, Patent-Kochtopfdeckelklammern, Patent-Bartschoner und Patent-Atemabhalter (für Ärzte und Friseure), deren praktische Verwendbarkeit sich sehr schnell als weitestgehend unmöglich erwies und seiner Reputation bei den Kunden nachhaltig schadete. In manchen ländlichen Gebieten der Rhön und des Vogelsberges erwarb er sich sogar einen durchaus zweifelhaften Ruf, der ihn gelegentlich in nur als heftig zu bezeichnenden Kontakt mit landwirtschaftlichen Werkzeugen brachte, an deren anderem Ende sich erboste Menschen befanden.
Es folgte eine Phase, in der er sich den rein chemischen Haushaltshilfsmitteln verschrieben hatte. Die Wirksamkeit jener Mittel beschränkte sich allerdings nicht nur auf das ihnen jeweils zugedachte Anwendungsgebiet, und sie erforderten einerseits hohe Disziplin in der Beurteilung und Auswahl der Anwendung und andererseits eine große Sensibilität bei der Anwendung selbst. Diese Einschränkungen wollten sich die meisten Hausfrauen in ihrer täglichen Arbeit nicht unbedingt auferlegen, und so kam es immer wieder zu kleineren und größeren Zwischenfällen, bei denen manchmal sogar Polizei und Feuerwehr involviert waren. Dadurch läßt sich sein Weg in dieser Zeit durch gründliche Recherche gut verfolgen. Der von der Öffentlichkeit am meisten beachtete Zwischenfall ereignete sich auf dem Bahnhof in Fulda, als es in Gottliebs Musterkoffer aufgrund einiger nicht sorgfältig verschlossener Behälter zu einer unerwarteten heftigen exothermen Reaktion zwischen einer Möbelpolitur und einem Toilettenreiniger kam, deren Wirkung den Bahnbetrieb für mehrere Stunden empfindlich störte. Bei dieser Gelegenheit weckte seine Person auch das erste mal ein stärkeres Interesse bei Polizei und Jurisdiktion. Inwieweit sich die dabei von ihm gemachten Erfahrungen auf seine weitere psychosoziale Entwicklung auswirkten, wird noch zu zeigen sein.
Er wurde wegen seiner Fahrlässigkeit im Umgang mit dem sensiblen Material zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Das nahm er zum Anlaß, den hessischen Landen den Rücken zu kehren und sich räumlich und beruflich ein anderes Gebiet zu suchen.
Seinen Vorstellungen gegenüber körperlicher Arbeit gemäß war es für ihn das nächstliegende, eine Laufbahn im öffentlichen Dienst einzuschlagen. Die ihm dort drohenden Gefahren (Kantinenessen, Kollegen etc.) sah er in der ihm eigenen Naivität nicht oder bewertete sie falsch. Einige schwere Schläge gegen seine Gesundheit erwarteten ihn, da Psyche, Verdauungs- und Imunsystem noch nicht durch eine längere Dienstzeit oder gar eine Ausbildung bei einer Behörde gestählt waren.
Er besetzte also eine Stelle als Postbeamter im oberfränkischen Kulmbach und hoffte durch den Postdienst jene zerbrechliche Gesundheit zu erreichen, die einige zusätzliche freie Tage pro Jahr bedeutet, keine deutliche Einschränkung im täglichen Leben und dessen Genüssen darstellt und die ein langes Leben verspricht.
Hier, in der Mitte der sechziger Jahre, machte er erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Durch seinen fremden Dialekt und auch durch seine schüchterne Art gegenüber den ortsansässigen jungen Damen (seine während der Tätigkeit als Vertreter so offene Art hatte er vor Gericht abgelegt) machte er bei eben jenen Damen einen etwas exotischen Eindruck, der noch verstärkt wurde durch einige äußerliche Spuren, die der Zwischenfall auf dem Fuldaer Bahnhof hinterlassen hatte. Diese Spuren hatten ihm damals einen sechswöchigen stationären Aufenthalt im Krankenhaus beschert und in seiner bis dahin eher langweiligen Physiognomie einige neue Akzente gesetzt.
Der Eindruck, den Gottlieb bei Frauen hinterließ, war nicht negativ. Für ihn war es überraschend, daß das, was ihn selbst beim Blick in den Spiegel eher störte, sich offensichtlich positiv in seinem Sinne nutzen ließ. Es widersprach seiner Art, die Ursachen für sein äußeres Erscheinungsbild so darzustellen, wie sie in der Realität waren, und so erfand er verschiedene Varianten der Erklärung, die er eingedenk seiner als Vertreter gemachten Erfahrungen zunächst in der weiteren Umgebung seines Wohnortes ausprobierte.
Hierbei stellte er ebenfalls mit großer Überraschung fest, daß sich aus Kontakten zu Frauen unter Umständen materielle und finanzielle Vorteile für ihn ergaben. Eine von ihm mit fast schon wissenschaftlicher Methode geführte Untersuchung dieser Thematik stärkte bei ihm schließlich auch den Verdacht, daß es zwischen Mann und Frau noch etwas geben mußte, was ihm unabhängig von bisherigen zwischenmenschlichen Beziehungen der eher oberflächlichen Art verborgen geblieben war. Den Schleier dieses Phänomens für sich zu lüften bestimmte daraufhin Gottliebs Privatleben in nicht unerheblichen Maß.
Die ruhige und entspannende Tätigkeit im öffentlichen Dienst erlaubte es ihm, seinem Interesse in größerem Umfang Rechnung zu tragen, als es andere Erwerbszweige ohne berufliche Konsequenzen gestattet hätten. Zunächst lag allerdings das Erreichen kurzfristiger materieller Vorteile beim Umgang mit den Damen im Zentrum seines Bestrebens, und auf diesem Gebiet brachte er es mit der Zeit zu einer Virtuosität, der man auch eine gewisse Eleganz in den Umgangsformen nicht absprechen konnte. Das Erforschen physischer Kontakte verlor Gottlieb nicht aus den Augen, es litt allerdings erheblich unter seiner Fixierung auf materiellen Wohlstand.
Es trat dann ein Ereignis ein, das seinen Horizont bezüglich der physischen Kontakte beträchtlich erweiterte, was ihm aber andererseits auch eine erste empfindliche Niederlage (wie er es selbst sah) einbrachte. In Bayreuth bekam er in einem Tanzlokal zweifelhaften Rufes Kontakt zu einer Frau, die in äußerem und Verhalten dem aufgrund seiner Erfahrungen bevorzugten Frauentyp entsprach. Sie zeichnete sich sogar durch eine für Gottliebs Empfinden überdurchschnittliche Attraktivität aus. Der Kontakt verlief zunächst in dem von Gottlieb geplanten und geförderten Bahnen, entwickelte sich sogar unerwarteterweise in eine Richtung, die Gottlieb als Chance für den bisher etwas vernachlässigten Teil seiner Studien erkannte. Durch für seine Verh„ätnisse recht großzügigen Genuß alkoholischer Getränke mischten sich an diesem Abend bei ihm Indolenz und Euphorie in wunderlicher Weise, was sicherlich einen nicht geringen Anteil am Ablauf der folgenden Ereignisse hatte.
Wider seine sonstige Gepflogenheit bezahlte er die vergleichsweise hohe Rechnung für die konsumierten Getränke und begab sich mit der Frau in deren Wohnung, die sich als möbliertes Zimmer in einem Haus im gleichen Viertel erwies.
Es folgte der Teil der Nacht, der den positiven Abschnitt in Gottliebs Erinnerung an jenes Erlebnis darstellt, und der ihn erkennen ließ, daß seine Vorstellung über den physischen Kontakt zu Frauen einer gründlichen Überarbeitung bedurfte.
Gottlieb hatte allerdings Vorstellungen von der Beendigung dieses Treffens, die sich von denen der hier der Einfachheit halber weiter als Dame bezeichneten Person in wesentlichen Punkten deutlich unterschieden. Er meinte, mit dem Bezahlen der Getränke im Tanzlokal einen genügenden Ausgleich für das Entgegenkommen der Dame geleistet zu haben; sie vertrat energisch den Standpunkt, daß ihr Interesse auf eine weitere monetäre Zuwendung ausgerichtet sei. Ihr Spaß an der Sache bezöge sich, auch wenn er einen anderen Eindruck gewonnen habe, auf ein leistungsbezogenes Honorar, das exakt gestaffelt sei und dessen genannte Höhe Gottlieb von der akuten Wirkung des Alkohols vorübergehend befreite. Es kam zu einem Disput, in dessen Verlauf die Dame Unterstützung durch einen großen, athletischen Mann bekam, der offensichtlich in einem der anderen Zimmer wohnte und über ein sehr feines Gehör verfügte. Aus gesundheitlichen Erwägungen heraus erschien es Gottlieb in dieser Situation das beste, sich überzeugen zu lassen. Bestimmte Anzeichen deuteten darauf hin, daß seine beiden Verhandlungspartner mehr Erfahrung in solchen Auseinandersetzungen hatten.
Ihm blieb ein finanzieller Verlust, den er sich selbst gegenüber mit der Tatsache rechtfertigte, daß sich sein Wissen auf einigen Gebieten beträchtlich erweitert hatte. Auch gedachte er, sein erworbenes Wissen zukünftig zum Sichern und Verbessern seiner materiellen Situation zu nutzen. Die Rückfahrt nach Kulmbach mit einem Taxi verbrachte er schon mit intensiven Überlegungen in diesem Bereich. Auf diese Art gelang es ihm, sein seelisches Gleichgewicht soweit wiederherzustellen, daß er trotz alkohol- und schlafmangelbedingter Beschwerden den nächsten Tag in seiner Dienststelle verbringen konnte.
Er intensivierte in der folgenden Zeit seine Bemühungen, bei Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht auch zu körperlichem Kontakt zu kommen. Dabei kristallisierte sich die Erkenntnis heraus, daß körperlicher Kontakt und finanzieller Vorteil sich nur selten und meistens bei einer bestimmten Art Damen, die zudem häufig den Lebensabend nicht allzu weit vor sich hatten, kombinieren ließen. Da allerdings waren waren die materiellen Vorteile erheblich. Gottlieb lernte schnell, die jeweiligen Möglichkeiten einzuschätzen und bewies hierbei eine für ihn untypische Aufmerksamkeit für Details. Auch entwickelte sich bei ihm zum Teil wieder jene Flexibilität, die früher den erfolgreichen Teil seiner Tätigkeit als Vertreter ausgemacht hatte.
Relativ spät realisierte er dagegen seinen entstehenden Ruf in Kulmbach und Umgebung. Erst die recht deutlichen Hinweise im Verhalten des weiblichen Teils der Bevölkerung ihm gegenüber ließen ihn die Strukturen und Auswirkungen der Übermittlung von bestimmten Informationen auch in einer größeren Stadt erkennen.
Da er nicht bereit war, den von ihm mittlerweile so erfolgreich gepflegten Lebensstil aufzugeben, nutzte er die Möglichkeiten, die ihm sein bundesweit operierender Arbeitgeber bot und ließ sich nach Landshut versetzen. Dabei kam ihm zustatten, daß er sich nach wie vor der Informationen des Lebensgefährten seiner Mutter erinnerte und deren Umsetzung in seinem täglichen Leben nicht vernachlässigt hatte. So bekam er seitens seiner Vorgesetzten und Kollegen die entsprechende Unterstützung für seine Versetzung.
In Landshut begann er insofern ein neues Leben, als er die Intervalle zwischen seinen Aktionen verlängerte, um sich die "Basis Landshut" in der relativen Nähe zur reichen Großstadt München möglichst lange zu erhalten. Er investierte, nicht zuletzt um seine räumliche Flexibilität zu erhöhen, in eine Limousine der Marke Mecedes-Benz. In der Vergangenheit hatte er im finanziellen Bereich immer eine hohe Disziplin gehalten, so daß sein Barvermögen ein Volumen erreicht hatte, das ihm den Kauf dieses Fahrzeuges problemlos gestattete. Er behielt vorerst seinen bescheidenen persönlichen Lebensstil bei; unter anderem, weil diese Bescheidenheit eine - wenn auch dünne - Schutzmauer gegen erste aufkeimende Verdachtsmomente darzustellen in der Lage war. Um den Eindruck zu wahren mietete er eine Garage in Moosburg, zwanzig Kilometer isaraufwärts in Richtung München gelegen, und benutzte für die Fahrt dorthin öffentliche Verkehrsmittel. Ihm war wichtig, in Landshut nicht mit einem Auto dieser Klasse in Verbindung gebracht zu werden. Wenn es einmal nötig war, nach Landshut mit dem Auto zu fahren, dann parkte er weitab seiner Wohnung. Da das immer nur bei Dunkelheit vorkam, ergaben sich daraus keine nennenswerten Probleme. Der von Gottlieb gewünschte Eindruck blieb gewahrt.
Am Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre entwickelte sich Gottliebs Leben in eine Richtung, die sich in den Grundzügen mit allgemein vorhandenen Vorstellungen von Moral und Ethik immer weniger in Einklang bringen ließ. Diese Entwicklung zog nach sich, daß sein Verhalten marginal auch mit Recht und Gesetz kollidierte. Zur Verantwortung gezogen wurde er in dieser Zeit dafür allerdings nicht.
1972 ereignete sich ein weiteres einschneidendes Erlebnis für Gottlieb, als er im Zeitraum der Olympischen Spiele in einer Schwabinger Cocktailbar in Begleitung einer jüngeren Frau einer anderen Dame aus Frankreich vorgestellt wurde, die sich wiederum in Begleitung eines älteren Herrn befand, der auf Gottlieb einen nicht exakt zu definierenden, dessenungeachtet aber sehr intensiven Eindruck machte. Besondere Aufmerksamkeit der Herren erregte im Laufe der geführten Unterhaltung der nicht zu verleugnende, vertraute Dialekt aus einer anderen Gegend, der bei beiden erkennbar war. Man widmete sich diesem Thema und es verdichteten sich die Hinweise auf das, was sich dann in einem separaten Gespräch der beiden als Tatsache herausstellen sollte: Vater und Sohn hatten sich gefunden. Man brachte einander zunächst eine Art kollegialer Hochachtung entgegen, die bei weiterem Kontakt zu echter Sympathie wurde.
Gottliebs Vater hatte in der Zeit nach der Invasion und in den Nachkriegswirren seine Identität neu arrangiert und lebte unter dem Namen Jaques Fontane auf einem eigenen Landsitz in der Nähe von La Rochelle. Die Fabrikantenwitwe aus Südfrankreich hatte er nach einem tragischen Autounfall beerbt. Seine Lebensart und sein mit sicherer Hand vergrößertes ererbtes Vermögen schufen die Kontakte, die ihn zu seiner jetzigen Begleiterin und Ehefrau geführt hatten. Sie war die Tochter eines begüterten Landwirtes, dessen Ländereien zwischen La Rochelle und Rochefort lagen. Klöppel sen. hatte zu diesem Zeitpunkt für sein Leben ausgesorgt, ein Zustand, den zügig zu erreichen sich Gottlieb unter dem Eindruck seines Vaters fest vornahm. Den beiden Damen war aufgrund der ausgefeilten Diskretion von Vater und Sohn die wirkliche Situation verborgen geblieben. Man erweiterte in Gegenwart der Damen den Kontakt nicht über das bei flüchtigen Bekanntschaften in diesen Kreisen übliche Niveau, so daß Gottlieb seine derzeit angestrebten Ziele weiter ohne Verzögerung und Einschränkung verfolgen konnte. Von seiner Begleiterin dieser Tage trennte sich Gottlieb bald wieder.
Intensiv arbeitete Gottlieb an der Perfektionierung dessen, was er als Rüstzeug für die von ihm gedachte Lebensgestaltung ansah. Dabei unterliefen ihm die bei Autodidakten häufig vorkommenden Fehler. Er registrierte Erfolge, machte aber bei der Analyse der von ihm als solche empfundenen Mißerfolgen entscheidende Fehler; auch deshalb, weil er nie mit anderen darüber sprach und sprechen konnte. So entstand bei ihm eine Einstellung und eine Art Philosophie, die seine Erfolgsaussichten auf Dauer zumindest fraglich erscheinen ließ.
Ende 1973 lernte Gottlieb in einem Cafe in Schwabing eine Frau kennen, die ihn sehr beeindruckte. Sie hieß Konstanze Gruber, war fünf Jahre jünger als er, die Tochter eines Sägewerkbesitzers aus dem Allgäu und zu Einkäufen nach München gekommen. Ihre auffallende Erscheinung faszinierte ihn, allerdings aus den auf seinen Zukunftsvorstellungen basierenden Gründen. Ihr Körper brauchte mengenmäßig mehr von den teuren Stoffen, um entsprechend bedeckt zu sein; die Ringe an ihren Fingern enthielten aufgrund des großen Durchmessers mehr Edelmetall und, um in den Proportionen nicht unterzugehen, auch größere Steine. Gottlieb suchte und fand den Kontakt zu ihr, und er pflegte diesen intensiv über den mehrtägigen Zeitraum ihres Aufenthaltes in München. Seine Bemühungen gingen sogar über das bei ihm übliche Maß hinaus. Er traf sich mit ihr, entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten, auch in den weiteren Monaten, so am Starnberger See, in Garmisch-Partenkirchen und sogar zu einem Wochenendausflug nach Wien.
Dort geschah in seinem Hotelzimmer das, was den stärksten Einschnitt in sein Leben bedeutete. Seine Begleiterin wollte den Beischlaf, und Gottlieb, der das als Bestandteil seiner Strategie betrachtete, nutzte die Gelegenheit (seine in diesem Falle vielleicht sogar berechtigten Ängste vor Verletzungen hintenanstellend) sofort. Diesmal allerdings ergaben sich daraus biologische Konsequenzen, die bisher in Gottliebs Überlegungen keine Rolle gespielt hatten. Er hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt in dieser Hinsicht eine erstaunliche Naivität bewahrt. Die Geschichte mit dem Storch erschien ihm zwar ein wenig unglaubwürdig, aber angesichts fehlender Alternativen hatte er aerodynamische und ornithologische Bedenken verdrängt und die Symbiose zwischen Storch und Mensch auf dem Gebiet der Fortpflanzung als ganz normales Wunder akzeptiert. Entsprechend wenig konnte er mit der Nachricht anfangen, daß seine Bekannte ein Kind bekommen sollte und daß er der Vater sei. Es erforderte von ihm erhebliche Überwindung, sich bei verschiedenen, nicht weiter bekannten Stellen diesbezüglich über Ursache und Wirkung zu informieren. Seine von den Kollegen übereinstimmend geschilderte Stimmung in diesen Tagen läßt die Vermutung zu, daß die Beschaffung dieser Informationen zum Teil auch den Einsatz erheblicher finanzieller Mittel erforderte, was wiederum gewisse Rückschlüsse auf seine Vorgehensweise in dieser Angelegenheit zuläßt.
Unzweifelhaft waren Gottlieb die gesellschaftlichen Konsequenzen klar, die sich im konservativen Bayern aus dieser Situation ergeben mußten. Er sondierte bei einem Anwalt auch die juristische Seite, stellte aber fest, daß in diesem Falle erhebliche Diskrepanzen zwischen den theoretisch legalen Möglichkeiten und der gesellschaftlichen Realität ergaben. Entscheidend für ihn allerdings war, daß das im Falle der juristischen Lösung einen langfristigen, empfindlichen finanziellen Verlust für ihn bedeutet hätte, den er nicht hinnehmen wollte. Demgegenüber sicherte ihm die nun notwendige Eheschließung voraussichtlich die angestrebte materielle Sicherheit. Dazu war es unumgänglich, daß er an der euphemistischen Darstellung seiner Identität auf absehbare Zeit festhielt. Er war sich darüber klar, daß das in Zukunft erheblichen intellektuellen und organisatorischen Aufwand bedeuten würde. Gottlieb hatte sich als selbstständiger Marketingfachmann mit internationalen Kontakten dargestellt, und seine Bedenken gingen weniger in Richtung des Beibehaltens dieser Darstellung gegenüber seiner von ihm als recht weltfremd eingeschätzten Verlobten, sondern eher gegenüber seinen zukünftigen Schwiegereltern. Hinsichtlich der Einschätzung seiner Verlobten standen Gottlieb noch einige Überraschungen bevor.
Als er ihren Eltern vorgestellt wurde beschlich ihn das Gefühl, daß es für ihn noch mehr als den erwarteten Aufwand bedeuten würde, seine Selbstdarstellung für die Zukunft aufrecht zu erhalten. Mit der ihm eigenen Unbekümmertheit ging er über die negativen Aspekte dieses Gefühls hinweg, mobilisierte seinen auf seinem bisherigen Lebensweg basierenden Optimismus und entwickelte mittel- bis langfristige Vorstellungen, wie er seine Vorstellungen realisieren könne. Er unterschätzte dabei völlig die manchmal noch übliche Einbindung in den gewachsenen Verband einer sehr wohlhabenden Familie, für die die Bezeichnung "Dynastie" nicht ganz unzutreffend ist. In der näheren und weiteren Verwandschaft seiner Verlobten gab es Unternehmer in den Branchen Brauerei, Land- und Forstwirtschaft, Elektrotechnik, Handel und Dienstleistungen.
In den folgenden Monaten pflegte Gottlieb zwangsläufig intensiveren Kontakt zu Konstanze und ihrer Familie.
Völlig überrascht wurde Gottlieb von der in dieser Dynastie schon traditionellen Integration weiblicher Familienmitglieder in die Leitung der verschiedenen Unternehmen. Aus deren Perspektive betrachtet bröckelte seine Fassade jedesmal recht schnell, und er mußte seinen ganzen männlichen Charme aufbieten, um bestimmte thematische Situationen zu entschärfen. Hierbei zeigte sich bei ihm auch ein eklatanter Mangel an Allgemeinbildung und kulturellem Interesse. Mit Befremden stellte er fest, daß seine Zukünftige diese Allgemeinbildung besaß, dazu vier Fremdsprachen fließend beherrschte und offenbar über beträchtliche betriebswirtschaftliche Kenntnisse verfügte, von denen er lediglich wußte, daß sie in einem Universitätsstudium vermittelt wurden.
Es fiel Gottlieb schwer, seinen promiskuitiven Lebenswandel aufzugeben, worüber er selbst zunächst sehr erstaunt war. Er gedachte aber, im Laufe der Ehe zu diesem Lebensstil zurückzufinden.
Die Hochzeit wurde rasch vollzogen, um zur Geburt des Kindes einen zeitlichen Abstand zu gewährleisten, der möglichst keinen Verdacht auf vorehelichen Geschlechtsverkehr zuließ. Bis zur Hochzeit gab es für Gottlieb keine Schwierigkeiten mit seiner Identität, seine Legende als international tätiger Marketingfachmann wurde auch von seinen Schwiegereltern genutzt, um die manchem etwas überstürzt erscheinenden Hochzeit mit einem Mann zu rechtfertigen, der in Konstanzes Leben bisher keine Rolle gespielt zu haben schien. Es hieß dann immer, er sei viel im Ausland unterwegs gewesen.
In den Wochen vor der Hochzeit verlegte er seinen Wohnsitz nach Sonthofen, wo Konstanzes Familie dem Paar ein Haus gekauft hatte.
Einige Tage nach der Hochzeit kam es zu Gottliebs Enttarnung. Er mußte erkennen: Sowohl seine Ehefrau als auch seine Schwiegereltern und Teile der Verwandschaft waren offensichtlich von Anfang an überzeugt davon gewesen, daß seine Darstellungen der eigenen Person nicht unbedingt in allen Punkten der Realität entsprachen. Man hatte sich ihm dennoch gewidmet, da man jemanden für Konstanze suchte, der das Talent haben würde, nach entsprechender Unterweisung, die in den nächsten Wochen folgen sollte, jenen repräsentativen und nach außen interessanten Ehemann abzugeben, den Konstanze sonst auf herkömmlichen Wegen mit einiger Sicherheit nicht gefunden hätte. Ihm wurde eröffnet, daß seine materielle Versorgung gesichert sei. Sollte er sich weigern, sich der familiären Planung entsprechend zu verhalten, würden allerdings juristische Maßnahmen ergriffen, die ihn als Hochstapler bloßstellen und ihn beträchtlichen Unterhalt und Schadensersatz wegen Betrugs kosten sollten.
Gottlieb war schockiert über den offensichtlich arrangierten Verlauf ihrer Bekanntschaft. Er fühlte sich ausgenutzt und beklagte intensiv die Schlechtigkeit der Welt im allgemeinen und die der Bayern im besonderen. Er realisierte nicht, daß er Opfer eines seinem eigenen bisherigen Verhalten entsprechenden Planes geworden war.
Er wurde beruflich in ein Unternehmen der Familie integriert; auf einem Posten, der dem Eindruck nach eine höhere Position war, allerdings eine Tätigkeit im Bereich interner Betriebsorganisation beinhaltete und ihn von weitergreifenden Entscheidungen bezüglich der Geschäftsführung ausschloß. Außerdem befand er sich immer zusammen mit Angestellten der Firma, die einerseits eine ihn völlig überraschende Loyalität zu ihrem Arbeitgeber zeigten, andererseits aber auch eine Distanz zu ihm wahrten, die sich nicht nur aus seiner exponierten familiären Stellung ergab. Seine Stelle im öffentlichen Dienst mußte er aufgeben.
Gottliebs Leben verlief nun in vollkommen anderen Bahnen, als es bisher der Fall gewesen war. Er sah sich, seine Situation analysierend, als Objekt im Leben anderer und nicht mehr als sein Leben selbst bestimmendes Individuum. Eingebunden in Beruf und in eine Familie, die ihn mit ungewohnt drastischem Realismus betrachtete, distanzierte er sich geistig von seinen familiären Lebensumständen und nahm die Geburt seiner Tochter nur am Rande wahr.
Er widmete seinem Beruf ein immer größeres Interesse und eignete sich damit immerhin tiefergehende Kenntnisse in Buchhaltung und Organisation an, als er sie bisher gehabt hatte. Es reifte die Erkenntnis in Gottlieb, daß nur ein weiterer drastischer Bruch in seinem Leben Veränderung bringen konnte, und er erkannte auch, daß die Kenntnisse, die zu erwerben ihm seine momentane Situation gestattete, ihm in seiner Zukunft gegebenenfalls erheblichen Nutzen bringen würden.
Die durch den Holzhandel weitreichenden internationalen Beziehungen der Firma versetzte Gottlieb in die Lage, Informationen über andere Länder zu sammeln, zunächst noch ohne konkretes Ziel, bald aber mit dem festen Entschluß, sich nach Übersee abzusetzen. Im Selbststudium lernte er Englisch und Französich, was von der Familie seiner Frau mit einem gewissen Wohlwollen registriert wurde. Wie überhaupt sein Eifer und sein offensichtliches Bestreben, zu lernen und sich zu bilden, zu einer oberflächlichen Entschärfung seines Verhältnisses zu dieser Familie führte.
Er verstärkte den schriftlichen Kontakt zu seinem Vater, der ihm mit seinen internationalen Kontakten ebenfalls hilfreich sein konnte. Dieser Briefwechsel lief über ein eigens zu diesem Zweck eingerichtetes Postfach.
Gottliebs Fähigkeit zu intensiver, aber nach außen kaum wahrnehmbaren Vorbereitung mittelfristiger Pläne zeigte sich hier wieder sehr deutlich und erfuhr sogar noch beträchtliche Verfeinerung. Emotionelle Einschränkungen seiner Vorstellungen, etwa bedingt durch Frau und Tochter, gab es für ihn nicht.
Kurz vor seinem zweiten Hochzeitstag äußerte er, alleine nach München fahren zu wollen, was ihm angesichts des bevorstehenden Ereignisses auch gewährt wurde. Er verließ Sonthofen am 23.1.1976 in Richtung München. Sein Auto fand man drei Wochen später auf einem Parkplatz in Neu-Isenburg, normal geparkt, ohne Spuren ungewöhnlicher Einwirkung durch Dritte.
Nachforschungen ergaben Hinweise auf je eine ihm ähnliche Person in Caracas und Maracaibo. Die Glaubwürdigkeit dieser Hinweise konnte allerdings nicht hinreichend bewiesen werden.
Seither wird Gottfried Klöppel gesucht.

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