Michael Speier

Das Buch

Der silbergraue Jaguar schoss durch die verregneten Straßen der Weltmetropole London. Der Mann am Steuer schien verrückt geworden zu sein, denn er lenkte so waghalsig als wäre der Leibhaftige persönlich hinter ihm her. Archibald Theodor Leach, der Fahrer des teuren Sportwagens, war ein ziemlich heruntergekommener Säufer. Früher einmal war er ein angesehener Mann gewesen, ein Mitglied der Royal Navy und gerngesehener Gast auf allen Empfängen. Er war bekannt. Doch dann ereignete sich ein schrecklicher Unfall der sein Leben für immer verändern sollte. Seine Schwester kam auf grauenvolle Art und Weise ums Leben, und Archibald Leach gab sich selbst die Schuld daran. Alles was er jetzt noch besaß waren der Wagen (ein Kindheitstraum den er sich vor einigen Jahren erfüllt hatte), das kleine Detektivbüro in Whitechappel, das ihm mehr als nur einmal auch als Schlafplatz gedient hatte, und der Rest einer Anzahlung von 10.000 Euro, die sich in einer kleinen Tasche im Handschuhfach befanden. Für Archibald Theodor Leach waren 10.000 Euro eine Menge Geld, aber die Aussicht auf weitere 90.000 Euro hielten ihn davon ab mit dem Geld durchzubrennen. Seit er bei der Navy wegen Alkohol und Betäubungsmittelmissbrauchs unehrenhaft entlassen worden war und sich mehr schlecht wie recht als Privatdetektiv herumschlug, hatte er noch keinen Auftrag erhalten der so lukrativ war. Und so einfach obendrein. Er sollte etwas finden. Nicht etwa den Schatz der Azteken oder den heiligen Gral, sondern nur ein einfaches, plumpes, altes Buch. Und dieses Buch lag nun, stilvoll in ein sauberes Leinentuch eingewickelt auf dem Beifahrersitz des Nobelwagens.

Sein Auftraggeber schien ein wohlsituierter junger Mann zu sein. Seine Adresse lag in der vornehmeren Gegend Londons, wenn nicht sogar in der vornehmsten der Weltmetropole. Er besaß dort ein prachtvolles Anwesen mit allem was dazugehörte, inklusive Parkanlage und Butler. In Gedanken wähnte Leach sich bereits am Strand irgendeiner Südseeinsel von der man in dieser verregneten Großstadt noch nie etwas gehört hatte, in jedem Arm eine dunkelhäutige Göttin, eine Zigarre im Mund und ein Glas feinsten Rum in der Hand. So ließ es sich aushalten, und mit 100.000 Euro war das sogar für eine längere Zeit möglich. Vielleicht würde er sogar eine kleine Detektei auf der Insel eröffnen, oder er würde dort irgendetwas anderes, weniger anstrengendes auf die Beine bringen. Völlig in seiner Vorfreude versunken steuerte er auf das riesige Stahltor zu das ihn von seiner Zukunft trennte, der Eingang zum Anwesen seines Auftraggebers, Vincent Delakay.

Nachdem er seinen Wagen geparkt und das Buch vorsorglich in seinem Aktenkoffer verstaut hatte, ging er mit federnden Schritten auf die hölzerne Eingangstüre zu. Er hatte den Fuß gerade auf die zweite Stufe der kleinen Treppe gesetzt die zum Eingang hinaufführte, als die Türe bereits geöffnet wurde. Jacques, der französische Butler seines Auftraggebers, stand arrogant dreinschauend in der Tür und verbeugte sich leicht. Eines musste man den Franzosen lassen, dachte Leach, Stil hatten sie.
„Monsieur erwartet sie bereits, Sir.“
Leach nickte. Auch er verbeugte sich leicht, allerdings konnte er den Spott nicht ganz überspielen. Langsam und bedächtig schritt er an dem Diener vorbei in den großen Empfangssaal.
„Monsieur erwartet sie in der Bibliothek, Sir. Und er ist voll der Hoffnung das sie gefunden haben weswegen er sie beauftragt hat.“
„Natürlich habe ich es. Was wäre ich denn für ein Mann wenn ich hier einfach auftauchen würde ohne zu haben was er sucht.“
„Der Mann für den ich sie gehalten habe, Sir“, flüsterte der Butler kaum hörbar. Leach überhörte das bewusst. Immerhin war er in wenigen Minuten 90.000 Euro reicher. Was machte da schon das dumme Gerede eines Dienstboten?

Diese Bibliothek trug ihren Namen zurecht. Lech blickte sich um. Überall standen Regale mit Büchern, es mussten Tausende sein. Ein unschätzbares Vermögen, vor allem wenn man bedachte wie viel der Besitzer bereit war für nur ein einziges Buch auszugeben. Fasziniert ging Leach durch den Raum, den Kopf leicht zur Seite geneigt um die Titel besser lesen zu können. Viele der Bücher trugen jedoch überhaupt keine Titel, und diejenigen die Titel hatten waren in einer Sprache oder teilweise sogar mit fremden Schriftzeichen beschrieben, so dass Leach nicht erkennen konnte um was für Literatur es sich handelte. Früher einmal war er ein unvorstellbarer Bücherwurm gewesen, doch in den Letzten Jahren hatte er kaum ein Buch in die Hand genommen, jedenfalls nicht zum Lesen. An einem Regal wurde er langsamer, sein Blick fraß sich an einem bestimmten Buch fest, obwohl es weder besonders aussah noch einen Titel trug, aber es war ihm einfach nicht möglich den Blick abzuwenden. Er blieb stehen, starrte dieses Buch an, und fühlte sich plötzlich als wäre er ganz alleine auf der Welt, ach was, im ganzen Universum. Es schien so als hätte alles auf einmal seine Bedeutung verloren, die Welt, das Leben, sogar das viele Geld das er in wenigen Augenblicken besitzen würde.
„Faszinierend, nicht war Mister Leach?“
Leach erwachte aus seiner Starre. Neben ihm stand sein Auftraggeber, in elegantes schwarz gekleidet, die langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er hatte ihn überhaupt nicht kommen hören, doch plötzlich stand er neben ihm. Leach errötete ganz sanft. Es war ihm peinlich.
„Guten Abend, Monsieur Delakay.“
Delakay nickte freundlich und lächelte.
„Ich nehme an sie haben gefunden wonach sie suchen sollten, Mister Leach.“
Leach nickte langsam. „Ja, ich habe es gefunden. War nicht gerade leicht.“ Das war glatt gelogen. Es war mehr als leicht gewesen. Im Internet hatte er es gefunden und ersteigert. Er musste nicht einmal sehr hoch bieten, angesichts des offenbaren Wertes, oder besser gesagt, angesichts des Wertes den es für seinen Auftraggeber hatte.
„Natürlich nicht. Wenn es leicht gewesen wäre, dann hätte ich es selbst gefunden. Mich wundert nur in welcher Geschwindigkeit sie es fanden, Mister Leach.“ Das Internet ist eine wundervolle Erfindung, nur damit umgehen sollte man können, dachte sich Leach.
„Wäre es ihnen lieber wenn es länger gedauert hätte?“
„Nein, auf keinen Fall. Ich meinte nur, ich suche schon so lange danach, sie können sich gar nicht vorstellen wie lange schon, und sie finden es binnen weniger Wochen.“
Ich fand es binnen weniger Stunden, dachte sich Holden, ich bin nur nicht sofort gekommen damit du nicht der Meinung bist der Fund wäre nicht die vereinbarte Summe wert. Außerdem, ein Buch das so wertvoll sein soll, das lohnt sich doch auch sicherlich zu lesen. Er hatte es versucht, aber alles was darin stand war nichts weiter als ausgemachter Blödsinn.
„Nun gut. Wo ist es?“ In Delakays Augen strahlte eine Gier die Leach bei keinem anderen Menschen zuvor jemals gesehen hatte.
„Wo ist mein Geld, Monsieur Delakay.“
„Sie sollen ihr Geld schon bekommen, Mister Leach, aber zuerst möchte ich wissen wo das Buch sich befindet.“
Leach hob seinen Koffer ein wenig an und deutete auf ihn.
„Sie wollen doch nicht etwa sagen dass sie es bei sich haben.“ Ungläubig blickte Delakay auf den Koffer in Leachs Hand. Dann schüttelte er den Kopf und begann leise zu lachen.
„Nein, das haben sie nicht.“
Leach nickte. „Natürlich habe ich es bei mir. Die Frage ist nur, haben sie das Geld hier um es mir abzukaufen.“
„Am Geld soll es nicht liegen. Aber ich möchte es zuerst sehen.“
Leach nickte. „Kein Problem.“ Er stellte den Koffer auf den kleinen Beistelltisch in der Mitte des Raumes. Delakay setzte sich in den hohen Ohrensessel der gleich daneben stand und starrte wie gebannt auf das Bündel das Leach aus dem Koffer zu Tage förderte. Ungläubig kniff Delakay ein wenig die Augen zusammen.
„Was, bitte, soll das sein.“
„Es ist genau das was sie wollten.“
Delakay schüttelte den Kopf.
„Es ist viel zu – klein.“
Holden wickelte das Tuch ab und entnahm das Buch. Fast ehrfürchtig reichte er es seinem Auftraggeber. Dieser hatte bereits gereizt die Augen geschlossen und kämpfte mit sich die Beherrschung zu bewahren. Er streckte die Hände aus um das Buch entgegenzunehmen. Es war ein einfaches Buch, in schwarzem Karton gebunden, und auf der ersten Seite stand der Titel, darunter waren mystische Symbole abgebildet und irgendjemand hatte etwas hineingekritzelt. Delakay blätterte ein wenig in dem Werk, schüttelte dann den Kopf und legte das Buch wieder weg..
„Wenn sie eine bestimmte Ausgabe des Buches wollten, dann hätten sie das sagen müssen.“
„Ausgabe?“ brüllte Delakay nun. Er war aufgesprungen und schien sehr verärgert zu sein.
„Ich wollte keine bestimmte Ausgabe des Buches. Ich wollte das Original. Verstehen sie, Mister Leach? Das Original!“
„Und genau das habe ich ihnen besorgt.“
Wütend nahm er das Buch und schlug es auf. Er zeigte auf das Wort „Originalausgabe“.
„Der Autor hat es sogar signiert, hier, sehen sie?“
Delakay hatte inzwischen wieder Platz genommen und sein Gesicht in seiner Hand vergraben.
„Autor?“ flüsterte er, teils belustig, teils verärgert.
„Ja. Mister Howard Phillips Lovecraft höchstpersönlich. Ich habe sogar mit verschiedenen Experten gesprochen. Es ist ganz zweifellos sein Namenszug.
Delakay blickte auf.
„Sie scheinen nicht zu verstehen, Mister Leach. Ich wollte das Originalbuch, nicht diesen ... okkulten Schwachsinn.“
„Nein, Mister Delakay, sie scheinen nicht zu verstehen“, die Lage entwickelte sich in eine Richtung die Leach nicht gefiel. Wenn es so weiterging, dann hätte er nicht nur auf die restlichen 90.000 verzichten müssen, am Ende müsse er sogar noch die Anzahlung zurückgeben, und davon war leider nicht mehr viel übrig. „Dieses Buch ist das Original, es ist genau das was sie bestellt haben. Es existiert kein anderes.“
„Natürlich existiert ein anderes. Und zwar jenes das als Vorlage für dieses...Machwerk gedient hat.“
Leach begann zu lachen. „Monsieur Delakay, ich hatte sie ursprünglich für einen gebildeten Mann gehalten, aber so langsam zweifele ich an ihrem Verstand. Dieses Buch hier, ist ein Hirngespinst. Es ist nichts weiter als eine nette Bettlektüre, und jeder der ihm mehr zuspricht, der hat ganz offenbar seinen Sinn für die Realität verloren.“
„Dieses Buch da ist keine 100.000 Euro wert, Mister Leach. Es ist gerade einmal 30 Euro wert, wenn überhaupt. Gut, ich gestehe ein das es für einen Sammler vielleicht sogar 100 Euro wert sein mag, weil Mister Lovecraft es signiert hat, aber für mich ist es absolut wertlos.“
Das hatte Leach die ganze Zeit befürchtet, seit er das Buch im Internet ersteigert hatte. Und jetzt lag das Necronomicon da auf dem Beistelltischen und niemand wollte es haben.
„Haben sie allen Ernstes daran geglaubt das mir dieser Druck der zu Hunderten über die Ladentische ging 100.000 Euro wert sei, Mister Leach? Wenn ja, dann müsste man an ihrem Verstand zweifeln.“
„Sie wollten das Necronomicon und ich habe ihnen das Necronomicon besorgt.“
„Ich wollte das echte Necronomicon, nicht diesen Mist hier.“
Leach dachte genau über seine nächsten Worte nach.
„Es gibt kein anderes Necronomicon, zumindest keines das vor diesem hier erschienen ist. H.P.Lovecraft hatte das Necronomicon als Gegenstand in seinen Geschichten erfunden. Das Buch über die Mächte der Finsternis, das ich nicht lache. Aber so wie sie haben ja viele Menschen gedacht, und deshalb brachte er das Buch nach dem alle fragten auf den Markt, natürlich unter dem Pseudonym Abdul Al Hazred. Und schon hatte er wieder Futter für neue Bücher. Sehen sie es ein, Monsieur Delakay, es tut mir leid, aber es existiert kein andres Buch.“
Während dieser Ansage begann Delakay zu lächeln, und er lächelte immer intensiver, je mehr Leach sprach.
„Armer alter Narr“, sagte er anschließend leise.
„Was sagten sie gerade?“
„Ich nannte sie einen armen alten Narren, Mister Leach. Sie und den ganzen Rest der ach so vernünftigen Welt. Es ist natürlich so wie sie sagen, Lovecraft schrieb so viel über dieses Buch, und das Volk verlangte danach. Und es stimmt natürlich auch das Lovecraft dieses Necronomicon geschrieben hat, unter dem Pseudonym das sie eben nannten. Aber was, glauben sie, hat ihm wohl als Vorlage dazu gedient?“
„Sein kranker Verstand.“
Delakay lachte.
„Oh, ja, Mister Leach. Das ist eine einleuchtende Erklärung, zumal allgemein bekannt ist das Lovecrafts Verstand in der Tat krank war. Aber das ist nichts weiter als ein Zeichen.“
„Zeichen? Von was zur Hölle reden sie da eigentlich?“
„Hölle?“ Delakays freundlich- amüsiertes Lächeln wurde nun zu einem boshaft Berechnenden.
„Hölle trifft es schon ganz gut, nur das die Hölle, so wie der gewöhnliche Christ sie sich vorstellen mag, im Gegensatz zu dem wovon ich spreche recht harmlos erscheint. Ich rede von etwas viel schlimmeren als der Hölle. Etwas dass sie sich überhaupt nicht vorstellen könnten ohne den Verstand zu verlieren, ebenso wie unser Freund Lovecraft. Er besaß eine Abschrift des Necronomicons, wenn auch recht unvollständig. Aber das er eine hatte ist aus seinen Werken ersichtlich. Ich habe seine Werke leider erst kurz vor seinem Tode gelesen, ich konnte leider nicht mehr ausreichend mit ihm korrespondieren.“
„Was soll das heißen? Sie sind doch höchstens – 27 oder 28 Jahre alt. Wie können sie die Werke kurz vor seinem Tode gelesen haben?“
„Das spielt wohl kaum eine Rolle für sie. Fest steht jedenfalls das sie mir nicht das gebracht haben was ich von ihnen erwartete, demnach erhalten sie auch die ausstehenden 90.000 Euro nicht. Aber ich bin großzügig, sie dürfen die Anzahlung für ihre Mühen behalten. Selbstverständlich steht mein Angebot noch, sollten sie mir das Necronomicon bringen bekommen sie auch das Geld.“
Leach schüttelte ungläubig mit dem Kopf.
„Verdammter Hurensohn“, zischte er. „Ich habe ihnen genau das gebracht was sie von mir verlangt haben, und nun weigern sie sich zu zahlen. Bitte. Ich hoffe sie werden glücklich mit diesem Schmöker. Aber führen sie besser nicht die Beschwörungen durch die dort aufgeschrieben stehen, nicht das sie noch das Tor zur Hölle öffnen.“ Leach drehte sich auf dem Absatz herum und eilte zur Ausgangstür der Bibliothek, doch kurz bevor er sie erreicht hatte schmetterte sie wie von Geisterhand zu und ließ sich nicht öffnen. Erbost drehte Leach sich zu Delakay um.
„Was zum Teufel soll das?“
Delakay grinste Leach nur boshaft an.
„Merkwürdig das sie eben das Tor zur Hölle erwähnten, Mister Leach. Sagen sie, haben sie zufälligerweise die Beschwörungen ausprobiert die in diesem Buch niedergeschrieben sind?“
Leach blieb wie angewurzelt stehen. Ja, er hatte die Beschwörungen ausprobiert, er war immer schon an Okkultismus interessiert gewesen, daher wusste er auch soviel über H.P.Lovecraft. Aber seine Beschwörungen hatten keinen Erfolg erzielt, vermutlich weil es alles nur Hirngespinste waren, und dieses Buch war auch nichts anderes.
„Ich sehe das ich den Nagel auf den Kopf getroffen habe, nicht wahr Mister Leach?“
Leach schüttelte den Kopf.
„Oh, natürlich haben sie es ausprobiert, aber es hat nicht funktioniert. Und wissen sie auch warum es nicht funktioniert hat? Weil Lovecraft wusste das leichtgläubige Menschen wie sie ausprobieren würden was hier drin steht, und deshalb hat er elementare Dinge weggelassen.“
„Wovon zum Teufel reden sie da überhaupt, Mann?“
„Ich habe sie ausgewählt, Mister Leach, mir dieses Buch zu beschaffen weil ich der Meinung war sie würden an die Existenz des Buches glauben, aber scheinbar habe ich mich geirrt. Sie sind nichts weiter als ein Mitläufer. Schade, wirklich schade. Dabei hatte ich gedacht das der Tod ihrer Schwester etwas in ihnen geweckt hätte das mir hilfreich sein könnte. Ich habe mich offenbar geirrt.“
Leach stockte der Atem.
„Meine Schwester? Aber sie ist seit...“
„Ja, ich weiß, Mister Leach. Es ist lange her, aber sie haben es offenbar immer noch nicht verkraftet, oder wie sollte ich es mir sonst erklären das sie sich ständig mit irgendwelchen Scharlatanen treffen um Seancen abzuhalten?“
„Woher wissen sie das?“
„Oh, ich weiß so einiges über sie, aber in manchen Dingen habe ich mich getäuscht. Ich werde offenbar wirklich alt.“
„Ich will auf der Stelle wissen woher sie diese ganzen Informationen über mich herhaben, Monsieur Delakay.“
„Sie wollen? Sie wollen immer nur, Mister Leach. Sie wollen wissen warum ihre Schwester sterben musst, sie wollen sie zurück haben, obwohl es absolut unmöglich ist. Sie wollen 100.000 Euro für ein Buch das sie für nicht einmal 50 Euro im Internet ersteigert haben, und sie wollen das Tor ins Jenseits öffnen, ganz gleich was es kosten mag. Wissen sie was, Mister Leach, ich kann ihnen all das geben was sie wollen. Aber dafür will ich auch etwas. Und was das ist, das wissen sie. Ich will das Necronomicon.“
Leach begann zu weinen. Woher wusste dieser verdammte Kerl so viel über ihn?
„Ich sagte ihnen doch, das ist das Necronomicon.“
„Da müssen sie sich schon etwas mehr Mühe geben. Sie wissen doch selbst das dies hier nur Opium fürs Volk ist.“
„Es existiert kein anderes. Es hat niemals ein anderes existiert.“
„Dort Archy, das hat es wohl.“
Die Stimme kam aus einer dunklen Ecke des Raumes, jener Ecke in der die ältesten der Bücher zu stehen schienen. Und es war eine weibliche Stimme. Leach kannte sie. Beinahe blieb ihm das Herz stehen als er die Stimme vernahm. Sie gehörte zu seiner Schwester, seiner toten Schwester.
„Sandy?“
„Tu was er dir sagt, Archy. Bring ihm das Necronomicon. Dann können wir für immer zusammen sein.“ So angestrengt Leach auch in die Dunkelheit starrte aus der die vertraute Stimme zu kommen schien, er konnte nichts erkennen. Delakay saß in seinem Sessel und grinste ihn böse an.
„Was soll dieses Theater? Wie haben sie das gemacht?“
„Was denn bitte?“
„Hören sie sofort damit auf!“ brüllte Leach. Delakay erhob sich ganz langsam aus seinem Sessel und schlenderte auf Leach zu, der mittlerweile beide Hände auf seine Ohren presste.
„Ich weiß nicht wovon sie reden, Mister Leach, aber ich kann es mir denken. Ihr Verstand scheint darunter zu leiden was ich ihnen gesagt habe, nicht wahr?“
„Was denn?“ fragte Leach mit weinerlicher Stimme.
„Sie haben alles für Hirngespinste gehalten, alles was Lovecraft in seinen Geschichten geschrieben hat, alles was sie über das Necronomicon gehört haben. Und nun erfahren sie hier das es dieses Buch gibt. Diese Tatsache scheint ihren Geist zu verwirren, mein Lieber.“
„Blödsinn, das ist alles Blödsinn!“, brüllte Leach.
„Warum sagst du das, Archy?“ Es war ganz eindeutig die Stimme seiner verstorbenen Schwester.
„Hören Sie damit auf, oder ich...“ brüllte Leach.
„... oder was, Mister Leach? Wollen sie mir etwa drohen?“
„Es existiert kein Necronomicon!“ Leachs Stimme überschlug sich fast. Wut und Trauer vermischten sich zu einem Wechselbad der Gefühle, und seine Stimme spiegelte dies wieder.
„Alles was Lovecraft geschrieben hat ist wahr, Mister Leach. Es ist schwer zu glauben, aber es ist so. Nicht wahr, meine Liebste?“
„Ja, Vincent“, stimmte ihm die Stimme von Leachs Schwester bei.
„Was haben sie mit meiner Schwester gemacht, Monsieur Delakay.“
Delakay hob entschuldigend die Hände in die Höhe.
„Oh, überhaupt nichts. Warum sollte ich?“
„Wo ist sie?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung.“
„Sie lügen!“ Leach schrie Delakay aus voller Brust an, dann griff er in seine Jacke, riss seine Waffe, einen alten 6Schuss Trommelrevolver, hervor, und richtete ihn auf Delakay. Dieser lächelte besänftigend und schüttelte den Kopf.
„Was soll das, Archibald, jetzt bedrohen sie mich ja doch. Glauben sie etwa das sie auf diese Art ihre Schwester zurückbekommen? Oder ihren gesunden Verstand? Ich versichere ihnen, beides werden sie nie wiederbekommen. Es ist zu spät. Ihre Schwester weilt nicht mehr unter den Lebenden, und ihr Verstand hat sich in dem Moment verabschiedet in dem sie diesen Raum betreten haben.“
„Nein. Das ist nicht wahr. Verdammter Hurensohn!“ Leach feuerte alle Kugeln seiner Waffe auf Delakay ab. Mit geschlossenen Augen zog er immer und immer wieder den Abzug, bis der Schlagbolzen auf leere Hülsen schlug und klackte. Als Leach die Augen wieder öffnete und der Nebel sich verzogen hatte, suchte er nach Delakay. Er war verschwunden.
„Das war nicht nett von ihnen, Archibald. Wirklich nicht!“ Delakays Stimme kam von der Tür her, also stand er hinter Leach. Doch als diese Worte erklangen packte eine stählerne Hand nach Leachs Armgelenk und drückte so fest zu das Leach die Waffe fallen ließ. Nun kam Delakay um ihn herum und blieb vor ihm stehen.
„Sie haben mir ihrem Spielzeug einige meiner wertvollen Bücher beschädigt, Leach. Das kann ich ihnen vielleicht noch verzeihen. Aber das sie mich umbringen wollten, das werte ich als einen Akt der Aggression. Ich habe ihnen nicht das Geringste angetan, und sie feuern, als Gast in meinem Hause, eine Waffe auf mich ab. Das kann ich nicht tolerieren. Ich werde dafür sorgen das man sie wegsperrt.“
„Wie hast du das gemacht?“
„Ich hatte Glück und war schnell. Das ist alles, Mister Leach.“
Leach schüttelte den Kopf. „Du müsstest Tod sein, verdammter Drecksack.“
„Wenn ich das wäre, Mister Leach, dann würde man sie aufhängen. Haben sie daran schon einmal gedacht. Seien sie froh das ich noch lebe. So wird man sie nur einsperren, obgleich ich annehmen möchte das der Tod ihnen lieber wäre, angesichts der Aussicht ihr Dasein in einer Irrenanstalt zu fristen.“
Leach schüttelte ungläubig den Kopf.
„Hängen? Wir leben im 21.Jahrhundert. Hier wird niemand mehr gehängt.“
„Ich weiß nicht wovon sie reden, Sir, aber das abfeuern einer Waffe auf einen Menschen, ein Mordversuch also, der wird hier mit dem Tode bestraft.“
„In welcher Zeit leben sie, Monsieur Delakay?“
„Diese Frage könnte ich ihnen stellen, Sir.“
Plötzlich hörte Leach das trillern von Pfeifen in den Straßen, dicht gefolgt von Hufgetrappel. Auch das Licht, das durch die Fenster fiel, schien von Petroleumlampen zu stammen.
„Sie verstehen noch immer nicht, oder? Als sie hier hereingekommen sind, da haben sie sich doch umgesehen. Und ihr Blick ist an einem bestimmten Buch hängen geblieben. Es hat sie fasziniert, nicht wahr? Na los, bedienen sie sich. Sehen sie sich das Werk ruhig etwas genauer an, ihr Verstand wird ohnehin nicht mehr das was er einmal war.“
Wie hypnotisiert wankte Leach auf das Bücherregal zu. Er fand das Buch sofort, denn es schien seinen Blick wie magnetisch anzuziehen. Er zitterte als er es aus dem Regal herausnahm und öffnete. Dort waren keine Buchstaben die Leach kannte, aber dennoch schien er alles zu verstehen. Die merkwürdigen Zeichen und Symbole schienen sich wie Schlangen auf der Seite zu bewegen. Leach wollte wegsehen, war aber nicht in der Lage seinen Blick von den sich bewegenden Symbolen zu nehmen. Nach wenigen Sekunden brüllte Delakay ein Wort das Leach nur als lautes Geräusch wahrnahm, daraufhin schloss sich das Buch, flog quer durch die Luft auf Delakay zu und landete in seiner ausgestreckten Hand. Delakay lächelte.
„Nun wissen sie warum ich so sicher sein kann dass das Necronomicon existiert. Dies ist die Abschrift die einst Mister Lovecraft gehörte. Sie ist sehr unvollständig, aber selbst diese Abschrift, die offenbar nicht einmal einen Bruchteil des Originals enthält, birgt mehr Macht als sie es sich jemals vorstellen könnten.“
Ungläubig schüttelte Leach den Kopf.
„Wo ist meine Schwester?“
„Ich sagte ihnen bereits, ich weiß es nicht.“
„Sie haben eben mir ihr gesprochen.“
„Wie bitte? Ich soll mit ihr gesprochen haben? Sehen sie hier vielleicht noch jemanden?“
Delakay ging an dem wie angewurzelt dastehenden Leach vorbei und stellte das Buch wieder zurück an seinen Platz.
„Mister Leach. Ich glaube ihnen ist nicht ganz wohl. Sie sind ganz bleich.“
„Das Buch. Ich werde es für sie finden.“
„Ich weiß nicht wovon sie sprechen, Mister Leach.“
Dann schien es als würde eine Welt zusammenbrechen.

Leach blickte sich um. Er lag auf dem Boden, noch immer in der Bibliothek, aber seine Arme schienen festgeschnallt zu sein. Dann bemerkte er es. Er steckte in einer Zwangsjacke, seine Arme waren auf dem Rücken zusammengebunden.. Ein grelles Licht blendete ihn. Zwei merkwürdige Gestalten beugten sich über ihn, kräftige Männer mit Oberarmen die dicker waren als Leachs Schenkel. Sie trugen weiße Kittel. Etwas weiter weg von ihnen stand Delakay mit zwei Männern, offenbar Polizisten, doch sie trugen karierte Mäntel, und überhaupt schienen sie als wären sie aus dem vorletzten Jahrhundert entsprungen. Er versuchte zu hören was die Männer tuschelten.
„Also, Mister Delakay, er stand einfach vor ihrer Tür, bat um Einlass und feuerte dann einfach auf sie? Ich verstehe noch nicht warum sie ihn eingelassen haben, mitten in der Nacht.“
„Inspektor, es regnete in Strömen, und an seiner zerlumpten Gestalt erkennen sie sicherlich gleich das es sich um einen armen Teufel handelte der Hunger hat. Ich wollte ihm ein Mahl bereiten und ein Quartier für die Nacht geben. Aber er schien von der tollen Idee besessen zu sein das ich seine Schwester entführt hatte.“
„Na ja, wenn wir erst einmal herausgefunden haben wer er ist, dann werden wir uns wieder bei ihnen melden.“
Leach schrie: ;Ich bin Archibald Theodor Leach, jeder hier kennt mich. Ich wurde 1965 geboren und habe von 1984 bis 1997 bei der Royal Navy gedient. Bitte, lassen sie mich los. Dieser Mann ist ein Verbrecher. Die Bücher. Sehen sie sich die Bücher an.“
„Da sehen sie es, Inspektor. Wahnwitzig der Mann.“
Der linke der beiden Polizisten kam auf Leach zu und beugte sich über ihn.
„Wann, sagten sie doch gleich, wurden sie geboren?“
„1965.“
Der Inspektor nickte. „Wissen sie, in welchem Jahr wir uns befinden, Mister...?“
„Leach. Archibald Theodor Leach. 2004 haben wir.“
Der Inspektor schüttelte den Kopf. Dann nickte er den beiden Männern in weiß zu. Diese packten Leach unter den Schultern und hoben ihn auf die Beine.
„Die Bücher“, schrie Leach, „Sehen sie sich die Bücher an. Die Bücher sind Böse. Und dieser Mann ist ein Hexer, jawohl. Ein Hexer.“
„Mister Delakay ist ein angesehener Gentleman, Sir, und seine Bibliothek gehört zu den besten des ganzen Empires. Selbst Dr. Gull, der Leibarzt der Königin kommt ein ums andere Mal her um sich Werke anzusehen, von Böse kann da dann wohl kaum eine Rede sein. Sie sollten besser froh sein das Mister Delakay keine Anzeige gegen sie erstattet hat. Ein Hexer, eine Unverschämtheit ist das, jawohl. Wenn überhaupt, dann sind sie ein Hexer, Mister Leach. Denn immerhin werden sie erst in 77 Jahren geboren. Führt ihn ab, Männer. Er ist zweifellos geisteskrank.“
Während die Pfleger Leach packten und aus dem Zimmer führten wand der Inspektor sich wieder an Delakay.
„Sie haben vollkommen recht gehabt, Mister Delakay. Sie können von Glück reden das er sie nicht getötet hat. Wollen sie nicht doch Anzeige erstatten, sie haben selbst gehört was er über sie sagte.“
„Vielen Dank, Inspektor. Sie haben mir wirklich schon genug geholfen. Diese arme Kreatur ist krank, nichts weiter. Und durch ihr schnelles Erscheinen konnte ja ohnehin schlimmeres vermieden werden.“
„Dafür ist Scotland Yard doch da, Mister Delakay. Wenn es mehr so gutherzige Menschen wie sie geben würde, dann wäre die Welt ein wenig besser. Aber sie täten gut daran wenn sie demnächst nicht so leichtsinnig wären und einen Wildfremden in ihr Haus ließen.“
„Sicherlich haben sie Recht, Inspektor, ich habe ein zu weiches Herz. Darf ich fragen wohin sie den armen Teufel denn überhaupt bringen?.“
„Er wird in die städtische Heilanstalt von Dr. Lewellin gebracht.“
„Dr. Lewellin, hm? Sicherlich, ein Mann von tadellosem Ruf. Aber ich denke er wird ihm nicht helfen können. Ich schlage vor sie bringen ihn ins Arkham Asylum. Das ist die beste Nervenheilanstalt die es weit und breit gibt.“
„Ja, das mag sein, aber das ist, soweit mir bekannt ist, eine private Anstalt.“
„Natürlich, aber dort ist er sicherlich besser aufgehoben. Bestellen sie Direktor Maillard einen schönen Gruß von mir. Sicherlich wird man den armen Teufel dort aufnehmen, Direktor Maillard ist ein guter Freund von mir. Um die Kosten werde ich mich schon kümmern.“
Der Polizist lächelte. „Mister Delakay, nimmt ihre Güte denn überhaupt kein Ende?“
Leach wusste nicht mehr was geschehen war. Er sah nur Delakays diabolisch kaltes Lächeln als die Pfleger ihn packten und aus dem Raum hinaus führten.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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