Volker Winkler

Das Gesicht

Packow lief die Straße entlang. Er hatte einen neuen Job bekommen. Gerade hatte es ihm eine öffentliche Toilette gesagt.
Ein Toilette? Ja ! Eine dieser neuartigen Toiletten mit automatischer Identitätserkennung. Eine dieser Toiletten, in der man nicht einfach sein Geschäft verrichtet, sondern über sämtliche einen selbst betreffende Entscheidungen von Bundesämtern, dem Gesetzgeber, ja sogar des Zahnarztes oder des eigenen Steuerberaters unterrichtet wird, ganz automatisch; ziemlich praktisch. Packow hatte einen leichten Schritt. Seine Baskenmütze, die er seit einem dienstlichen Aufenthalt in Frankreich immer trug, war tief in den Nacken gerutscht und seine Augen sprühten fast vor Euphorie - endlich Arbeit! Es lebe die sprechende Toilette. Sie hatte ihn an seinem Gesicht erkannt, das muß man sich mal vorstellen, an seinem Gesicht.
„Herzlich Willkommen Herr Milano“ hatte sie ihn begrüßt als er die Tür verschloß. „Das Papier finden sie an der rechten Wand des Raumes. Suchen sie den Aschenbecher, so klappen sie bitte an der linken Wand den Metalldeckel nach unten. “ tönte leicht blechern aus einem Lautsprecher über der Tür eine weibliche Stimme, als er seine Hosen herunter ließ und sich auf die Brille der Toilette setzte. Und dann kam es: „Sie haben 3 Nachrichten in ihrem persönlichen Nachrichtennetz. Möchten sie diese jetzt abrufen.“ Das war nichts neues, er machte das immer so. Schon seit einem Jahr wurde dieses System eingesetzt und seitdem von immer mehr Menschen genutzt. Seitdem auch Terminals auf Straßen, in Einkaufszentren und in öffentlichen Einrichtungen zu finden waren, boomte das Geschäft mit dem ‚Personality-News-Server’.
„Ja“ antwortete Packow und hörte mit einem Ohr der blechernen Stimme des Nachrichtenservers zu.
„Zahnarztpraxis Holzmann, die Zahnarztpraxis ihres Vertrauens, möchte sie darauf aufmerksam machen, daß am Dienstag, den 14. August 2007 um 8:00 Uhr ein Termin bei Dr. Holzmann ins Haus steht. - PIEP - Bei Aldi gibt es wieder Top-Sonderangebote. Nie waren 3D-Fernsehgeräte so günstig. Nur 998 Euro, und sie holen sich die neue Welt des Hologrammfernsehens zu sich nach Hause. Das Angebot gilt ab 13. August solange der Vorrat reicht. Schlagen sie jetzt zu!“ Packow verdrehte die Augen - Werbung, er haßte es. Vieles hatte sich in den letzten Jahren gewandelt, doch manche Dinge ändern sich nie. - PIEP -
„Herr Milano, es folgt nun eine Nachricht ihres persönlichen Arbeitsamtberaters.“ Die weibliche Stimme brach ab. Packow hörte einige Störgeräusche, dann erklang das vertraute Brummeln seines Ansprechpartners vom Arbeitsamt. „Guten Tag Herr Milano, es ist geschafft. Ich habe einen neuen Arbeitsplatz für sie gefunden. Ich habe schon alles für sie arrangiert. Erscheinen sie am Montag pünktlich um 9:00 in der Anwaltskanzlei Altstedt am Sterntorplatz 12 in Nürnberg. Ich habe sämtliche Änderungen in ihrem ID-Profil schon in Auftrag gegeben. Herr Milano, ab Montag sind sie Anwaltsgehilfe, Herzlichen Glückwunsch.“
Am liebsten wäre er aufgesprungen, hätte im Kreis getanzt, die ganze Welt umarmt und seine Freude in die ganze große Welt hinaus geschrieen - wenn er nicht auf dem Klo gesessen hätte.
Er begnügte sich mit einem Grinsen über das ganze Gesicht und einem Freudengluckser, der ihn zu höchster Glückseligkeit animierte.
War es nicht toll. Die Technik konnte wundervolles vollbringen. Angespannt geht man auf die Toilette und als der glücklichste Mensch der Welt verläßt man die Kabine. Packow mußte noch breiter grinsen.
Doch gleichzeitig hatte diese Technologie noch andere Vorteile. Erst gestern hatte Packow seine Kreditkarte zu Hause liegen lassen. Ein Blick in eine Kamera - ein Piep - und das Geld für seinen Einkauf wurde automatisch von seinem Konto abgebucht. Auch die lästigen Bustickets wurden längst ersetzt. Jeder wurde beim Betreten des Busses einfach gescannt - Piep - und das Geld direkt vom Konto abgebucht. Einkaufen konnte so einfach sein.
Selbst seine Großmutter, die nichts von Technik unseres Zeitalters hielt, konnte sich damit anfreunden, nie mehr im Portemonnaie wühlen, nie mehr das eingekaufte an der Tasche stehen lassen, weil wieder einmal die EC-Karte auf dem heimischen Küchentisch vergessen wurde, nie mehr lästige Schlangen an Kaufhauskassen, einfach durch den Ausgang gehen - Piep - Waren gescannt - Piep - Gesicht gescannt - und schon war der Einkauf abgeschlossen. Genial einfach - einfach genial. Packow liebte diese Welt. Diese Welt, in der alles so einfach zu sein schien.
Nun war der Tag gekommen. Der Wecker klingelte pünktlich halb 8. Schon stand Packow in der Küche und suchte etwas eßbares. Sein Kühlschrank sprach ihn nicht an, doch den Tag ließ er sich dadurch nicht vermiesen. Vielleicht lag ja Staub auf der Linse des Gesichtssensors, oder das blöde Ding ist wiedermal kaputt. Doch jetzt würde er sich nicht damit befassen.
Nach längerer Suche stellte Packow fest, daß seine eßbaren Vorräte sich übers Wochenende derart erschöpft haben, daß er nun gezwungen war mit hungrigem Magen seinen ersten Arbeitstag anzutreten.
Frohen Mutes betrat er die Straße vor seinem Haus und schlenderte langsam zur Bushaltestelle. Eine alte Frau fiel ihm auf, etwa 25 Meter vor ihm blieb sie plötzlich stehen, sah auf das Display ihres Armcomputers, dann in seine Richtung, und lief eilig auf die andere Straßenseite, immer mit einem argwöhnischen Blick in Packows Richtung. Er machte sich nichts draus.
Einige Sekunden stockte Packow. Ein Mann mittleren Alters ging an ihm vorbei und er musterte ihn mit gefährlichem Blick von unten bis oben. Was war in die Leute gefahren. Packow sah dem Mann hinterher, doch dieser verschwand soeben hinter der nächsten Straßenecke. Packow blieb stehen und sah sich um. Wieder sah er eine Person die Straßenseite wechseln. Tat sie das wegen ihm? Er beschloß, es herauszufinden und ging ebenfalls über die Straße.
Da! Die Person blieb verunsichert stehen und blickte sich nervös um. Dann hellte sich das Gesicht der jungen Frau erleichtert auf, und sie verschwand in einem Laden für Herrenunterwäsche.
Als er dem Geschäft näher kam, trat ein dicker Mann in die Tür des Ladens und baute sich demonstrativ mitten im Eingang auf und sah Packow mit einem Blick an, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Soviel Haß konnte Packow nicht ertragen, was war in die Leute gefahren? Sie haßten ihn - Warum? Jeder Blick, jede Geste, jede noch so klein Bewegung schien ihn zutiefst beleidigen zu wollen. Er erschauderte. Schnell lief er weiter, vorbei an drohenden Menschen, an bösen Blicken, die ihn von vorn, von hinten, von links und rechts durchbohrten wie spitze, vergiftete Pfeile. Längst achtete er nicht mehr auf die Menschen im einzelnen. Er fühlte sich wie ein giftversprühendes wildes Tier. Alles was laufen konnte, ging ihm aus dem Weg. Jeder schien sich bedroht zu fühlen. Packow lief es eiskalt den Rücken herunter. Vor ihm lag eine Einkaufspassage. Er lief darauf zu, wollte sich in seinem Stamm-Café abreagieren.
„Herr Milano, sie haben hier leider keinen Zutritt!“ ein eiskalter Sturm stemmte sich ihm entgegen. Er fror. Von allen Seiten schien es kälter und kälter zu werden, obwohl die Sonne ihre starken Sommerstrahlen zur Erde sandte und einen heißen Sommertag versprach. Er lief weiter. Eine Toilette - er ging, fast rennend, auf sie zu und betrat sie. Hektisch verschloß er hinter sich die Kabinentür - Ruhe! - „Herzlich Willkommen, Herr Rubbingham“ Packow zuckte zusammen. „Das Papier finden sie an der rechten Wand des Raumes. Suchen sie den Aschenbecher, so klappen sie bitte an der linken Wand den Metalldeckel nach unten. “ Stocksteif stand er da und starrte auf den Lautsprecher.
„Sie haben 2 Nachrichten in ihrem persönlichen Nachrichtennetz. Möchten sie diese jetzt abrufen?“ Packow antwortete nicht. Wer ist Herr Rubbingham? Er schluckte hart. Gedanken huschten durch sein Hirn. Verzweifelt versuchte er Erklärungen für die Vorgänge zu finden.
„Äh ... Ja“ kam es zögernd und leise aus seinem Mund. Er zitterte am ganzen Körper. Seine Unterlippe zuckte unkontrolliert.
„Das Bundesjustizministerium empfiehlt ihnen dringend, sich bei der nächsten Polizeidienststelle zu melden, da ihnen im Falle der Selbststellung für den Ausbruch aus der Justizvollzugsanstalt Erlangen Strafminderung versprochen wird.“ - PIEP - „Es folgt eine Nachricht ihres Anwaltes:“ es krächzte im Lautsprecher und Packow öffnete um Luft ringend den Mund. Eine aufgeregte männliche Stimme erklang.
„Hey Ruby, sie sollten sich sofort stellen, sonst siehts für ihr Wiederaufnahmeverfahren für den Mord an ihrer Mutter ganz schlecht aus. Wollen sie etwa die restlichen 10 Jahre auch noch absitzen?“ Er schrie förmlich in das Mikrofon und Packow standen die Haare zu Berge.
Hastig holte er sein Armdisplay aus einer Hosentasche, sah kurz in den Sensor und forderte die Informationen zu seiner Person ab: Bert Rubbingham - zu 15 Jahren Haft verurteilt wegen Mordes, 5 Jahre abgesessen - gegenwärtiger Wohnort: unbekannt - gegenwärtiger Status: auf der Flucht - besondere Hinweise: ACHTUNG! Sehr gewalttätig!
Sein Puls befand sich im Grenzbereich. Er hatte Angst, schreckliche Angst. War er jetzt Rubbingham - nur weil eine Maschine es so sagte?
„Möchten sie sich jetzt stellen so antworten sie mit ‚JA’ , wollen sie das nicht antworten sie mit ‚NEIN’ “ Packow heulte vor Verzweiflung auf.
„NEIN!“ brüllte er in die eingetretene Stille. Seine Stimme brach. Schweiß schoß ihm aus allen Poren.
Hysterisch rüttelte er an der Tür der Toilette, wie ein wildes Tier, daß in eine Falle getappt war. Mit einem metallischen Geräusch öffnete sich das Schloß.
„Vielen Dank für ihren Besuch, Herr Rubbingham.“ Verabschiedete sich die Toilette, noch ehe Packow von einer großen Faust niedergeschlagen auf dem Boden landete.
„Ich habe nichts getan, mein Name ist Packow, Packow Milano - MIE - LAA - NOO“ er schrie, er heulte, er bettelte und klammerte sich an den Steinplatten des Bodens fest.
Abfällig blickte ihn der Polizist an. „Na das beweisen sie mal. Das System sagt, sie sind der Schwerverbrecher Bert Rubbingham und obendrein auf der Flucht. “ Die Handschellen klackten. „Sie sind festgenommen und werden unverzüglich wieder in Sicherheitsgewahrsam genommen.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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