Volker Hofmann

Leben erleben

Das Brodtener Steilufer bei Travemünde ist eigentlich nur wenig mehr als ein großer, auf der Oberseite ebener Erdhaufen, ein Teil des Ufers der Lübecker Bucht, der von der Erosion mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht wird. Unten nagt die Ostsee, von oben schwemmt der Regen die recht lockere Erde, die nur von einer Grasnarbe und einigen lichten Wäldchen bedeckt ist, in die See. Nichts besonderes, vom ersten Eindruck her angesiedelt irgendwo zwischen dem Raunheimer Baggersee (bei Rüsselsheim) und den Klippen von Dover. Aber ein Stück Landschaft von eigentümlichem Reiz.
Das Steilufer mag, vertikal gemessen vom schmalen Strand bis zur oberen Ebene, etwa fünfzehn Meter hoch sein, vielleicht ein wenig mehr.
Wir liefen erst am Strand, dann nach einem fast alpin anmutenden Aufstieg oben das Ufer entlang. Ein leichter Wind vom Land zur See ließ einen Gleitschirmflieger immer gerade so viel Höhe gewinnen, wie er beim Wenden vor dem Wäldchen wieder verlor - ein grotesk zwecklos anmutendes Spiel in der Luft. Am blauen wolkenlosen Himmel die Kondensstreifen der Linienflugzeuge, blendend weiße Striche als Zeichen (sinnvoller?) menschlicher Erfindungsgabe.
Auf dem Weg durch eines der Wäldchen, einige Meter vom bröckeligen Rand zum Meer entfernt. Leises Rauschen, dezentes Krachen, splitterndes Gräusch, ein dumpfer Aufprall. Der Wind trägt den Schall von uns weg, sanft und dezent wirkt das, was mein Ohr erreicht. Ein Baum, weit über zehn Meter hoch, war zum Strand umgestürzt.
Ich verlasse den Weg, durch dürres blattloses Gestrüpp, trete an die Kante. Da liegt der Baum "kopfüber", ein mehr als zwei Meter durchmessender flacher Wurzelballen folgt den Kräften der Gravitation, rutscht über die nasse Erde nach unten, eine leichte Brandung umspült die brechenden Äste, die vor einigen Sekunden noch zum Himmel zeigten.
Die Augen sehen ein Bild, das so normal und friedlich wirkt, unscheinbar fast und doch beeindruckend. Der Verstand begreift nur langsam, daß hier einige Tonnen Holz und Erde, für uns so oft Sinnbild von Standhaftigkeit und Dauerhaftigkeit, einfach umgekippt sind. Armdicke Wurzeln, zäh und widerstandsfähig, abgerissen wie Fäden einer schlechten Naht.
Scheinbar in Zeitlupe rutscht der massive Stamm zentimeterweise weiter abwärts, geschoben vom eigenen Gewicht und dem Druck des Wurzelballens, denen die Äste der auf dem Strand und im Wasser liegenden ehemaligen Spitze nicht standhalten können. Begleitet wird das von einem langgezogenen Knacken, das aber im Rauschen der Wellen fast untergeht.
Wo der Baum gestanden hatte ist ein Loch im Boden, die eine Seite zum Hang hin offen, als hätte jemand einen gewaltigen Löffel hier reingeschoben und die Erde damit weggenommen.
Der Baum war gesund, der Stamm und die dicken Äste hatten die Belastung durch den Sturz überstanden, die Kräfte elastisch aufgefangen. Aber der Boden trug ihn nicht mehr. Wetter und Zeit hatten da gewirkt, wo der Baum dieser Wirkung nichts entgegen zu setzen hatte, mochte der Stamm noch so dick und das Holz noch so stabil sein.
Mich berührt diese Situation, ich fühle, daß ich es verstehe. Physisch gesund, vielleicht auf die Wärme des nahenden Frühlings wartend, aber der Basis beraubt. Jetzt genügte der schwache Wind, diesen Koloß umzukippen. Wie viele Stürme hatte der Baum im Lauf der Jahrzehnte überstanden? Wieviel Frost, Trockenheit und Hitze? Spürt ein Baum Schmerz? Er hat nun alle Stürme überstanden, Frost und Hitze spielen keine Rolle mehr.
Möglicherweise kommen Menschen und räumen auf, vielleicht eine Wiedergeburt in Form einiger tausend Rollen Klopapier. Oder die Natur kümmert sich darum, dann dauerts etwas länger.
Was haben wir mit den Bäumen gemeinsam?

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Volker Hofmann).
Der Beitrag wurde von Volker Hofmann auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.02.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Volker Hofmann

  Volker Hofmann als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Der Dämon und das Bauernmädchen | Erotischer Roman von Doris E. M. Bulenda



»Ich werde ein Engerl für euch rufen. Das wird über euch wachen, wenn ihr beieinanderliegt. Und den Samen vom Hans in die Agnes pflanzen. Dann wird das hübsche Mädchen bald guter Hoffnung sein.« Mit einem Kind wollen das junge Bauernmädchen und ihr Geliebter ihre Heirat erzwingen. Aber die Beschwörung geht schief, ein dunkler Dämon erscheint und entführt Agnes in seine Welt. Doch statt Angst und Schrecken erfährt Agnes ein wildes Feuerwerk der Leidenschaft, denn ihr dämonischer Gebieter ist ein wahrer Meister des Liebesspiels. Mit dem festen Vorsatz, das Bauernmädchen für sich zu gewinnen, greift er zu allen Tricks der lustvollen Verführung, wobei ihm seine ausgeprägte dämonische Anatomie zugutekommt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Volker Hofmann

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Gottlieb Klöppel - das Portrait eines unbekannten Menschen von Volker Hofmann (Skurriles)
Für die lieben Frauen von Uli Garschagen (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Es menschelt in Manhattan von Rainer Tiemann (Zwischenmenschliches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen