Gaby Schumacher

Reechtschreiprephorm für Schildbürger

Es passierte passend zur Jahreszeit.
Der Sommer, die Saison der Wärme, des pulsierenden Lebens voller Leichtigkeit und Frohsinns, neigte sich seinem Ende zu. Die Tage, früher erhellt von gleißendem Sonnenschein, wurden trüber; nachdenklicher die Menschen. Wandten sich, von der nunmehr eher melancholischen Stimmung in der Natur rings um sie her beeinflusst, wieder den alltäglichen Problemen zu, beschäftigten sich konzentrierter mit Fragen allgemeiner Gewichtigkeit.
Auch in Schilda endete allmählich das unbeschwerte Treiben. Anderes rückte in den Vordergrund. Vor allem in diesem Jahr. Und zwar ganz extrem. Versetzte die ganze Stadt in Aufruhr. Brachte die alte Ordnung in einer Weise durcheinander, wie es sich ihre Bewohner niemals je vorgestellt hätten. All die Jahre zuvor hatten sie sich keinen Deut um das gesorgt, was jetzt ihre Herzen verunsicherte. Was alle anderen Gesprächsthemen abwürgte, zu einer einzigen, aufwühlenden Diskussion führte. Ein Wort stand im Raum, das dann in jenen Tagen alle in den Bann zog. Fragen aufwirbelte, selbst des Nachts den Bürgern von Schilda den Schlaf raubte. Einer der Ihren war von einer Fahrt in die Nachbarstadt zurück gekehrt, ohne erahnen zu können, welche Unruhe er mit seinem Reisebericht in seine Heimatstadt brächte. Er mit diesem einen Wort die alltägliche Gelassenheit zum Tode verurteilte:
Rechtschreibreform! Rechtschreibreform?
Hääh?? Keinen blassen Schimmer, was das bedeutete. Und doch dirigierte dieses Wort von einem Tag auf den anderen ihr ganzes Denken.
„So darf das nicht weitergehen!“ murmelte der Schultheiß dieser Stadt vor sich hin und orderte rasch, ebenfalls von einem Tag auf den anderen, eine Versammlung sämtlicher Bürger von Schilda. Sie müssten das Geheimnis lüften, bevor dieses unbekannten Begriffes wegen wohlmöglich noch Panik ausbräche. Von Aufregung und in gleichem Maße Neugier getrieben, strömten aus allen Statteilen die Leute zusammen. Schnatterten in gehöriger Lautstärke aufgeregt durcheinander und waren nur schwer zu beruhigen. Der Schultheiß von Schilda setzte eine dem Anlass entsprechend wichtige Miene auf und begann seine Ansprache: „Uns ist zu Ohren gekommen, dass sich vieles ändern soll. Da wird in einer unserer Nachbarstädte ein äußerst bedeutendes Treffen stattfinden. Auf jener Konferenz geht es dann um die sog. Rechtschreibreform.“ Verständnislose Blicke, andächtig aufmerksames Gemurmel ringsum. Recht..schreib..reform? Was immer das in Gottes Namen auch wäre, man bezeugte Interesse. Zudem: Ahnungslosigkeit quälte.
Allgemeines Rätselraten.
„Hat jemand,“ fuhr der Schultheiß fort, „eventuell eine vage Idee, was darunter zu verstehen wäre?“ Nein, davon hatte man noch nie gehört. Aber die Bürger von Schilda waren ja besonders schlaue Leute. Und als solche bekannt. Und nicht bereit, diesen ihren Ruf aufs Spiel zu setzen. Also überlegten sie gemeinsam: „Ist das denn sicher,“ warf der Bäcker zögerlich ein, „dass das nicht „Vonrechtsschreibreform“ heißt?“ Da der Bäcker ja normalerweise nur kleine Brötchen buk, kam dieser Einwand relativ schüchtern. Doch, unter „Vonrechtsschreibreform“ hätte er sich immerhin noch in etwa etwas vorstellen können. Vielleicht müsste er in Zukunft seine Brötchen anstatt, der bisher üblichen Ausrichtung entsprechend, wie eben auch beim Schreiben, von links nach rechts auf dem Backblech von rechts nach links anordnen? Die Umstehenden, froh, dass er sie mit seiner so spontanen Wortmeldung vor der für sie äußerst peinlichen Lage bewahrt hatte, zugeben zu müssen, dass sie, was dieses brisante Thema anginge, total im Dunkeln tappten, klatschten erleichtert emsig Beifall. Gottlob erführe so das dann keiner. Zumal sie doch, wie wir inzwischen wissen, zu den klügsten Leuten weit und breit zählten. Oh, wie beschämend! Währenddessen sonnte sich der Bäcker, verblüfft über sich selber, in dem trügerischen Schein, etwas anscheinend sehr Kluges zur allgemeinen Diskussion beigetragen zu haben. Alles blickte auf ihren Schultheiß, den angeblich klügsten Manne von Schilda. Die Leute waren gespannt auf dessen Reaktion. Egal, welche Meinung er zu des Bäckers Bemerkung kund täte...sie schlössen sich ihr an, damit auch sie als überaus klug gälten. Des Schultheiß Blick aber verhieß keine Zustimmung, sondern konzentrierte Überlegung. Atemlos wartete die Menge auf seine Erwiderung.
„Nehmt es mir nicht übel, aber das(!) meinte unser Reisender wohl nicht...ehem.“ Er furchte seine Denkerstirn. „Leute,“ ergänzte er dann sichtlich verlegen, „fällt euch vielleicht ein ähnliches Wort ein, dass er gesagt haben könnte?“ Der Schulmeister meldete sich. „Ich denke, ihr Bürger von Schilda, es könnte sich ebenso um „Schreibrechtsrefom“ handeln. Ihr wisst, welchen Wert unsere Schule darauf legt, dass jedermann das Schreiben lernt. Ja, das wird`s sein. Bestimmt soll die Schreiblernpflicht nochmals in einem Gesetz dringlichst verankert werden.“ Auch das erschien den Bürgern von Schilda glaubhaft. Ja, wenn sie recht überlegten, sahen sie den Schulmeister eigentlich eher im Recht. Entsprechend begeisterter fiel der Beifall aus, den sich der Schulmeister scheinbar berechtigterweise gebauchpinselt hinter seine Ohren schrieb. Bereits ziemlich davon überzeugt, diese seine Überlegung sei des Rätsels Lösung. Strenggenommen wären sie mehr als zufrieden und beruhigt gewesen, hätte der Schultheiß einfach zugestimmt. Stattdessen stand da der wahrscheinlich klügste Mann ihrer Stadt vor ihnen und grübelte. Dachte nach und grübelte wieder. Diesmal intensiver. Fazit dieses angestrengten Nachdenkens:“ Leider, leider kann ich euch auch da nicht zustimmen!“ Deprimiertes Seufzen. Frust machte sich breit. „Och!“ Tönte es von allen Seiten. „Ja, aber ich neige zunehmends zu der Einsicht, dass es sich wohl doch um „Rechtschreibreform“ handelt!“ Getuschel und fragende Blicke ringsum. Enttäuschung bei Schulmeister und Bäcker. Doch die Neugierde und Spannung siegte, endlich Kenntnis davon zu bekommen, was es mit dieser Rechtschreibreform denn auf sich hätte.
Keiner wusste es zu formulieren. Alles Grübeln, alles Nachdenken bei rauchenden Köpfen führte zu keiner annehmbaren Erklärung. Unzufrieden nörgelten die Menschen vor sich hin. Immer wieder mit einem Blick auf ihren bis dato verehrten Schultheiß. Merkwürdig, von jenem überaus klugen Manne hätten sie mehr Klugheit erwartet. So also konnte man sich täuschen? Doch darüber noch länger nachzusinnen, hätte bedeutet, den Kopfschmerzen, die sich des allzu intensiven Denkens wegen inzwischen eingestellt hatten, unnötige Nahrung zu bieten. So suchten sie gemeinsam nach einer Chance, ihre Unwissenheit ad acta zu legen. Der Blamage aus dem Weg zu gehen, als wider Erwarten unkluge Bürger einer dann wider Erwarten unklugen Stadt vor der Öffentlichkeit dazustehen.
Eigentlich gäbe es nur einen Ausweg aus diesem Dilemma, wollten sie sich nicht bis auf die Knochen blamieren. Ausgerechnet der Metzger, der sonst doch nur zwischen dummen Säuen und blöden Schweinen herum lief...ausgerechnet er kam auf den einzig fruchtbaren Gedanken, der allen Schildbürgern aus ihrer Verlegenheit helfen sollte. „Ich..ich hätte da eine Idee...!“ setzte er zaghaft an, denn er kannte ja seinen Ruf als einem nicht ganz so klugen Manne, „wenn ich den Vorschlag machen dürfte, dass es doch am besten wäre, wir schickten einen Abgesandten zu diesem bedeutenden Treffen. Der klärte uns dann auf, was es mit dieser Rechtschreibreform auf sich hat?!“ Ungläubige Blicke ob seiner für ihn ungewöhnlich langen Ausführung. Langsam wich der Unglauben einem offen zur Schau getragenen Staunen, dann sogar einer vagen Bewunderung in manchen Gesichtern. Befreit, dass einer von ihnen den Ruf der Bürger Schildas, enorm klug zu sein, gerettet hatte, jubelten sie los und feierten den Metzger, der gar nicht kapierte, wie ihm jetzt geschah, wie einen Helden. Immer schon hätten sie geahnt, dass stille Wasser tief wären, dass in ihrem Metzger ein unerkanntes Genie schlummerte. Soeben hatte er ihnen den Beweis dafür geliefert. Die Begeisterung schlug hohe Wogen.
Ja, das täten sie den wohl. Wieso war ihnen das nicht längst selbst eingefallen? Und...es ersparte ihnen weitere vergebliche Überlegungen in dieser Sache und dann in Folge die noch quälendere Bedrückung, vielleicht doch nicht ihrem Rufe gerecht zu werden.
Doch leider war es ihnen nicht vergönnt, sich in ihrem alten-neuen Image allzu lange zu sonnen. Denn sie hätten eine neue Entscheidung zu fällen. Einen Beschluss von enormer Tragweite. Der Leitfaden für weitere Aktivitäten baumelte zum Greifen nahe vor ihnen in der Luft. Allein, um ihn zu nutzen, bedurfte es Zielstrebigkeit. Und die bewiesen dann die Bürger von Schilda, indem sie sich letztendlich entschlossen, einen der Ihren zum Kundschafter zu bestimmen. Ihn auf die lange Reise in die Nachbarstadt zu schicken, damit ihre Wissbegier in Sachen „Rechtschreibreform“ endlich befriedigt würde. Die alte Unsicherheit bemächtigte sich der Bewohner von Schildau, nahm schleichend mehr und mehr von ihrem Verstande Besitz. Wer, bitteschön, wäre weise genug, diese wichtige Aufgabe zu übernehmen? Wer wäre fähig, die ihn erwartenden Informationen nicht nur zu verstehen, sondern zusätzlich richtig zu deuten. Und sie seinen Mitbürgern so zu erklären, so dass selbst der Bäcker und sogar auch der Metzger sie nachvollziehen könnten? Ein zweites Mal ratlos, fahndeten sie nach dem sichersten Weg, die bestmögliche Wahl zu treffen.
Ein zweites Mal ergriff der Schultheiß das Wort. „Es müsste schon ein sehr weises Mitglied unserer Gemeinschaft sein, für das auch die Rechtschreibung keine Schwierigkeit darstellte. Wer käme da in Frage?“ Sich selbst als Ersten zu benennen, war der Schultheiß zu bescheiden, eben zu klug. „Der müsste das ganze ABC kennen!“ bemerkte stolz die Marktfrau. Stolz, denn auf diesen grundlegenden Gedanken war kein Anderer gekommen, nur sie. Triumphierend blickte sie in die fassungslosen Gesichter ringsum, der Annahme, gleich brandete der Beifall los. Wie vor ein paar Minuten für den Metzger. Stattdessen regten sich nur ein paar Hände, wie aus Versehen und klatschten verhalten Beifall. Die, zu denen diese Hände gehörten, empfanden wohl Mitleid mit ihr. Immerhin zählte auch sie zu dieser überaus klugen Gemeinschaft. Man hielte ja zusammen. Der Schultheiß wusste nicht so recht, wie zu reagieren und machte rasch die nächste, in der Sache mit Sicherheit weitaus förderlichere Feststellung: „Nicht nur des Alphabetes, sondern auch des Lesens mächtig müsste er sein. Viele Bücher studiert haben, um dort mitreden zu können.“ Gegenseitig abschätzende Blicke, begleitet von ebenfalls abschätzenden Gedanken. Wer von ihnen...?? Lange brauchten sie nicht zu forschen. Nach zwei Minuten des schweigenden Nachsinnens flogen, da noch zögerlich vorgetragen, doch erste Vorschläge durch die Luft: „Der Bäcker, der Bäcker soll reisen!“ Riss ein kleiner Junge den Mund weit auf und nahm ihn mit dieser Bemerkung mutig sehr voll. „Warum der Bäcker...?“ Verlangte der Schultheiß eine Begründung. „Der Bäcker schreibt immer so tolle Rechnungen. Mit Schönschrift. Und „Rechnung“ sehr richtig mit nur einem „g“!“ Alles lachte, tätschelte dem Jungen übers Haar. So ein goldiger kleiner Kerl. Der war es würdig, ein Schildbürger genannt zu werden. Diese Bemerkung des Kleinen hatte den bisher, was Wortmeldung anging, sehr zurückhaltenden Erwachsenen die Zunge gelöst. Von allen Seiten prasselten jetzt die Vorschlänge nur so auf den armen Schultheiß nieder. Arm? Nee, so arm war der gar nicht. Weder so und erst recht nicht im Geiste. „Warum fährst Du denn nicht selbst?“ Wagte es eine Frau leise anzumerken. Der Schultheiß erschrak. Er?? Dann wäre sein Ruf, besonders klug zu sein, binnen weniger Stunden dahin. Denn, dachte er so darüber nach, nannte er nur zwei Bücher sein Eigen: Das Notizbuch und sein Tagebuch. Deutlich sichtbar in sein Bücherbord mit dem nur einen einzigen Regalfach gestellt. Machte Eindruck. Ließ ihn als gebildeten Mann gelten. Um nicht gezwungen zu sein, eine direkte, ihn wohlmöglich entlarvende Antwort zu geben, machte er seinerseits hastig den dann allerdings sehr treffenden Vorschlag: „Lasst uns den Schulmeister schicken. Der liest doch mindestens pro Tag tatsächlich ein ganzes Buch. Der steht mit der Rechtschreibung auf du und du.“ Glücklich, dass erstens dieser Vorschlag ein vernünftiger und zweitens endlich die Entscheidung getroffen war, warfen die Leute von Schilda triumphierend den Kopf in den Nacken und applaudierten ihrem Schultheiß, was das Zeug hielt. Alle waren einer Meinung. Ja, einen klügeren Manne hätte die Wahl nicht treffen können.
Gesagt, getan, der Schulmeister packte sein Ränzlein und reiste ab. Freute sich auf die Diskussionen mit ganz vielen, ebenfalls intelligenten Leuten, die gleich ihm der Rechtschreibung mächtig wären. Wenn er daran dachte, wie schulmeisterlich richtig er seine Zeugnisse immer schrieb. Doch wirklich ohne auch nur einen einzigen Fehler. Einfach toll!

Eine ganze weitere Woche mussten die Leute von Schilda sich gedulden. Eine Woche voller Spannung, ja auch ängstlicher Erwartung. Was käme auf sie zu? Würden sie "Rechtschreibreform" verkraften, was immer das auch wäre?? Eine Woche hat bekanntlich sieben Tage. Sieben lange Tage, wenn man wartet. Doch auch die vergehen. So sahen sich sämtliche Bewohner eine Woche später auf dem Marktplatz wieder. Platzen fast vor Neugierde, was der Schulmeister ihnen zu berichten hätte. Nun war der aber ein wenig umständlich veranlagt und holte gerne weit aus. Nicht nur, um einen Schüler zu ohrfeigen, sondern auch bei seinen detaillierten Reisebeschreibungen. „Ja, also, da kam ich da an...,“ begann er. „Aah!“ Machten alle bedeutsam und genauso wichtige Gesichter. Immerhin war ihr Schulmeister auch da angekommen, wo er hatte hinfahren wollen. Doch noch war der Bericht nicht zu Ende, fiel ihnen auf. Irgendwie fehlte doch noch das Wichtigste. Also besser weiter zuhören:
„ Ihr glaubt ja gar nicht, wie viele interessante Leute dort zusammen gekommen waren. Manche hatten sogar als Indix für ihre Klugheit ein kleines Buch unter den Arm geklemmt. Doch ich kam dahinter, dass es sich meistens nur um das Kursbuch handelte, das sie mitgebracht hatten. Und das beinhaltete nur wenige Worte. Eines fiel mir allerdings sofort ins Auge: „Fahrplan“ stand vorne drauf.“ „ Ja...meine Güte!“ Anerkennendes Gemurmel. „Aber jetzt erzählt doch endlich, was eigentlich ist die „Rechtschreibreform?“ „Ja, Ja, berichtet. Spannt uns nicht länger auf die Folter!“ Der enormen Bedeutung der nachfolgenden Aussage angemessen, setzte der Schulmeister ein extra wichtige Miene auf, holte noch einmal tief Luft, währenddessen alle Bewohner von Schilda mit angehaltenem Atem an seinen Lippen hingen. Worte abzulesen versuchten, die noch gar nicht gesprochen worden waren. Falls sie die überhaupt hätten lesen können.
„Meine lieben Mitbürger!“ Der Schulmeister stellte sich so richtig in Positur. „Ja..ehem..ääh, also: Die Rechtschreibreform bedeutet, dass vieles, was richtig geschrieben wurde, jetzt nicht mehr richtig ist. Sondern nur noch richtig ist, wenn man es schreibt, wie man es spricht!“ Diese Eröffnung schlug ein wie ein Donnerschlag. Von einer Sekunde zur nächsten herrschte ein heilloser Tumult. Die Aufregung kannte keine Grenzen. „Beispiele, Beispiele!“ Schallte es aus allen Ecken. „Wir brauchen Beispiele!“ Meinten die Männer. „Wie soll man dann schreiben?“ Fragten die Frauen. „Wir dürfen in Zukunft schreiben, wie wir wollen, hurra!“ krakeelten die Kinder. „ Nehmt das Wort „Phantasie“. Das kennt ihr alle. Die habt ihr bisher sehr oft beim Schreiben eingesetzt. Anstatt richtig zu schreiben, wie die Rechtschreibung es verlangte.“ „In Zukunft...,“ er erhob seine Stimme der frohen Kunde wegen, die er kund zu tun gedachte, „könnt ihr an Phantasie sparen, wenn ihr sie schreiben wollt: „Fantasie!“ „Nein, ist das genial!“ Hörte man von allen Seiten. Begeisterte Zurufe, lautes Klatschen. Endlich, endlich könnten sie ihre Klugheit für andere Dinge einsetzen. Zum Beispiel dafür, wie viele Brötchen man beim Bäcker kaufen, oder ob und welches Schwein vom Metzger geschlachtet werden sollte. Welch eine Erleichterung. „Und wir Kinder? Welchen Vorteil haben wir?“ Empörten sich ein paar Zehnjährige. „Stellt Euch vor: Früher hatte der „Delphin“ immer ein „p“ zuviel. Jetzt könnt ihr dem „P“ ein „Pöh“ hinterher schreien und schreibt euren Fisch so: „Delfin“. Und so geht das jetzt mit vielen Wörtern. „Klasse!“ riefen die Kinder. Euphorie machte sich breit. Schon lange nicht mehr hatte man die Schildbürger in solch ausgelassener Stimmung erlebt.
Doch noch war nicht alles ausgestanden. Kurze Zeit später stand auf dem schwarzen Brett am Haus des Schultheiß vermerkt, da natürlich bereits nach den Regeln der neuen Rechtschreibreform geschrieben, dass die Wahl eines neuen Schultheiß anstünde. So stand da nicht mehr „Schultheiß“, sondern „Schultheiss“, was der Schultheiß mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm. Ihm hatte man einen zusätzlichen Buchstaben zugestanden. Welch eine Ehre – er begann die Rechschreibreform urplötzlich zu lieben!
Die Wolke der Grübelei legte sich erneut auf die Stirnen der Schildbürger. Zum dritten Male herrschte Verunsicherung, wollte sich erneut zur Ratlosigkeit steigern. Doch die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass sie nicht umsonst als so klug angesehen waren. So beruhigten sie sich mit dem Gedanken, dass ihnen der richtige Gedanke dazu schon käme. Diesmal brauchten sie nicht so lange zu warten. Sie waren durch die letzten Ereignisse noch gescheiter geworden als ohnehin schon, ging es um Problemlösungen. Recht schnell kam ihnen dann die richtige Idee: Derjenige sollte Schultheiß werden, der den Begriff „Rechtschreibreform“ nach der neuen Rechtschreibreform am richtigsten schriebe. Das hörte sich so banal an, war es aber nicht. Schließlich war das ein langes Wort.
Viele der hervorragendsten Männer der Stadt versuchten ihr Glück. Es entstanden die abenteuerlichsten Varianten.
„Reechtschraibreform!“ Sagte der Erste.
Der Zweite wollte an Klugheit nicht nachstehen: „Rechchtschreibrreform!“ Sah auch nicht schlecht aus, war aber nicht richtig.
„So kommen wir nicht voran! Wir müssen eine andere Methode finden, um festzustellen, wer würdig wäre, meinen Platz einzunehmen!“ Stellte der Schultheiß, ääa...jetzt ja Schultheiss mit Doppeless, fest. Allgemeine Zustimmung. „Also, ich denke, wir verschieben die Wahl und beobachten in den nächsten Wochen, wie wir alle mit der Rechtschreibreform klar kommen. Ja, Ja, das wäre eine typisch weise Entscheidung. Da zeigte es sich, wer dessen Amtes würdig war.
Doch es geriet zur mittleren Katastrophe. Vor lauter verkrampften Nachdenkens, dass ja das Schreiben in Folge viel einfacher wäre, saßen die Bürger von Schilda mit schlechtem Gewissen und immer stärkerem Herzklopfen zu Hause am Schreibtisch und formulierten. Formulierten Briefe und zermarterten sich die Köpfe, wie um Himmelswillen all die Wörter jetzt da zu stehen hätten, da doch alles unkomplizierter geworden wäre. Die Vereinfachung durch die Rechtschreibreform wurde für sie zum berühmt-berüchtigten Damoklesschwerte, dass als ständige Bedrohung ihres Images, doch enorm klug zu sein, in zunehmend bedrohlichem Maße über ihren rauchenden Köpfen schwebte. Wo gehörte ein pp hin und wo nicht? Ein ph oder etwa nur „f“. „ Dass“ nach dem Komma mit 1xs, 2xs oder eventuell sogar 3 „SSS“?? Es brach ihnen der Schweiß aus bei dem Gedanken, eben doch nicht weise genug zu sein.
Mit der Ruhe in der Stadt war es endgültig vorbei. Keiner wagte es mehr, überhaupt einen Brief zu schreiben. Und, falls doch, konnte man davon ausgehen, einen Krautsalat der alten und neuen Rechtschreibung vorzufinden. Außerdem brachte das Briefschreiben gar nichts mehr, denn niemand, auch nicht der angeblich klügste Mann der Stadt war noch fähig, dass dargebotene Kauderwelsch noch zu entziffern. Das schwerste aller Kreuzworträtsel war ein Klacks dagegen!
Hilflos hatten die Schildbürger einzusehen, dass es mit ihrer, nein mit jeglicher schriftlichen Kommunikation zu Ende ginge. Offizielle Briefe muteten an wie Nachrichten von einem anderen Stern. Familien verzweifelten, weil sie nicht mehr die neuesten Klatschgeschichten ihrer Angehörigen lesen konnten.
Es blieb nicht bei verdoppelten oder gar fehlenden Buchstaben. Bald verwischten die Wortendungen. Um ihr Versagen in Sachen Rechtschreibreform zu vertuschen, entwickelten die Bürger von Schilda folgende Methodik:
Soo versteckten sich die Fehler, soo wirkte alles ganz besonders intelligent:
Man machte kurzen, ääh...eher langen Prozess und reihte die phantasievollen Buchstabenfolgen nach freiem Gutdünken aneinander. Die wirklichen Nachrichten teilte man sich im persönlichen Gespräch mit. Der Schriftverkehr versiegte.
Das ganze Leben geriet außer Kontrolle. Nichts ging mehr. Ein wichtiger Bereich der Kommunikation war zum Tode verurteilt.
Bevor das Chaos aber die Stadt Schilda zum Untergang brächte, ergriff ein letztes Mal der Schultheiss das Wort und stellte damit seinen Ruf als besonders weiser Bürger von Schilda wieder her.
„Meine lieben Mitbürger! Wir sehen, wie uns diese Reform unsere Klugheit zunichte gemacht hat. Den wirklich allerletzten Brief fand ich vor zwei Wochen auf meinem Schreibtisch. Es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber ich konnte ihn nicht entziffern. Vielleicht könnt ihr mir helfen, wenn ich euch jetzt den Inhalt dieses Schreibens mitteile:
´iechhasediiieeesennnnnnnnäuereäechteschreiibbungkausstihfssteemhearzzenuntwünsschemiiiiiiiiiiiiirrnicchtsssennliccccherzürrrüüückkkkkalsdasßdiealteschrrrriieft.`
Lösten sie dieses Rätsel, wäre ihr Ruf als immens kluge Leute wieder hergestellt. Voller Freude rannten die Bürger von Schilda nach Hause, setzten sich an ihre zwischenzeitlich fast gehassten Schreibtische und grübelten. Trennten die einzelnen Buchstaben dieses Schreibgeheimnisses von einander, schufen neue Buchstabenkombinationen, formten Wörter, glichen sie der alten Rechtschreibung an. Stellten voller Stolz fest, ihr Wissen nicht verloren zu haben.
Aus Buchstaben wurden Wörter, aus den Wörtern eine Wortreihe.
Es war einer der ganz normalen Sätze entstanden, wie sie ihn von jeher gekannt hatten, bevor die Rechtschreibreform ihr Leben in Aufruhr versetzt hatte.
Dort stand geschrieben:
Ich hasse diese neue Rechtschreibung aus tiefstem Herzen und wünsche mir nichts sehnlicher zurück als die alte Schreibweise!
Bliebe nur noch zu klären, wer in dem ganzen Chaos noch den Mut besessen hatte, den Versuch einer schriftlichen Mitteilung zu starten.
Doch, jenes Rätsel zu lösen, bedurfte es dann keiner großen Anstrengung mehr. Alle waren sich einig: Das musste der Schulmeister gewesen sein.
Sie wählten ihn zum neuen Schultheiss von Schilda.
Seine erste Amtshandlung war es, die neue Rechtschreibung ins Kämmerchen der Erinnerung zu verbannen, und die althergebrachte Schreibweise wieder einzuführen.

Von einem Tag auf den nächsten konnte er sich vor Briefen kaum mehr retten.
Schilda stand wieder in dem Rufe, überaus kluge Bürger zu haben.

G.Schumacher
25. Okt. 04

Über eine Beurteilung würde ich mich sehr freuen!

G.Schumacher
Gaby Schumacher, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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