Eveline Dächer

Ellen stirbt

Ich komme erst spät heim, das Telefon klingelt - wer ruft jetzt noch an ?
Charly:“ Wo warst Du so lange, ich suche Dich seit Stunden - Ellen stirbt !“
„Danke Charly“ ich hänge auf und fahre los.
Ellen, meine kleine Schwester, liegt in der Rehaklinik in Essen mit einem
bösartigen Tumor im Kopf.
Die ganze Familie ist anwesend, sogar mein Bruder aus Bayern.
Ich trete ans Bett . Ellen liegt völlig apathisch im Bett - Nierenversagen -
klärt man mich auf.
Die Familie redet , ist schon seit Stunden hier.
Ich versuche in diesem Durcheinander ein „Vater unser“ zu beten, laut,
meine Mutter und mein Bruder beten mit.
Das Gerede der Anderen verstummt nach und nach.
„ Wie kann man jetzt beten, - Ellen hört doch alles ?“
„Eben - Ellen hört alles, sie weiß sicher, daß sie nun sterben muss, und Ellen --
die hätte jetzt auch gebetet, laut !“
Aber Ellen, sie kann nicht mehr sprechen, nur ab und zu stöhnen.
Eine Schwester betritt das Zimmer und spritzt Ellen Morphium, Ellen braucht
nicht mehr zu leiden.
Die Familie verabschiedet sich - es ist 21 Uhr.
Ich bleibe hier !
„Wieso willst du hier bleiben , wo willst du schlafen?“
„In so einer Nacht, Mutter, schläft man nicht ! Ich bleibe !“
Die Schwester bringt mir eine Liege und Bettwäsche herein, ich beziehe mein
Nachtlager.
Draußen kommt Wind auf, die Planen der gegenüberliegenden Baustelle flattern,
es ist sehr laut, ich schließe das Fenster.
Die Luft wird schnell stickig, Ellen stöhnt, ich streichle ihre Hand und öffne
das Fenster wieder. Ich versuche in einer Illustrierten zu blättern, versuche
zu lesen - ich kann mich nicht konzentrieren. Ellen stöhnt.
Ich nehme Ihre Hand und versuche sie zu beruhigen
Ich zünde drei Kerzen an und bete laut. Ellen reagiert nicht.
Die Nachtschwester nimmt mich mit in die Teeküche. Wir trinken einen
heißen Kaffee, sie meint vor dem Morgengrauen wird es Ellen nicht überstanden
haben.Ich nehme meinen Kaffee mit in Ellens Zimmer.
Sie stöhnt leise vor sich her - ist das ein Zeichen, daß sie jemanden hier
bei sich spürt ? Will sie mir etwas sagen ?
„Ellen ich bleibe bei dir heute Nacht, du bist nicht allein.“
Sie entspannt sichtlich.
„Du, Ellen, hör mal, mir fällt etwas ein : in der Nacht deiner Geburt
hat unser Vater dich zu mir ins Zimmer gebracht, du lagst wohlbehütet in einem
kleinen Wäschekorb.Mutti hatte ihn vorher mit soviel Liebe ausgestattet.
Vater sagte zu mir: hier ist deine kleine Schwester Ellen, pass gut auf sie auf,
Mutti muss sich ausruhen.
Ich habe Angst gehabt laut zu husten, damit du nicht aufwachtest.
Deine kleinen Finger hielten mich ganz fest. Es war ein wunderschönes Gefühl
damals,ich war 10 Jahre alt.
Siehst du, Ellen, die erste Nacht deines Lebens verbrachtest du mit mir
heute bin ich 55 Jahre und darf die letzte Nacht deines Lebens mit dir
verbringen. Ich halte deine Hand - genau wie damals.
Pack zu, Ellen, halte dich ganz fest !
Nein, deine Kraft reicht nicht mehr aus.
Drück, Ellen , drück meine Hand, zeige mir, dass du mich hörst.
Ich sehe deinem Gesicht an, du willst dich anstrengen, also hörst du mich !
Weißt du, Ellen, mit einem Menschen die erste und die letzte Nacht zu teilen
ist eine große Gnade - ein großes Geschenk unseres Schöpfers.
Ich danke unserem Herrgott dafür !
Komisch, Ellen, du warst 10 Jahre jünger als ich, trotzdem hatten wir beide
einen guten Draht miteinander.
Wir beide hören gern gute Musik, wir lieben die Oper, das Theater.
Wir mögen Kreuzfahrten, Spanien, Italien, Griechenland , Rußland -
die Kölner Altstadt.
Wir lieben gute Restaurants, gutes Essen , ein gutes Glas Wein,wir kochen
beide gern , deine Lasagne war die beste, die ich je aß, wir probieren alle
möglichen Rezepte aus (man sieht es uns an )
Wir lieben das Außergewöhnliche.
Wir mögen Sprachen, sind für alles Neue aufgeschlossen. und doch bist du
viel mehr mit Heidrun zusammen gewesen, ihr seid in einem Alter.
Zu ihr hab ich leider absolut keinen Draht, wir haben keine gemeinsamen Interessen, schade.“
Ellen stöhnt wieder.
„Wird dir das Gequatsche von mir zuviel Ellen,?“
Ich gehe zu meinem Bett und greife nach der Zeitung, muss immer an unser Verhältnis
zu einander denken.Langsam werde ich müde und versuche zu schlafen,
es klappt nicht. Ellen wird wieder unruhig.“Ich bin da , Ellen, schlaf ruhig ein
wenig.“ Es ist 2 Uhr morgens.
Die Nachtschwester bringt mir einen Piepser, falls ich sie brauche.
Ich glaube, nun wird es ernst, - Ellen fängt an zu riechen.
Ich zünde noch 3 Bienenwachskerzen an ( Ellen liebte diesen Duft) er verdrängt
den Hauch des Todes. Ich nehme das Gebetbuch zur Hand und bete laut.
Ellen reagiert nicht.
Ich bete trotzdem weiter, ich bin sicher, es ist in ihrem Sinne.
Schade, daß die Familie jetzt, wo sie gebraucht wird, nicht dabei ist.
Die Nachtschwester kommt wieder, es ist 4 Uhr, sie schaut Ellen an, prüft den Puls
und sagt.“Nun wollen wir Ihre kleine Schwester waschen, es wird ihr gut tun.“
Sie bereitet alles vor, ich helfe ihr. Ellen wird von Kopf bis Fuß gewaschen.
Meine stumme Frage an die Schwester. „Warum denn dies noch ?“
„Das Waschen tut ihrer Schwester gut, sie spürt dies, sie riecht dann nicht mehr,
es ist der letzte Liebesdienst, den wir ihr tun können.“
Ellen stöhnt, als ob sie diese Aussage bestätigen will.
Wir schütteln ihr Bett auf .
„Ich mache uns einen Kaffee, den haben wir verdient“. Wir gehen in die Teeküche.
Die Nachtschwester ist froh einen Angehörigen bei einer Patientin zu wissen, die
nun, in ihrer letzten Stunde nicht alleine ist.
„Sehr viele Menschen sterben für sich ganz allein, ohne Beistand, ohne Gebet.
Die Ärzte wünschen sich alle , daß die Familie den Patienten den letzten Dienst
erweisen könnte. Es gibt nicht nur dem Patienten, sondern allen Anwesenden
sehr viel.“
Ich muss zu Ellen, sie ruft mich.
„Ihr Kaffee wird wieder kalt !“ „Egal, ich muss zu ihr.“
Ellen stöhnt sehr laut, ich eile ans Bett, nehme ihre Hand. Sie reagiert nicht .
Ich hoffe auf die Muttergottes. Wir beide gingen früher oft in die Maiandacht.
Ich beginne zu singen:
Segne Du, Maria, segne mich dein Kind,
daß ich hier den Frieden - dort den Himmel find.
Segne all mein Denken - segne all mein Tun
lass in deinem Segen Tag und Nacht mich ruhn...
Ich kann es nicht fassen. Ellen schlägt die Augen auf -
sie sieht mich an, als ob sie mich mit ihren Augen ganz umfassen wollte,
festhalten.
Ellen bewegt ihren Mund. „Ja, Ellen, ich höre, willst Du mir irgend etwas sagen?“
Ellen bekommt keinen Laut geformt, doch sie will reden - sie ist sehr aufgeregt -
es klappt nicht.
Ich singe die 2.Strophe:
Segne du, Maria, alle die mir lieb,
Deinen Muttersegen ihnen allen gib,
Deine Mutterhände breit auf alle aus
Segne alle Herzen, segne jedes Haus.
Ellen sieht mich an - ganz groß -
mir laufen die Tränen, ich versuche weiter zu singen
und halte ihre Hände.
Ellen -- lächelt,
schließt die Augen
sie atmet ein letztes Mal, tief und befreit durch.
Ellen ist mit der Mutter Gottes heimgegangen
ganz gelöst und ruhig.
Ellen ist tot !
Ellen ist erlöst !
Es ist 5.50 Uhr. Sonntag Morgen - Ellen ist auch an einem Sonntag geboren.
Mir laufen die Tränen - lass sie laufen, nicht um den Verlust meiner Schwester,
nein, aus Dankbarkeit !
Großer Gott - welch ein Augenblick - welch ein Erlebnis !
Ich bin unendlich dankbar, so etwas erleben zu dürfen
Schade, daß Mutter das nicht miterlebte. So etwas Großes - Erhebendes.!
Woher hatte ich die Kraft und Stärke - hier in diesem Augenblick -
in einer Todesstunde dabei zu sein , - ja sogar zu singen ?
Wer hat mir gesagt was zu tun ist ?
Wer hat mir gesagt, bete nun dies ?
Wer sagte mir : Singe ! Und zwar dieses Lied ?
Wer sagte mir: Du bleibst heute Nacht hier ?
Du sollst ihr in der letzten Stunde beistehen ! ?
Warum nicht Mutter, Schwester oder Bruder ?
Zufall ? Eingabe ? Vorsehung ?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins, ich bin unendlich dankbar.
Ich gehe in die Teeküche, die Ärztin schaut mich an:
„Ein überwältigendes Erlebnis, nicht wahr ?“
Ich trinke meinen Kaffee und danke Gott, daß ich da war,
als man mich brauchte.






Ich hab dies Erlebnis damals zu Papier gebracht, ich hatte das Gefühl,dass ihr der letzte Weg durch meine Begleitung erleichtert wurde.
Ellen war meine kleine Schwester,
sie hätte am 1.November Geburtstag,
sie wird auch in diesem Jahr eine Rose auf ihrer letzten Ruhestätte finden.

Eveline Dächer, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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