Sylvia Sagmeister

Leidensweg eines Buches

LEIDENSWEG EINES BUCHES

Es war einmal ein Buch. Ein sehr schönes Buch, dick und groß und grasgrün. Eine etwas auffällige Farbe für ein Buch könnte man meinen, aber es wollte ja auch auffallen. Es hatte die für ein Buch durchaus stattlichen Maße von 20x30x5 Zentimeter, versteht sich. Sicher 300 Seiten stark und das ohne Bilder. Dieses Buch also fristete sein Leben in einer Bibliothek. Dort stand es im ersten Gang links, in der zweiten Reihe von unten und wartete darauf, wieder entdeckt zu werden. Es war ein ziemlich altes Buch, hatte sicher seine 70 Jahre auf dem Buckel, wenn nicht mehr. Na vielleicht nicht gerade diese Ausgabe, aber der ursprüngliche Text. Immerhin hatte auch unser grasgrünes Buch das stattliche Alter von etwa 30 Jahren erreicht und wartete darauf aus seinem Dämmerzustand in der zweiten Reihe des ersten Ganges geweckt zu werden. Und siehe da, das Wunder geschah. Das Buch wurde gesehen - grasgrün! - zur Hand genommen und für gut befunden. Welch kindliche Freude erfasste da unser Buch! Doch leider, leider!, wurde es wieder zurück gestellt. Ach, es war Eigentum der Bibliothek und musste weiterhin dort sein Dasein fristen, alleine in der zweiten Reihe von unten, erster Gang links. Aber bevor es endgültig zurückgestellt wurde - immerhin wurde es zwei-, dreimal zur Hand genommen - schoss es einen kleinen Pfeil der Erkenntnis ab: Das ist DAS Buch! Titel und Autor passten ganz genau. Jeder für sich und ganz besonders in dieser Kombination. Und auch wenn das Buch wieder im Regal stand, der Gedanke daran lebte weiter...

Ein wenig Zeit verging, dann machte sich der Gedanke wieder breit. Das Buch musste doch aufzutreiben sein! Geschwinde zum Telfonhörer gegriffen, angerufen. „Welches Buch? Dieses? Einen Moment bitte!“ ... Einsatz des allmächtigen und allwissenden Computers ... „Nein, tut mir leid, nicht lagernd, nicht lieferbar, wird nicht mehr aufgelegt.“ Große Enttäuschung. Vielleicht doch einen kurzen Abstecher in diese Bibliothek mit dem viel versprechenden Namen... Glücklicherweise gibt es noch andere Buchhandlungen. Die nächste wird höchstpersönlich aufgesucht. Wirklich eine gute Buchhandlung, hat schon viele Bücher an die Regale der Wohnung abgegeben. Und siehe da! der Computer wird fündig, ein etwas anderer Titel, ein wenig kleiner, ein wenig anders, aber immer noch: DAS Buch. „Nein nicht lagernd, aber wir bestellen, kommen Sie in drei Tagen wieder!“ Die Hoffnung blüht. Freudestrahlend wird die Buchhandlung verlassen, werden die paar Tage abgewartet, das Geschäft voll Hoffnung wieder aufgesucht. „Nein, tut mir leid, ist wirklich vergriffen.“ Riesengroße Enttäuschung. „Aber ich hab da was für Sie...“

Ach, wie bist du abgemagert, du nettes Büchlein du, geschmolzen auf ein paar Seiten, 5x10x1 Zentimeter dünn, welch Abklatsch deiner ursprünglichen Größe! Wie musst du trauern, großer Bruder in der Bibliothek, zweite Reihe von unten, erster Gang links! So unwichtig bist du geworden, dass keiner mehr deiner bedarf...

Ja, dieses Buch gibt es wirklich, in einer Bibliothek im Burgenland im Osten Österreichs. Es ist ein Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud zum Thema "Warum Krieg" und zählt - laut Buchumschlag des "kleinen Nachfolgers" - zu den grundlegenden Texten des Pazifismus im 20. Jahrhundert ... vielleicht sollte man es manchen Personen zum Lesen geben, wenn es wieder mal jemand auflegt!Sylvia Sagmeister, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.10.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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