Norbert Wallner

Box 4

1.
Kurt war müde. Saumüde. Um sieben Uhr in der Früh sollte der Bus schon abfahren. Sieben Uhr! Das hieß um dreiviertelsechs aufstehen, wollte man noch eine Kleinigkeit frühstücken. Und das wollte er natürlich, schließlich brauchte man Kraft für eine solche Expedition. Und er sah es als Expedition. Natürlich war keine Zeit, Parkplatz zu suchen. Parkhaus gäbe es ja in Floridsdorf, aber für zwei Tage war das nicht gerade billig. Taxis hasste Kurt aus schlechter Erfahrung, einmal abgesehen vom Fahrpreis. Da war es allemal billiger, ein Strafmandat zu kassieren. Nach einer wie erwartet erfolglosen Ehrenrunde um den Floridsdorfer Spitz stellte Kurt also sein Auto keck und ohne schlechtes Gewissen in der blauen Zone ab.
Da Kurt fahrt furt. Ungläubig hatte seine Frau reagiert. Da Kurt fahrt furt! Er musste grinsen. Das Timing war perfekt. Die Zufriedenheit darüber ließ Kurt fast seine Müdigkeit vergessen, als er sich ins Busgestühl fallen ließ. Fast. Kaum hatte er seine Augen geschlossen, fiel er in einen traumlosen Schlaf, aus dem er in regelmäßigen Abständen durch Schmerzen in seinem Genick geholt wurde. Einmal links, einmal rechts, je nachdem, auf welche Seite sein Kopf gerade gesunken war.
Gute Bussessel waren eine Marktlücke, fand er, ohne aber weiter darüber nach zu denken.
Fast wäre er mit einigen anderen Businsassen ins Gespräch gekommen, doch kaum hatte er seinen Wachzustand auf halb erhöht, waren dafür seine Nachbarn eingenickt.
Zwei kleine Halte zwischendurch nutzte Kurt zum Pinkeln, ergab sich also auch keine Unterhaltung. Erst im Rasthaus Mondsee beim Mittagessen konnte er die ersten Kontakte zu den Mitreisenden knüpfen, die alle – so wie er – diese Fahrt gewonnen hatten. Die Erwartungen waren recht unterschiedlich. Nur Kurt hatte keine Meinung. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, er ließ alles auf sich zukommen wie es kam.
Als sie die Staatsgrenze hinter sich hatten, stellte Kurt erstaunt fest, dass das optisch nicht erkennbar war. Eigentlich sah alles gleich aus wie zu Hause. Die Donauinsel war ohnehin das Zentrum seines Weltbildes, da mussten sich die anderen schon zusammenreißen, wenn sie Besseres bieten wollten. Vom Volk sah er ja noch nichts.

2.
Nun saß Kurt also da: Box 4. Wie im Pferdestall. Aber nochmals: Geschenkter Gaul usw.
Box 4, Tisch 5.
Mit großen Augen betrachtete er das Treiben ringsum. Hatte man ihm nicht mal gesagt, auch wir stammten von den Bajuwaren ab? Er konnte es nicht glauben. Nein, er war sich sicher, da konnte es keine Gemeinsamkeiten geben. So exotisch waren ja nicht einmal die Türken am Brunnenmarkt, und DIE fand er schon ziemlich fremd!
Nach der dritten Maß wusste er, warum die Bajuwaren so viel soffen: Weil die Frauen so schirch waren! Nach einigen Maß Bier verklärte sich dann unter zusätzlichem Einfluss der Hormone der Blick.
Und die Männer waren in Tierhäute gekleidet. Knickerbocker hießen die Dinger in Kurts Jugend. Sie wurden von den Buben gehasst wie die Watschen, wenn sie sich weigerten, sie anzuziehen. Allerdings hatte er sie glatter in Erinnerung, und eher grau, und vor allem speckig. Der einzige Vorteil von Knickerbockern war es gewesen, dass man sich damit überall hinsetzen konnte, ohne dass die Mutter ein Gezeter darüber anhob, ja, und man konnte sich die dreckigen Finger dran abwischen.
Diese Knickerbocker, die diese Bajuwaren hier trugen, waren braun und aus Rauleder, und sahen alle gleich aus. Die einzigen Variationen hatten die Kopfbedeckungen zu bieten. Kurt überlegte kurz, ob Hüte eine geeignete Bezeichnung wäre.
Nicht alle, nein das wäre übertrieben, so weit wollte er nicht gehen in seiner Betrachtung, nicht alle trugen diese Lederfleck und aberwitzigen Kopfbedeckungen.
Kurt erkannte, dass die Oktoberfestbesucher offensichtlich von einer großen Anzahl von Touristen unterwandert waren. War nicht weiter schlimm, schließlich war er ja auch hier. Es ließen sich ohnehin alle von diesen Stammesriten hinreißen.
Ans, zwa, xuffa.
Und oben waren sie auf den Bänken. Das Brauchtum gebot es wahrscheinlich, auf den Bänken zu stehen und mit dem Becken kreisende oder stoßende Bewegungen zu vollführen, und dabei freudig oder auch in Vorfreude in die Hände zu klatschen.
Einige Hintern sahen für Kurt durchaus passabel aus, zumindest nach den drei Maß Bier, und regten seine Fantasie an.
Als der hinter ihm zuckende Weiberhintern ihm das zehnte Mal über den Kopf gefahren war, sah er sich gezwungen, mit der Hand mal ins innere Zentrum der Zuckung zu fahren. Viel gewann er dadurch nicht, im Gegenteil, der Hintern drückte nun kräftig gegen seinen Kopf, sodass er gerade mit Müh und Not seine Hand wieder aus der Gefahrenzone ziehen konnte.
Dafür riss ihn nun eine Hand – war sie zum Hintern gehörig? Kurt konnte es nicht eindeutig feststellen – riss ihn eine Hand an den Haaren in die Höhe. Als er im Schmerz nach oben fuhr, sah er, dass die Hand einem rotbäckigen Urbayern gehörte, der ihn auf die Bank hinauf ziehen wollte, damit er, Kurt, auch am Stammesritus teilnehmen sollte.
Ein Prosit, ein Prosit – der Gemütlichkeit!
Kurt versuchte sich zu wehren, hatte aber nicht mit der Kraft und Beharrlichkeit seines Nachbarn gerechnet, der ihn nun auch am Ohr nach oben zog. Unter einem ausschwappenden Maßkrug durchtauchend gab er der rohen Gewalt nach und kletterte auf die Bank. Er traute sich kaum bewegen, war er nun doch schon bei der vierten Maß. Jetzt wusste er, wo die Redewendung „abstürzen“ herkam, wenn man zu viel getrunken hatte. Nein, er hatte keinen Bock drauf, hier abzustürzen. Die Bajuwaren allerdings schienen im betrunkenen Stehen auf Bänken geübt zu sein, was Kurt in der Vermutung bestärkte, dass dies zu den allgemein üblichen Sitten dieses Volkes gehörte.
Als er in die glücklich lachenden Gesichter dieses Volkes sah, wusste er, wie wenig zum Glücklichsein notwendig war.
Natürlich gab es auch noch andere Bräuche. “Hinter die Geheimnisse der blinkenden Herzerln auf den Busen der Stofftierverkäuferinnen kommen“ zum Beispiel. Oder “Lustiges Hütetauschen“. Oder “Hey Baby singen“. “Am Pissoir möglichst hoch die Wand hinaufschiffen“. Oder “Eine Maß in einem Zug hinunterschütten und gleichzeitig den Hintern weiterhin im Rhythmus zucken lassen, ohne sich dabei anzuschütten sondern nur den Nachbarn“. Viele ähnlich lustige Bräuche durfte Kurt noch kennen lernen, bis sogar er „Hey Baby“ mitzugrölen begann.

3.
Kurt drückte es ein wenig auf den Magen, als er nach Mitternacht die Festzelte entlang Richtung Ausgang marschierte. War es das Bier, das er selbst getrunken hatte, oder das, was andere auf die Straße gekotzt hatten, die frische Luft brachte nicht die erhoffte Erholung. Sein rechter Ärmel war nass und stank nach Bier. Gösser roch besser, fand er. Sogar Schwechater, obwohl er das sonst weniger schätzte.
Hoffentlich würde er den Weg zum Hotel finden. Vielleicht sollte er einfach umfallen so wie der Bajuware da rechts vorne? Vielleicht würden ihn dann die Sanitäter heimbringen, die da in Hundertschaften durchs Gelände streiften? Kurt verwarf diesen Gedanken wieder, sie würden ihn sicher in irgendein so abgefucktes bajuwarisches Spital bringen, wo er dann mit Dutzenden kotzenden Bayern am Gang liegen würde. Er riss sich zusammen. Nein! Was ein echter Wiener ist, der geht nicht unter. Und ein Steirer schon gar nicht, Steirerblut ist kein Himbeersaft! Der Gedanke an seine stolze Heimat und die Schande, die er nicht über sie kommen lassen konnte, besserte Kurts Zustand.
Gerade hatte er einen anlehnungsbedürftigen Saufkopf abschütteln können, als sich ein weibliches Wesen an seinen linken Arm hängte.
„Wohin rennstn du so schnell“, fragte sie ihn.
„Ist ja aus, was soll ich noch da“, antwortete Kurt.
„Kannst mich nach vorn zum Ausgang bringen? Allein schaff ich des net!“
Kurt blieb stehen und musterte sie. Sie wirkte gar nicht so zwider, selbst wenn er seine Optik um fünf Maß korrigierte.
„Wieso sollstn das nicht schaffen? Notfalls hilft dir eh sofort ein Ritter weiter.“
„Genau deswegen schaff ich’s nicht, die ganzen Ritter da wollen nur ihre Schwerter in die Scheide stoßen.“
Kurt grinste, schlagfertig war die Kleine. Das Spiel begann ihm zu gefallen.
„Dann lass mich halt dein Schild sein!“
Ein fetter Bayer, also fett im Hirn und am Bauch, hängte sich auf der anderen Seite der Kleinen ein und griff ihr in den Ausschnitt.
„Schleich di, merkst net, dass’d überzählig bist?“
Die Kleine trat ihm vehement auf den Fuß, dass er im Schmerz nach hinten torkelte und einen kleinen Ausländer zu Boden riss, der sich gerade an eine andere Frau herangemacht hatte, die nun kichernd versuchte, den fetten Bayern aufrecht zu halten. Der nutze die Gelegenheit leidlich aus, während der kleine Ausländer zornig fluchend auf Angriff gehen wollte. Ein zweiter, etwas größerer Ausländer verhinderte den Kriegsausbruch und die Gruppe verteilte sich. in unterschiedlicher Zufriedenheit.
Kurt war mit der Kleinen, die keinen Wunsch verspürte, schon nach Hause zu fahren, inzwischen weiter gegangen. Ihr Mann wäre sowieso die ganze Nacht nicht zu erwarten.
„Der ist mit einem Kollegen an so einer Schwarzen hängen geblieben.“
„Na du bist mir eine, du bist verheiratet und bratest mich praktisch unter den Augen deines Mannes an?“
„Geh, erstens sieht der nur seine Schwarze und zweitens hab ich dich net anbraten.“
„Ach so, und was macht dann dein Hand an meinem Hintern, obwohl ich net einmal eine Lederhosn anhab?“
„Sonst glaubt mir doch keiner, dass mir zsammghören.“
„Na, das können wir nicht riskieren!“ Und er fuhr mit seiner Hand unter ihrer Bluse hoch.
„Zu viele Ritter im Turnier, hast eh gesehen!“
Während er, so gut es im Gehen ging, ihre Anatomie erforschte, erreichten sie den Ausgang.
Sie hatte nichts dagegen, dass nun sie IHN begleiten musste, da er doch sonst nicht zum Hotel finden würde.
Kurt konnte den bajuwarischen Bräuchen endlich doch etwas abgewinnen.
Leider verirrten sie sich im Park, noch bevor sie das Hotel erreichten. Kalt war es nicht besonders.
Und wer weiß, ob sie der Hotelportier durchgelassen hätte.

© NoWall 27.09.2004

Diese Geschichte ist in tiefster Verbundenheit und Sympathie mit den Bayern entstanden. Also, liebe Nachbarn, nehmt sie bitte nicht todernst ;-)Norbert Wallner, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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