Robert Jaeger

Einsame Erkenntnis

"Wahrheit ist erst dann Wahrheit,
wenn sie bekannt wird."

John A. Wheeler



Es war ein verbitterter Kampf gewesen. Er lehnte sich in seinen Pilotensitz kurz zurück und versuchte ruhig durchzuatmen. Obwohl er schon einige Einsätze hier draußen im Raum miterlebt hatte, war es bei dieser Mission etwas völlig anderes gewesen. Nein, es war entsetzlich gewesen! Er entwickelte erst nach und nach die Fähigkeit, über das hinter ihm liegende Geschehen nachdenken zu können.

Er erinnerte sich daran, wie sie mit ihren gut 30 Raumfliegern in geschlossenen Formationen in Richtung des Feindes flogen; er selbst war in einer der mittleren Gruppierungen. Natürlich konnten sie ihn mit bloßem Auge nicht erkennen. Nur zwei kleine, leuchtende Punkte offenbarten auf einem Radarschirm, wo sich der Feind befand. Auch für die IdentyScan-Sensoren war die Entfernung zu groß, um die Objekte identifizieren zu können, weshalb sich die Leuchtpunkte in einem neutralen Grün zeigten.
Soweit bekannt, musste es sich um einen relativ großen Raumfrachter handeln. Schon einige Zeit zuvor ging das Gerücht umher, dass er womöglich den Waffennachschub des Feindes liefern sollte, der diesen Sektor bedrohte. Begleitet wurde der Frachter von einem Kampfkreuzer, so wie es aussah, mittelschwerer Klasse, jedoch älterer Bauart. Vorausgesetzt diese Information erwies sich als richtig, so stellte man sich die Frage, warum man einen Kreuzer als Begleitung mitschickte, der an sich für ein Museum bessere Verwendung fand. Dennoch war sicher, dass sich der Auftrag, den Frachter und, was kaum unumgänglich war, den Kreuzer zu zerstören, wahrscheinlich nicht ohne Verluste durchführen ließ.
Aber schließlich wussten sie das, seit sie dem Corps der Kampfflieger-Staffel mehr oder weniger freiwillig beigetreten waren. Und sie wussten auch, dass sich hier draußen in der dunklen, kalten und absolut lebensfeindlichen Tiefe des Alls eine nicht mindere Gefahr verbarg als der Feind selbst.
Zwei, drei oder vielleicht schon mehrere Male hatte er davon gehört, wie jemand nach einem Kampfeinsatz unvermittelt das Bewusstsein verlor und dem Schicksal erlag, einem Trümmerstück nicht mehr ausweichen zu können. Er war zwar klein gewesen, hatte aber tödliche Folgen gehabt. Und ein anderes Mal schnappte er einen Bericht auf, bei dem jemand während des Einsatzes sein Ende in der Leere des Alls fand, weil der Fusions­reaktor aufgrund eines schweren Schadens - sie sprachen vom Versagen der Plasmaeindämmung oder dergleichen - außer Kontrolle geraten war.
Das waren fast schon so etwas wie Geschichten, die man gelegentlich mitbekam oder sich hin und wieder erzählte und wohl zu ihrem Job dazugehörten. Manche machten diese Erzählungen etwas trübsinnig, andere berührte dies kaum, da sie diese armen Seelen nicht kannten oder schon längst darüber hinweg waren. Und was die Mehrzahl anging, so dachten diese einfach nicht darüber nach, sondern erledigten routinemäßig ihren Dienst. Vielleicht war es deshalb gut so, dass ihnen die gegenwärtige Lage immer seltener die Gelegenheit dafür ließ. Ihre Einsätze wurden seit einiger Zeit immer häufiger angesetzt. Nicht nur einmal erhielten sie nur wage Angaben über die bevorstehende Situation. Während sie früher die Gelegenheit hatten, ihren Urlaub zu Hause zu verbringen, hatte man jetzt kaum noch die Möglichkeit, eine Hyperfunknachricht zu übermitteln. Mein Gott, wie lange war das schon her? dachte er nachsinnend, Frieden? Frieden war nur eine Legende.
Als Gegenleistung erhielten sie jedoch nicht nur eine gute Entlohnung für die Gefahren und Risiken, denen sie praktisch ständig ausgesetzt waren. Es war vor allem das besondere Ansahen, ja vielleicht der sogenannte Ruhm bei den Freunden, den Verwandten oder anderen Menschen Daheim, für den sie kämpften. Auch wenn dieser Ruhm an manchen Orten Einsamkeit bedeutete, blieben viele selbst in besonders schweren Zeiten dieses Krieges dem Corps treu, um die Erde und die dazugehörigen Kolonien auf anderen Planeten und Gestirnen vor den Feinden - von allen waren die Zymenera die Gefährlichsten und Rücksichtslosesten - zu verteidigen.
Aber es gab auch einige, die nicht nur von dem Stress des Krieges psychisch zermürbt wurden, sondern dem Tod zu oft begegnet waren, weil sie einen guten Kameraden verloren hatten. Wer immer der Feind auch war, er schien - möglicherweise aus Verzweifelung - all seine Streitmächte zu mobilisieren, um diesem Krieg im schlimmsten Fall eine entscheidende Wende zu geben.
Von den Zymenera wusste man nur wenig. Praktisch nichts. Nichts, was sie in absehbarer Zeit wirklich zurück drängen konnte. Angeblich war weder der Heimatplanet noch eine zentrale Hauptbasis bekannt. Selbst über das wahre Aussehen gab es nur Spekulationen. Sie waren ein dunkler Mythos. Kenntnis gab es nur darüber, dass sie zwar eine weniger entwickelte Technologie besaßen als die Menschen. Jedoch verfügten sie über die außerordentliche Fähigkeit, andere Völker dazu anzustiften, für sie zu kämpfen. Es handelte sich oft um technologisch primitive Lebewesen, die die Verheißungen der Zymenera begierig und leichtgläubig aufnahmen. Letztlich wurden sie jedoch nur von ihnen benutzt. Sie wurden zu willigen Sklaven der Zymenera. Auf diese Weise schonten sie ihre eigenen Reserven. Als Folge dessen, war nie ganz klar, ob es sich in einer Schlacht eindeutig um die Zymenera handelte oder nicht. Sicher war allerdings, dass sie bei fast jeder kriegerischen Auseinandersetzung von Anfang an die Finger im Spiel hatten. Deshalb war jeder Schlag gegen irgendeinen Feind, meistens ein Schlag gegen die Zymenera.
Da sie jedoch immer wieder neue Verbündete für ihre Zwecke fanden, kam es immer häufiger vor, dass die Erdstreitkräfte nach einer schweren Mission mit Fliegern starten mussten, die nicht vollständig repariert und durchgecheckt waren. Und was die Sache insgesamt noch bedenklicher machte, war, dass der Feind - wer immer er auch wirklich war - bedenklich dazugelernt hatte: Meist griff er in kleinen Schwärmen an, die ebenso schnell wieder verschwanden, wie sie aus dem Nichts aufzutauchen schienen, so dass kaum eine Gegenmaßnahme eingeleitet werden konnte.
Bei dieser Mission war es somit geradezu seltsam, dass der Frachter nur von einem einfachen Schlachtkreuzer und nicht einem einzigen Jagdflieger begleitet wurde. Er erinnerte sich im Nachhinein an die aufgestellte Hypothese: Entweder beabsichtigten die Feinde mit dieser Aktion weniger aufzufallen. Oder, und tragischerweise lag dies ebenfalls im Bereich des Möglichen, dies sollte ein Ablenkungsmanöver sein, mit der Absicht, anderer Orts in diesem Sektor, wenn auch nur kurzfristig, eine vorteilhafte Stellung zu erzielen. So war es einfach eine Tatsache gewesen, dass lediglich eine Vermutung darüber ausgesprochen wurde, was dieser Frachter wirklich transportierte. Letztlich stand jedoch fest: Man konnte es sich in Zeiten wie diesen nicht leisten, dem Feind eine weitere mögliche Chance zu geben.

Zunächst sah es so aus, als wenn sich dieser Einsatz kaum von den meisten anderen zu unterscheiden schien, die man mehr oder weniger in der üblichen Routine erledigte und relativ schnell überstanden hatte. Nachdem sie ihr Mutterschiff verlassen hatten und sich formierten, erhielten sie jedoch vom Oberkommando den verstärkten Hinweis, dass sie sich auf alles gefasst machen sollten - womöglich auch auf einen Hinterhalt. Er erinnerte sich noch genau daran: Die Praydan, ihr Mutterschiff, hatte sie in diesen Sektor gebracht, und sie flogen in geschlossenen Formationen dem Feinde entgegen. Sie waren dabei die Waffensysteme ein letztes Mal durch zu checken, Energiebänke aufzuladen und einige Worte mit seinem Flügelmann zu wechseln, als er den Kopf hob und die Schiffe der Zymenera bereits mit eigenen Augen erkennen konnte. Regungslos und immer deutlicher erkennbar, hoben sie sich vor dem Hintergrund eines wunderschönen, bizarren Gasnebels ab: ein zarter blauer Schleier, durchzogen von einem rotvioletten Schimmer, in abstrakten Nuancen ineinander verwoben. Darin eingebettet, leuchteten einzelne helle Sterne.
Solch ein Anblick war recht selten oder man fand kaum die Gelegenheit, diese Schönheit im Raum aufzunehmen. Er konnte eine gewisse Faszination nicht unterdrücken. Aber was ihn noch mehr gefangen nahm, war vielleicht die Tatsache, dass sich inmitten dieser bizarren Schönheit die feindlichen Schiffe befanden, die ihn wie zwei dunkle, versetzte Augen anstarrten.
Irgendwie hatte es ihn auf besondere Weise berührt und nachdenklich gestimmt. Ohne dass er es eigentlich wollte, verspürte er im ersten Augenblick ein Gefühl von Empörung. Er konnte nicht begreifen, dass diese hässlichen, dunklen Schiffe sich inmitten dieser einzigartigen, leuchtenden Pracht des Alls befanden. Doch je länger er diese ansah, desto mehr verdrängte eine andere Empfindung diese voreilige Sichtweise. Obwohl es die Schiffe des Feindes waren, schien er sie bei weiterer Betrachtung nicht mehr eindeutig als ihre Feinde identifizieren zu können. Es war geradezu so, als ob sie ein Teil des Nebels wären - und die Begriffe "Feind" und "Freund" bei diesem Anblick definitionslose wurden.
Diese Überlegungen erschreckten ihn auf unangenehme Art, seine Gedanken zerstreuten sich, flossen auseinander. In diesem Augenblick spürte er so etwas wie eine Gewissheit, die aus unbekannten Tiefen seines Bewusstseins aufzusteigen schien; die Gewissheit, dass sie, die Zymenera und die Menschen trotz ihrer Feindseeligkeit etwas verband, unabhängig von dem, was sie taten oder vom anderen dachten. Seine Gedanken wurden zäh, gerieten ins Stocken, als stießen sie vor eine unsichtbare aber allgegenwärtige Barriere.
Diese Erfahrung mit diesen Gedanken, so konnte er sich nun gut erinnern, war für ihn etwas völlig Unbekanntes gewesen. Denn wer zum Militär geht, der wird nicht nach seinen Ansichten und seiner Philosophie zum Feind gefragt. Man wird ausgebildet, trainiert, das zu tun, was einem gesagt wird, Befehle auszuführen, nicht selbstständig zu denken. Er empfand diese Gedanken verwirrend, erschreckend und faszinierend zugleich und hatte plötzlich das Gefühl, in einen wilden, reißenden Strom gefallen zu sein: kalt, tobend und immer schneller forttragend von dem Steg, auf dem er sich bisher befunden hatte.

Ein unangenehmer, hoher Signallaut durchdrang sein Gedankendickicht und riss ihn jäh in eine andere eintönige Realität zurück. Verwirrt schaute er nach unten auf die Anzeigen, wandte den Kopf nach rechts und gewahrte ein hektisch blinkendes Lämpchen. Es signalisierte, dass die feindlichen Schiffe sie gescannt hatte - und war zugleich das Zeichen dafür, dass es kein Zurück mehr gab. Die zwei grünen Radarpunkte schlugen in Rot um, nachdem die IdentyScan-Sensoren die vor ihnen liegenden Schiffe ebenfalls als Feind erkannt hatten.
Sie wechselten unter einander noch einige knappe Funksprüche, um sich wie bei jeder Missionen gegenseitig Mut zu machen und Ratschläge auszutauschen. Einige Augenblicke später verstummten die Stimmen aber nach und nach. Es herrschte, auch aus Gründen der Vorsicht, schließlich absolute Funkstille. Als ahnte jeder, was käme. Es war die Stille vor dem Sturm, dem lautlosen Chaos in der Unendlichkeit.

Wie vereinbart, lösten sich ihre Formationen so auf, dass mit ihm einige Piloten etwas zurückblieben und Kurs auf den weiter abseits liegenden Frachter nahmen. Nur falls es notwendig erschien, sollten sie ebenfalls in den direkten Kampf mit dem Kreuzer eingreifen. Seine neu gruppierte Fliegerstaffel hatte somit in erster Linie nur dafür zu sorgen, dass dieser nicht auf irgend eine Weise entkam; dann wollte man das Geheimnis lüften, was sich tatsächlich an Bord verbarg und damit eine Hypothese bestätigt wissen.
Der andere größere Fliegerverband reduzierte allmählich seine Geschwindigkeit, machte seine Waffensysteme scharf und teilte sich auf, um den Schlachter von zwei Flanken unter Beschuss zu nehmen. Als sie nahe genug an das feindliche Objekt heranreichten, eröffneten sie das Feuer. In akzeptabler, sicherer Distanz überflogen sie die graue teilweise glatt schimmernde teilweise matte Oberfläche des Raumschiffes. Energiestrahlen zuckten auf diese nieder, rissen kurze Furchen, aus denen glühender Dampf stieß. Hunderte von Mikrobomben prasselten auf die Schiffshülle, bohrten sich tief ein und ließen die metallene Haut zerfetzen. Während die Flieger über die zerfurchte Landschaft hinwegjagten und aus feuerlodernden Kratern und Rissen mit einer unwirk­lichen Lautlosigkeit funkensprühende Dampferuptionen aus dem Inneren herausgeschleudert wurden, verspürte man in dem Cockpit der Raum-Flieger gelegentlich nur sanfte Erschütterungen.
Doch etwas stimmte nicht.
Seine Distanz war natürlich viel zu groß, um direkt erkennen zu können, was bei dem beschossenen Schlachtkreuzer vor sich ging. Er sah nur, wie ein Großteil des Verbandes bereits das Schiff überflogen hatte und sich für einen weiteren Anflug bereitmachten. Er griff in ein kleines Fach unter seinem Sitz und holte kurzer Hand einen Optozoomer hervor, um Details ausfindig zu machen. Es dauerte einen Moment, bis sich die Schärfe automatisch einstellte. Und dann erkannte er es: Das Schlachtschiff feuerte nicht zurück. Durch das Funken- und Feuerchaos war ihm zuerst entgangen, dass nur der attackierende Fliegerschwarm die Ursache für die vielen Lichtblitze der Energiestrahlen gewesen waren. Das feindliche Schiff war entweder auf unerklärliche Weise überrascht worden oder... es war eine Falle, schoss es ihn wie ein Blitzschlag durch den Kopf. Nein, das konnte nicht sein, durfte es nicht, versuchte er sich einzureden. Doch seine innerste Stimme ließ sich nicht beirren. Er schaute vom Schlachtkreuzer weg, überlegte krampfhaft und wandte seinen Blick dem vor ihm liegenden Frachter zu, den sie in Kürze erreichen würden. Wieder war es diese Stimme, die zu seinem Bewusstsein empor flüsterte: Verschwinde von hier, das ist eine Falle!
Er versuchte sich zu fassen, schaffte es mit einiger Mühe und dachte angestrengt nach. Er faßte einen Entschluß. Langsam drosselte er seine Fluggeschwindigkeit. Ein Rufsignal ertönte von einem seiner Flügelmänner, als er zunehmend zurückfiel. Er drückte eine Taste am Helm.
"Hier Zeta-Flieger Z-5," drang es aus dem Kopfhörer. "Was ist los mit dir? Hast du ein kleines Problem mit deiner Maschine?"
Er erwiderte nichts, sondern übermittelte nur eine Codesequenz; diese gab zu Verstehen, dass es nichts Schwerwiegendes sei. Nur ein kurzfristiger Ausfall einer untergeordneten Systemkomponente. Der Fehler würde gleich behoben sein.
Dann unterbrach er die Kommunikationsleitung.
Er schaute wieder zum anderen Ort des Geschehens. Die Jagdflieger waren gerade wieder dabei, den Schlachtkreuzer zu bombardieren. Und wieder stieben fackelartige Wolken aus dem Schiffskörper nach außen.
Als die ersten Flieger gerade über diesen hinweggeflogen waren, passierte es: Mit einer gewaltigen, schlagartigen, aber völlig stummen Explosion, zerbarst das feindliche Schiff. Es sah aus, als wenn eine übermächtige Faust es von Innen heraus zerschmettert hätte. Der Feuerball blähte sich auf, so als wolle er alles Lebende um sich herum verschlingen. Kleine, helle Funken glühten kurz in diesem Feuerball auf. Die Bewegung wurde jedoch mit der Zeit merklich geringer und erstarrte dann schließlich, während die Erscheinung gleichzeitig rasch ihre leuchtende Intensität verlor und sich in der Unendlichkeit langsam auflöste.
Seine Gedanken erstarrten. Er war gelähmt, wusste nach diesem Anblick nicht, was er denken oder gar tun sollte. Erst nachdem wertvolle Sekunden verstrichen waren, begriff er, dass nicht nur das Schiff auf überraschende Weise explodiert war. Viele, vielleicht sogar alle Kampfpiloten hatten in diesem schweigenden Inferno ihr Leben verloren. Piloten, die er kannte, mit denen er oft zusammen geflogen war - die er mochte. Die seine Freunde gewesen waren. Es überkam ihn ein eisiger, widerlicher Schauer und eine Fassungslosigkeit, die er nur mit Mühe niederkämpfen konnte.
Es war zwar keine Seltenheit, dass nach einem schweren Einsatz ein paar Piloten ernsthaft verwundet waren. Aber dass jemand für immer vermisst wurde, hatte er selbst nur zwei Mal erleben müssen. Es war dann ein eigenartiges Gefühl zu wissen, eine Person niemals wieder sehen zu können, dass sie von heute auf morgen nicht mehr da, nicht mehr erreichbar war.

Hier und jetzt musste er aber auf schmerzliche Weise Zeuge werden, wie viele Piloten, viele Leben in dem höllischen Feuer umkamen. Er hatte es mit eigenen Augen ansehen müssen. Aber wirklich begreifen, nein, wirklich akzeptieren konnte er es immer noch nicht! Er schloss kurz die Augen, versuchte einmal tief durchzuatmen. Dann blies er die Luft so gleichmäßig aus wie es ihm in seinem angespannten Zustand möglich war. Als er die Augen öffnete, sah er, wie sich das niedergehschlagende Kondenswasser seines ausgedehnten Atems wie ein diffuser Schleier über das durchsichtige Helmvisier gelegt hatte. Erst langsam zog sich dieser zurück und gab so die gewohnte Sicht wieder frei.
Er starrte in den leeren Raum hinaus. Sein Blick schweifte umher und... gewahrte plötzlich den Frachter, aus dem kleine punktförmige Objekte nach draußen strömten. Kampfflieger, es waren Kampfflieger!, wurde ihm schlagartig bewusst. Und es waren etliche, die aus dem Bauch des feindlichen Frachters hervorgequollen kamen.
Er gab sich einen entschiedenen Ruck, überlegte kurz und versuchte dann über einen Kommunikationskanal irgendjemanden zu erreichen. Zuerst ohne Erfolg, nur knappe hektische Funkspruchfetzen konnte er empfangen. Nicht nur er war in Panik geraten. Ihr Verband begann sich aufzulösen. Er erhielt über eine Codesequenz die Mitteilung, dass sie einen Rückzug einleiten sollten. Während der Großteil ihres Verbandes den Befehl erhalten hatte, zur Praydan zurückzukehren, sollten einige Flieger kurzfristig noch zurückblieben, um die feindlichen herannahenden Flugkörper abzufangen und damit den Schwärm teilweise aufzuhalten.
Doch es war zu spät.
Die meisten der Kampfflieger griffen bereits die vordersten Reihen an, einige jagten außen vorbei und stellten sich dann zwischen dem zum Teil aufgelösten Verband und dem rettenden Mutterschiff, zu dem ebenfalls weitere feindliche Maschinen flogen. Nun hatte sich nicht nur bei ihm endgültig die Gewissheit offenbart, dass es eine Falle gewesen war, aus der es praktisch kein Entkommen gab.
Immer mehr wurden sie von allen Seiten eingekreist. Panik machte sich im Funkverkehr breit. Auch wenn die Flieger der Erdstreitkräfte vielleicht besser ausgerüstet waren und technisch günstiger dastanden, schmolz dieser Vorteil durch die zahlenmäßige Überlegenheit des Feindes zu einer unbedeutenden, hoffnungslosen Chance zusammen, dass auch nur ein einziger von ihnen ihre Heimat, die Erde, wiedersah. In dieser Situation war seine Furcht wie weggeblasen. Auf einmal war es ihm, als wenn sich eine sanfte, warme Hand über seinen Geist legte, ihn in Trance fallen ließ und in eine andere Welt entführen wollte. Irgendwie hatte er schon fast das Gefühl, dass ein Ende auf dieser Welt, ein neuer Anfang auf einer anderen bedeutete; es war der Gedanke an eine friedlichere Welt, in der es wieder neue Hoffnungen gab. Ja, er sehnte sich geradezu nach jener vergessenen Legende namens Frieden.

Ein greller Lichtblitz, gefolgt von einem kleinen Ruck in seiner Kabine riss ihn aus jenen Traumessphären. Benommen blinzelte er die Augen und schüttelte leicht den Kopf. Er umklammerte das Steuer seiner Maschine und riss sie dann instinktiv zur Seite, um kein all zu leichtes Ziel zu werden. Auch ihn hatten die feindlichen Flieger nun erreicht. Wieder traf ein Energiestrahl seinen Kampfflieger. Feinste, bläuliche Entladungen hellten auf dem Deflektor-Schutzschild auf. Und wieder schwenkte er seinen Flugkörper ruckartig in eine andere Richtung.
Sein Blick wechselt in hektischer Folge von dem farbigen, abstrakten Radarbild nach draußen in die dunkle Realität und wieder zurück. Während sich die blauen Punkte noch recht träge bewegten, sah er, wie die kleineren roten Radarpunkte rasend schnell zwischen ihnen hindurch jagten. Ihre Zahl nahm unaufhörlich zu. Die automatische Zielerfassung versuchte vergebens in dem wild umherfliegenden Chaos aus tanzenden roten und blauen Leuchtpunkten ein feindliches Schiff anzupeilen. Er änderte mit wenigen schnellen Tasteneingaben die Einstellung der Ziel-Sensoren, um ein Zielobjekt besser halten zu können. Doch die Zahl der Objekte nahm derart zu, dass die computergestützte Anpeilung bereits nach kurzen Augenblicken wieder abriss und der feindliche Flugkörper wie in einem wilden Insektenschwarm untertauchte.
Er fluchte leise. Als er endgültig begriff, dass die Zielerfassung völlig nutzlos war, entschied er sich Zögern, das System auf "manuell" umzustellen und dort in den Raum zu zielen, wo die Dichte der roten feindlichen Punkte am größten war. Die Wahrscheinlichkeit, dabei einen Flieger der eigenen Seite zu treffen, war zwar vorhanden, doch lag die Trefferquote statistisch gesehen wesentlich höher ein Schiff der anderen Seite zu erwischen. Im Gegensatz zu ihren Fliegern besaßen diese Feinde offenbar keine Schutzschildtechnologie, so dass er ihnen auf diese Weise durchaus einen spürbaren Schaden zufügen konnte. Dies verstieß zwar gegen jede ehrwürdige Kriegskunst. Jedoch wurde diese Handlung aus Not der Verzweiflung geboren. Und immerhin war diese Methode seiner Ansicht nach immer noch besser, als völlig passiv, einer Zielscheibe gleich, in Richtung Mutterschiff zu fliegen.
Die Treffer häuften sich, so dass sein Schild zunehmend an Wirkung verlor. Er wechselte ständig seinen Kurs, schaukelte hin und her. Kurzfristig vermittelte ihm das eine Illusion von einem "anderen" Oben und Unten. Er flog ohne eine bevorzugte Richtung durch den Raum, in dem immer wieder grelle Wölkchen aufflammten. Es war ein unnatürliches Gewitter ohne vertraute Dimensionen. Ab und an sah er eine stumme Explosion, und es mochte für ihn in alle Ewigkeit ungewiss bleiben, ob es ein feindliches Schiff gewesen war oder nicht.
Sein Handeln wurde ab einen gewissen Punkt nur noch von seinen Reflexen gelenkt. Es schien ihm, als wenn sein Bewusstsein langsam aus dem Körper trat, um sich von außen beobachten zu können. Um vielleicht die Sinnlosigkeit zu verstehen, die der Körper tat. Und fast war es ihm, als wenn dieses Bewusstsein sich dafür schämte, in diesem Körper sein Heim zu haben.

Er wusste nicht, wie viel Zeit seit dem wilden, aber lautlosen Inferno verstrichen war. Aber er hatte auf einmal das Gefühl, aus einem Traum erwacht zu sein, einem Traum, der dieser Realität entsprang. Das Gefecht war keineswegs vorbei. Aufgrund seiner zickzackartigen Manöver war er rein zufällig etwas abseits vom Schauplatz geraten, in ein weniger hektisches Gebiet abgedriftet. Doch kaum fand er die Möglichkeit, sich in dieser überraschenden Ruhe zu orientieren, nahm er gerade noch einen wagen Schatten wahr, der vor seinem Gesichtsfeld nach links vorbeihuschte. Zwei weitere folgten. Instinktiv schwenkte er seine Maschine zur linken Seite, beschleunigte kurz und riss den Flieger ruckartig in die entgegengesetzte Richtung nach unten. Ein Energiestrahl zuckte an ihm vorbei, traf ihn aber nicht. Wieder änderte er seine Flugrichtung und feuerte in die Gegend, in der das Radar ein Ziel vermutete. Der Schuss ging jedoch ins Leere und verblasste in der Dunkelheit des Raumes. Auf dem Radarschirm gewahrte er einige verschwommene Punkte, die aus verschiedenen Richtungen in das Radarfeld eintraten und nach einiger Zeit wieder verschwanden. Zwei Punkte verhielten sich jedoch verdächtig anders als die übrigen: Sie schienen sich gezielt auf ihn zu zu bewegen. Er machte sich bereit, ein entsprechendes Ausweichmanöver auszuführen. Ein akustisches Warnsignal ertönte, um ihn auf die herannahende Gefahr aufmerksam zu machen. Er versuchte sich zu konzentrieren, behielt seinen Kurs in etwa bei, um vorzutäuschen, die Flugkörper nicht bemerkt zu haben.
Er schaute kurz nach draußen, in die Richtung, aus der sie kommen mochten, suchte den direkten Blickkontakt. Dann starrte er wieder nervös und angespannt auf den Schirm. Gleich würden sie in Schussreichweite sein. Plötzlich ertönte ein zusätzlicher Warnlaut. Er sah erschrocken, wie sich auf dem Radar zwei weitere feindliche Flieger auf ihn zubewegten - mit unglaublich hoher Geschwindigkeit. Drei weitere gesellten sich hinzu. Die Lage begann langsam wirklich ernst zu werden.
Es blieb ihm kaum die Gelegenheit, neue Überlegungen anzustellen, als plötzlich ein greller Strahl an ihm vorbeischoss. Reflexartig riss er seinen Flieger zur Seite. Ein zweiter Strahl zuckte vorbei und streifte den Schild, der blass aufleuchtete. In ständigen hektischen Flugmanövern änderte er in unregelmäßigen Abständen seinen Kurs, beschleunigte, mit dem Ziel, die Feinde wirkungsvoll abzuschütteln. Auf einmal verspürte er einen kleinen Ruck. Warnsignale heulten auf. Die Triebwerke setzten kurze Zeit aus - ein Zeichen der Überlastung. In diesem Moment erhielt er am Heck zwei direkte Treffer. Der Schutzschild war nun ebenfalls überlastet und die Energie­versorgung aus den Pufferkondensatoren brach für einen Augenblick zusammen. Die Reserveenergie aktivierte sich, so dass er wieder beschleunigen konnte und weiteren Schüssen weitgehend entging. Mit aller Gewalt schwenkte er instinktiv seine Maschine in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen sein mochten und erwiderte das Feuer. Frontal trafen seine Energiestrahlen ein dunkles Objekt, eine helle Wolke aus violettem Feuer leuchtete auf - ein möglicher Volltreffer. Dann ging es fast so schnell, dass er nicht einmal im nachhinein wusste, was eigentlich geschehen war: Das getroffene Objekt explodierte. Die Trümmerstücke trafen ein anderes feindliches Schiff, das dadurch direkt in seine Richtung abgelenkt wurde. Es kam auf ihn zugerast. Ein schrilles Alarmsignal heulte auf. Er versuchte der Kollision auszuweichen, doch der Antrieb versagte in seiner Leistung.
Reflexartig kniff er die Augen zu und riss den Kopf zur Seite, in dem Glauben, dadurch dem Unausweichlichen entgehen zu können. Doch es war unvermeidbar. Das Objekt streifte ihn derart stark, dass der Schild diesem Aufprall nicht standhielt und seine Maschine direkt getroffen wurde. Er nahm eine unbeschreibliche schockartige Druckwelle wahr, gefolgt von einem harten, weniger schmerzvollen Ruck. Sein Kopf wurde zur Seite gerissen, so dass er fast ohnmächtig wurde. Ein Akkord drohender Warnsignale ertönte. Funken sprühten unter einem Bedienungspult. Ein stechender Schmerz schoss in seine rechte Wade. Dünner, gelber Rauch stieß auf und leuchtete in dem diffusen Licht schwach auf. Dann fielen fast alle Bordinstrumente aus. Der Hauptreaktor war bei dieser Kollision zum Opfer gefallen und hatte die Notabschaltung aktiviert.
Es dauerte einige Augenblicke, bis die Notenergieversorgung automatisch anlief und so die wichtigsten Bordsysteme wieder zum Leben erwachten. Er war noch etwas benommen, doch wusste er genau, dass er in diesem so gut wie wehrlosen Zustand sein baldiges Ende finden würde. Und als ob es dem Tod nicht schnell genug gehen konnte, sah er auf dem Radarschirm, wie sich ein feindliches Flugobjekt aus der Ferne rasend auf ihn zubewegte. Er versuchte mehrmals, den Antrieb neu zu zünden.Doch ohne ersichtlichen Erfolg. Verzweiflung stieg in ihm hoch. Er wusste nicht, wie lange er in der Lage wäre, sich kontrollieren zu können. Aus den Augenwinkeln heraus sah er bereits ein schimmerndes Etwas auf ihn zurasen. Von einem Augenblick zum anderen, so als befände er sich in einer ganz anderen Szene seines Lebens, ließ er seine Hände langsam niedersinken. Dann blickte er mit einer ungewöhnlichen Gelassenheit auf den herannahenden Flieger.
In diesem Moment schloss er die Augen, atmete einmal tief durch und war bereit, sein Ende in der Tiefe des Alls zu finden. Wenn er sterben sollte, dann in Frieden. Das war sein letzter Wunsch. Ruhig und entspannt saß er da. Nur das noch immer schnelle Pochen seines Herzens nahm er wahr; wie es rhythmisch in seiner Brust pulsierte. Es war fast so, als wenn es nur der vergängliche Körper war, der sich vor dem Tod panisch fürchtete. Seine Seele dagegen war bereit. Er stellte sich in Gedanken vor, im nächsten Augenblick unverhofft aus einer Phantasiewelt zu erwachen, die Augen aufzuschlagen und in einem warmen, flauschigen Bett zu liegen, Daheim auf der fernen Erde. Wer weiß, formte sich in seinem Geiste langsam der Gedanke, vielleicht ist diese Realität auch nichts anderes als ein Traum - und der Tod ein lang ersehntes Erwachen...
Doch seine unbarmherzige Vernunft vergönnte ihm diese schöne Illusion.
Plötzlich durchdrang ein greller Blitz seine geschlossenen Augenlider. Verwirrt und fast schon enttäuscht öffnete er blinzelnd die Augen und versuchte den Ursprung des Blitzes auszumachen. Er gewahrte gerade noch, wie sich nahe ihm eine nachleuchtende Erscheinung in der Dunkelheit des Alls auflöste. Erst langsam begriff er, dass es wohl das ihn angreifende Schiff gewesen sein musste. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende geführt, huschte ein Objekt an ihm vorbei. Er schrak zusammen. Dann bemerkte er weitere Flugkörper. Kurz darauf ertönte ein Rufsignal. Noch immer etwas verstört, öffnete er aus Reflex einen Kommunikationskanal.
"Hier Sigma-Flieger S-7." drang es aus dem Lautsprecher in seinem Helm. "Rufe Zeta Z-9. Ist alles in Ordnung?"
Auch jetzt war er noch nicht völlig in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch mit einem Mal dämmerte es ihm. Erneut erhielt er eine Nachfrage.
"Hey, Bottle-Man ruft Baby-Face. Was ist los?"
Er überlegte kurz und bestätigte dann mit einer knappen Antwort, dass er vermutlich nur einen leichten Maschinendefekt habe, es aber zum Mutterschiff schon schaffen werde.
Offenbar waren einige Kampfflieger, so folgerte er, dem ver­hängnisvollen Inferno des explodierenden Schlachtkreuzers doch noch entronnen. Als sie merkten, was sich an diesem Ort abspielte, eilten sie herbei, in der Hoffnung, den Feind mit vereinter Kraft in die Flucht zu schlagen.
Mit Recht. Wie es aussah, hatte diese unverhoffte Verstärkung selbst den feindlichen Schwärm derart überrascht, dass er entschloss, sich vorerst zurückzuziehen - in der Absicht, sich zu sammeln und einen konzentrierten, gezielteren Gegenschlag auszuführen. Gerade in dieser Situation sah das Oberkommando auf der Praydan einen taktischen Vorteil. Sie nutzten jenen Augenblick für die Gelegenheit, den Feind doch noch zu besiegen und befahlen ihm nachzusetzen; Verluste sollten dabei keine Rolle mehr spielen. Einige Piloten waren verunsichert, nahmen den Befehl aber in Angriff - außer ihm. Er war immer noch damit beschäftigt, die Antriebsaggregate in Betrieb zu setzen und hatte dabei das schier unglaubliche Glück, von keinem feindlich gesinnten Flieger bedroht zu werden.
Dann, als er aus verzweifelter Ermüdung kurz davor war aufzugeben und auf Unterstützung zu warten, sprang der Hilfsantrieb an. Erleichtert atmete er auf und versuchte dem zuständigen Kommando mitzuteilen, es doch noch allein bis zum Mutterschiff zu schaffen. Als er ein unangenehmes Rauschen in der Verbindung bemerkte, nahm er zunächst an, dass es an seinen angeschlagenen Bordinstrumenten lag und gab zu verstehen, aus diesem Grunde auf einen anderen Kanal zu wechseln. Es wurde ihm daraufhin mitgeteilt, dass sich die Praydan unter Beschuss befände; die Lage sei noch nicht ernst, nur werde die Kommunikation nachhaltig gestört.
Nach allem was er jedoch bisher erlebt hatte, beunruhigte ihn diese Nachricht. Wahrscheinlich unterschätzen sie die Lage auch in diesem Fall. Kaum hatte er diesen Verdacht geformt, erfuhr er über den allgemeinen Funkverkehr eine weitere Mitteilung: Die Feinde waren umgekehrt und gingen ihrerseits zum Angriff' über. Offensichtlich hatten sie die Taktik der Erdstreitkräfte rechtzeitig bemerkt und wollten der beabsichtigten Handlung zuvorkommen.
Verdammt! schoss ihm dieser Fluch wie ein scharfer Pfeil durch seine Gedanken, so als wäre allein sein Verdacht die Ursache des Geschehens.
Gleichgültig ob er hier vor Ort blieb oder zum Mutterschiff flog, die Sache sah besonders für ihn in beiden Fällen nicht gut aus. Zwar war es ihm inzwischen gelungen, die Waffensysteme wieder teilweise in Funktion zu setzen. Aber dennoch stellte er aufgrund seiner geringen Geschwindigkeit ein allzu leichtes Ziel dar, so dass er nur abwarten konnte - bis sich endgültig entschied, wer den Kampf gewann.
Abwarten. Nichts tun. Nur zusehen bis das Schicksaal ihn ereilte.
Er fühlte sich hilflos, als er merkte wie absolut paradox seine Lage war: Er war in diesem Flieger auf engstem Raum gefangen und zugleich hilflos verloren in der unvorstellbaren Weite des Alls.
Allein.
Seine Überlegungen begannen sich im Kreise zu drehen. Wieder stieg in ihm ein leichter Anflug von Verzweifelung auf. Oder war es Wut? Der unbeschreibliche Zorn auf die Feinde, die gottlose, verdammte Gegend, die Situation als solche oder sogar gegen... die Erdstreitkräfte?!
Er hielt inne.
Seine Gedanken schienen mit dem anhaltenden Atem in einer sonderbaren Phase der Gefühllosigkeit zu schweben. Er wusste nicht, was er denken sollte, und welchen Gefühlen er es gestatten konnte die Oberhand zu übernehmen. Wieder fiel er in eine Art Trance, die ihn weit, weit weg von diesem Ort entführte. Sein Blick schweifte gedankenverloren umher. Dann sah er nach draußen, sah in der tiefen, weiten Ferne winzige Blitzentladungen. Die feindlichen Schwärme waren erneut dabei sich eine bittere Schlacht zu liefern. Jetzt, so weit von diesem Geschehen entfernt, konnte er sich nur schwer vorstellen, dass sich dort ein grausames Szenario ereignete. Und dass er vor kurzem selbst noch dabei gewesen war. Aus dieser Perspektive, diesem Standpunkt sah es so... unverständlich aus? Er überlegte, fand aber doch keinen passenden Ausdruck dafür. Vielleicht gab es kein Wort, daß diese Auseinandersetzung wirklich beschreiben konnte, dachte er schließlich.
Er wusste nicht genau, wie viel Zeit seit dem zweiten Angriff verstrichen und er in Gedanken versunken gewesen war. Als sich der verbliebende Schwärm beim Rückflug zur Praydan bei ihm meldete, war es für ihn jedoch ein Zeichen dafür, dass die Feinde diese Schlacht wohl verloren hatten. Sicher, er war jetzt erleichtert. Schließlich hatte er es so gut wie überstanden. Doch auf der anderen Seite mischte sich ein eigentümliches Gefühl in diese Empfindung. Sich auf diesen Sieg freuen, nein, sich wirklich freuen konnte er einfach nicht. Denn diese Errungenschaft war unweigerlich mit Verlusten verbunden, die ihm irgendwie unberechtigt erschienen. Es war wie eine süße Speise, bei der ein unangenehm, salziger Nachgeschmack auf der Zunge blieb, der auch mit viel Wasser nicht wegzuspülen war.
Mit einem leichten Seufzer aktivierte er seine Hilfstriebwerke. Die anderen Flieger besaßen eine höhere Fluggeschwindigkeit als er, so dass er im Geschwader langsam zurückfiel. Er würde als Letzter das Mutterschiff erreichen, was ihm jedoch gleichgültig war.
Plötzlich hielt er den Atem an.
Die Praydan! Was ist eigentlich mit der Praydan passiert?!
Irgendwie hatte er sie seit der letzten Funkverbindung völlig aus seinem Bewusstsein verdrängt. Sofort nahm er die Verbindung auf. Zu seiner Beruhigung meldete sich eine Stimme von der Kontrollzentrale. Diese übermittelte ihm die Nachricht, dass die Praydan zwar etwas beschädigt sei, aber die Situation letzten Endes gut überstanden habe. Abermals erleichtert, atmete er auf und ließ sich in den Pilotensitz zurücksinken. Während er seine Gedanken langsam wieder begannen abzudriften, fragte er sich dabei, ob sich durch die letzten Geschehnisse sein Leben auf bedeutsame Weise verändert hatte. Oder war es ein Kampfeinsatz gewesen wie jeder andere? Es überraschte ihn kaum, dass daran kein Zweifel bestand. Vor seinem geistigen Visier huschten bruchstückhaft einzelne Ereignisse vorbei - schemenhafte Standbilder seiner Erinnerung. Es war nicht nur einfach das Entsetzliche und Extreme an diesen Bildern gewesen, die ihn zu einem etwas anderen Menschen geformt hatten. Vielmehr war es die Wirkung, die jene Ereignisse in ihm aufwirbeln ließen: die ungewöhnlichen Empfindungen, eine andere, verschobene Sichtweise. Vielleicht sogar ein anderes Denken.
Gleichzeitig drängte sich ihm die Frage auf, ob er eventuell bereits nach einigen Tagen all dies vergessen haben würde. Dann, wenn sich auch der wilde Sturm in den Tiefen seiner Seele gelegt haben würde, er zu Hause wäre, seine Familie wiedersähe - und dies alles hinter sich lassen wollte. Er ahnte bereits mit einem Hauch von Trübsal, dass diese Bilder mit der Zeit an Farbe verlieren würden. Und durch dieses Vergessen würde er etwas ungeheuer Wichtiges unweigerlich aus den Händen rinnen lassen. So merkwürdig es klang, aber gerade davor hatte er fast schon Angst. Er hatte Angst etwas Kostbares, Unersetzbares zu verlieren.

Ein wohl vertrautes Warnsignal schrillte rücksichtslos auf. Er wischte seine Trübsal kurzer Hand bei Seite. Zunächst dachte er, es handle sich um keine potentielle Gefahr, sondern eher um eine Fehlfunktion der Instrumente. Das wäre jedenfalls wahrscheinlich und zudem nicht das erste Mal gewesen. Durch die Kollision war unter anderem der Bordcomputer arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Eine oberflächliche Systemdiagnose gab dazu erste ungefähre Anhaltspunkte.
Doch er hatte sich getäuscht. Zu seiner Überraschung entdeckte er auf dem gelegentlich leicht flackernden Display des Ortungssystems einen kleinen grünlichen Punkt, der sich ihm von hinten näherte. Es blieb nur ein einzelner, dieser bewegte sich jedoch mit relativ hoher Flug­geschwindigkeit. Zuerst dachte er an einen Flieger aus den eigenen Reihen. Das konnte aber nicht sein. Warum gab der Computer sonst Alarm? Er schaute sich das Radardisplay genauer an. Die Entfernung war viel zu groß, als dass die IdentyScan-Sensoren das Objekt kennzeichnen konnten. Aber wieso dann die Warnung, nach der es sich um einen feindlichen Flugkörper handeln musste? Der Radarpunkt zeigte sich paradoxerweise in einem klaren, neutralen Grün. Sicher war nur, dass hier was nicht stimmte. Ein Flieger der Erdstreitkräfte konnte es eben so wenig sein, denn soweit er wusste, war er am weitesten vom Mutterschiff entfernt. Oder gab es eventuell doch noch einen weiteren Nachzügler?
Er überlegte. Dann versuchte er, das unbekannte Flugobjekt über den Breitbandfunk zu rufen.
Keine Antwort.
Als selbst nach dem vierten Mal keine Rückmeldung kam, gab er auf. Wieder dachte er nach. Ein größeres Trümmerstück konnte es noch weniger sein, denn für gewöhnlich beschleunigten solche Teile äußerst selten. Dieser dagegen schon.
Seiner Gelassenheit wich langsam ein erhöhtes Maß an Nervosität. Konnte es vielleicht doch ein feindliches Fluggerät sein? Erneut starrte er auf den leuchtenden, mysteriösen Punkt. Auf einmal sah er, wie dieser in Rot umsprang. Als er den ersten leichten Schrecken überwunden hatte, war er etwas verwirrt. Den Angaben zufolge, war er etwa 70 Distanz-Einheiten entfernt. Die Sensoren waren aber erst in der Hälfte dieser Strecke in der Lage, ein Objekt eindeutig zu identifizieren. Woher wusste der Computer etwas, was er an sich unmöglich wissen konnte? Sichtlich nervös und eine Spur verblüfft, beobachtete er das rote Radarsymbol weiter. Dann geschah etwas Sonderbares. Von einem Moment zum anderen kehrte sich dieser wieder in den grünen Farbton um. Und ehe er sich darüber auch nur zwei Sekunden wundern konnte, schlug das Symbol unvermittelt in Blau um. Einen Augenblick später wieder in Rot. Die Entfernung betrug nun weniger als 64 Distanzeinheiten, was einer Flugzeit von etwa fünf Minuten entsprach. Er schlug mit der flachen Hand leicht auf das Display. Wieder wechselte der Punkt seine Farbe. Als er nochmals gegen die Oberfläche schlug, entschied sich der Leuchtpunkt endgültig im roten Farbton zu verweilen. Ganz offensichtlich wiesen die entsprechenden Systeme erhebliche Fehlstörungen auf. Doch gleichgültig, was die Sensoren meinten zu erkennen, blieb eine Tatsache unverkennbar bestehen: dass sich ihm ein unbekanntes Objekt näherte. Und zwar ungeheuer schnell. Der Abstand war inzwischen auf etwa 55 Distanz-Einheiten zusammengeschmolzen.
Bei einer kurzen Überprüfung der Systeme waren aber seltsamerweise keine nennenswerte Störung festzustellen. Er versuchte, die Fassung zu bewahren und nachzudenken. Wenn es dann weder ein Fragteil noch ein ihm bekannter Nachzügler war, dann konnte es an sich nur...
Er stockte.
Es konnte nur ein feindlicher Flieger sein! Unmöglich! Wieso sollte ein einzelner Kampfflieger ihn angreifen? Doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, dass dies durchaus wahrscheinlich war. Nachdem auch der zweite Versuch, den Flugkörper zu rufen, erfolglos blieb, gab es für ihn keine Zweifel mehr.
Angenommen, es handelte sich tatsächlich um einen Flieger der anderen Seite, das die Schlacht irgendwie überstanden hatte. Wieso musste er jetzt ausgerechnet ihn angreifen? fragte er sich, obwohl er wusste, dass es einfach unsinnig war, dem unbegreiflichen Schicksal eine derart alberne Frage zu stellen.
Im Normalfall war er diesem Schiff im gegebenen Verhältnis weit überlegen. Und selbst in dieser Situation standen seine Chancen immer noch günstiger als die des Gegners. Und gerade das verwirrte ihn.
Nach einigen sich wiederholenden Überlegungen einen Sinn darin zu finden, schloss er, dass der gegnerische Frachter ebenfalls zerstört worden war. Dann war es logisch anzunehmen, dass der durch Zufall verbliebende Jagdflieger keine Rettung mehr für sich in Sicht sah und eine Erlösung auf diese Weise suchte. Er schaute wieder auf das Radar-Display. Kein Zweifel, der Flugkörper bewegte sich von hinten direkt auf ihn zu - und beschleunigte unaufhaltsam. Auf diese Art würde das Objekt in weniger als drei Minuten... Seine Gedanken stockten abermals. Diesmal jedoch heftiger. Er erbleichte, als er die Absicht des Fliegers zu erkennen glaubte. Nein, das ist doch absurd!, versuchte ihn eine innere Stimme zu beruhigen. Doch, was denn sonst? schrie eine andere hämisch dazwischen. Leichter Angstschweiß begann sich auf seiner Stirn zu bilden. Und je länger er den leicht verschwommenen Radarpunkt anstarrte, desto eindringlicher wurde ihm klar: Bei dieser Geschwindigkeit musste der Feind seine gesamten Waffensysteme deaktiviert haben. Nein, jetzt war jeglicher Zweifel zur Seite gefegt: Es hatte vor mit ihm zu kollidieren.
Sie sollten beide sterben.

Die Nervosität schwenkte ohne Vorwarnung in eine unaufhaltsame Panik um. Er konnte nicht glauben, dass es für ihn immer noch nicht vorüber war, diese entsetzliche, irrsinnige Schlacht! Er beschleunigte ebenfalls, in der Hoffnung, dadurch etwas mehr Zeit zu gewinnen. Gleichzeitig versuchte er, einen Piloten zu erreichen. Vielleicht, so dachte er, war es möglich, dass sie den Jagdflieger abfingen. Es blieben ihm noch etwa zweieinhalb Minuten.
Der Funkverkehr war leicht gestört, so dass er zunächst Probleme hatte, eine stabile Verbindung zu erhalten. Besorgt musste er feststellen, dass die meisten Piloten zu weit entfernt waren, einige sogar bereits auf dem Landedeck der Praydan. Obwohl zwei, drei Flieger ihm Unterstützung zusagten, erkannte er schnell, dass sie ihm wahrscheinlich nicht rechtzeitig zur Seite stehen konnten. Ein unbestimmtes Maß an Hoffnung war letzten Endes das Einzige was ihm blieb.
Wieder richtete er seinen Blick auf den Radarpunkt, der wie ein Komet über die gerasterte Fläche kroch. Eine kleine Anzeige sagte ihm, dass noch etwa 30 Einheiten zwischen ihnen lagen. Seine Anspannung stieg.
Zwei Sekunden später verspürte er eine leichte Vibration. Dann war ein Signallaut zu hören, begleitet von einer warnenden Anzeige auf einem anderen Bildschirm: der Hilfsantrieb war ausgefallen.
Er fluchte leise. Aber mehr aus verzweifelter Furcht als aus Wut. Das Schicksal war nicht grauenvoll, es war entsetzlich ungerecht. Aber hatte er wirklich geglaubt, dass ihm das Schicksal vorhin gnädig gewesen war, als er dem Feind hilflos ausgesetzt war? Nein, dachte er zu sich selber höhnisch, es war nur eine ganz besondere Art, ihn zu quälen.
Auf einmal löste sich seine innere Anspannung ein wenig. Fast gleichgültig schaute er wieder auf das fluoreszierende Koordinatennetz des Radars, umsäumt von Zahlen und blinkenden Symbolen, die sich gelegentlich zu neuen Gruppen formierten, um den gegenwärtigen Status anzugeben. Das Objekt näherte sich dem Zentrum des Netzes immer schneller, dort, wo er seine imaginäre Position hatte.
Noch knapp 24 Distanzeinheiten.
Er spürte, wie ihn langsam die Kraft verließ, sich noch einmal gegen die drohende Gefahr aufzuraffen. Wieder fühlte er die Verlockung, die von der sanften, beruhigenden Hand ausging, ihn von dieser Welt des Vergänglichen und Unvollkommenen fortzuführen. Die Verlockung, endlich ein friedliches Ende zu finden. Sein Blick schweifte leicht verträumt umher, schaute nahezu unbewusst nach draußen in die dunkle, stille Ferne. Unscharfe Sternenbilder schwammen verspielt vor seinen Augen. Er sah auf das Radar-Display herab, beobachtete geradezu teilnahmslos den rot leuchtenden Punkt. Eine merkwürdige aber klare Überlegung erhob sich dabei langsam aus seinem wirren Gedankengeflecht. Auf diese Weise sah das Schiff so harmlos aus. Freund oder Feind - außer der willkürlichen Farbgebung des Computers schien es keinen richtigen, keinen realen Unterschied zu geben.
Die Entfernung hatte sich bereits auf gut 19 Einheiten reduziert.
Wie in einem Spinnennetz, flüsterte ihm eine innere Stimme geheimnisvoll zu.
Sein Blick blieb am Display hängen. Er überlegte. Was waren das für Gedanken? Er war irritiert. Entweder wurde er langsam verrückt, was aber angesichts dieser Situation bald keine Rolle mehr spielte. Oder hinter dieser seltsamen Botschaft verbarg sich eine brauchbare Lösung. Er überlegte angestrengt, so als suchte er in seinen Hirnwindungen nach dem Ursprung dieser Stimme, um zu fragen, was dies bedeuten solle. Er hatte eine Idee zum Greifen nahe, das fühlte er, und auf einmal schöpfte er neue Hoffnung. Jetzt wollte er nicht wieder aufgeben. Doch wenn es wirklich eine Chance gab, musste er sich beeilen. Es trennten ihn noch weniger als 15 Einheiten vom rasenden Todesobjekt.
Er atmete einmal tief durch. Obwohl die Zeit äußerst knapp war, versuchte er sich zuerst geistig zu sammeln, bevor er seinen Plan umzusetzen gedachte. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Warnend teilte ihm eine Symbolzeile mit, dass das feindliche Schiff mittlerweile weniger als 11 Einheiten entfernt war, entsprechend etwa 45 Sekunden.
Plötzlich hatte er eine Idee. Nachdem er nochmals tief Luft geholt hatte, öffnete er auf einem anderen Display ein gelb unterlegtes Fenster. Das Bild verzerrte leicht, ein unregelmäßiges Rauschen war zu hören und zu seinem Entsetzen füllte sich die Fläche mit einer dunklen Leere. Gerade als er begann, ungeduldig zu werden, tauchte das Menüfenster wieder auf. Seine Finger berührten einige Symbole, die kurz aufblinkten und dann wieder verschwanden. Nervös schaute er auf die Angabe des Radars:
Noch 37 Sekunden.
Er fuhr mit seiner Prozedur fort, indem er ein weiteres Bedienungsfenster öffnete und auf einem Ziffernfeld einige Zahlenkombinationen eingab. Dann drückte er nach kurzem Zögern ein großes, grünleuchtendes Tastenfeld. "System-Verknüpfung erfolgreich!" teilte ihm der Computer kurz mit. Mit einem hohen, klaren Bestätigungston verschwanden die vorigen Fenster, und auf einem rot unterlegten Feld erschien in einem überproportionalen Schriftzug:

! WARNUNG !
* AUTOMATISCHE ABKOPPLUNGS-SEQUENZ AKTIVIERT *

Damit konnte er nichts mehr tun. Er konnte jetzt nur noch abwarten und hoffen, dass die Systeme nicht versagten. Trotzdem ließ seine Anspannung kaum nach. In weniger als 23 Sekunden würde er wissen, ob er alles richtig gemacht hätte, ob die programmierte Absprengung kurz vor der Kollision erfolgen würde. Als habe das Schicksal diesen Gedanken heimlich gelauscht, vernahm er plötzlich einen tiefen mehrfachen Ton. Unterhalb der ersten Schriftzeile erschien ruhig blinkend der Hinweis:

ACHTUNG: Mögliche Fehlfunktion der 4. Programmierstufe !

Der erste Schock kostete ihm fast drei wertvolle Sekunden. Dass es nicht so funktionierte, wie es eigentlich sollte, war natürlich zu erwarten gewesen und schon verheerend genug. Aber was um Himmels Willen war noch mal mit einer verdammten 4. Stufe gemeint? Manchmal konnte er diese blödsinnigen Kommentare wirklich hassen! Reflexartig drückte er auf das betreffende Feld, woraufhin ihm folgendes Angebot unterbreitet wurde:

Bitte wählen: ABRUCH DER SEQUENZ oder DIAGNOSE ERSTELLEN

Die schleichende Verzweifelung machte sich in seinen Gedanken wieder breit. Es blieben ihm nur noch wenige Augenblicke bis der Flieger mit ihm kollidieren würde. Viel hatte er bald nicht mehr zu verlieren. Er entschied sich kurzer Hand für die zweite Möglichkeit. Vielleicht handelte es sich nur um eine banale Kleinigkeit. Banal... Er musste innerlich fast lachen, als er merkte, wie naiv dieser Gedanke war.
17 Sekunden.

Nachdem alle Hinweise weggefegt wurden und ein freundliches "Bitte warten!" in der Bildschirmmitte im gemütlichen Sekundentakt erschien und wieder erlosch, verspürte er in dieser Situation auf einmal ein eigenartiges Gefühl. Entweder war alle Furcht verflogen - oder seine Angst hatte Dimensionen erreicht, die er nicht mehr wahrzunehmen vermochte.
Ein zaghaftes Schmunzeln formte sich in die Linien seines Gesichtes. Es kam ihm beinahe so vor, als ob sich der Computer mit dem lieben Schicksal zu diesem seltenen Scherz gegen ihn verschworen hatte. Allerdings konnte ihm das in elf Sekunden egal sein, nein, alles konnte ihm dann egal sein.
Der freundliche Schriftzug verschwand zunächst ohne jede weitere Erklärung. Dann listeten sich zeilenweise die Ergebnisse der Diagnose auf. Seinen Erwartungen entsprechend verstand er nicht alles. Um genau zu sein, er verstand nicht annähernd so viel, um damit etwas Sinnvolles anfangen zu können. Verflucht, hätte er doch auf der Akademie besser aufgepaßte. So konnte er nur mutmaßen, dass es sich um irgendwelche exotischen Fehlermeldungen handelte. Oder der Bordcomputer hatte doch mehr abbekommen, als er angenommen hatte und tickte jetzt völlig durch. Lächelnd schüttelte er den Kopf. Na. gut, dann geb' ich auf!
Sieben Sekunden.
Er klatschte mit der rechten flachen Hand auf das Bedienungspult. Die aufgeführten Daten erloschen im nächsten Augenblick. Wieder war ein leises Rauschen zu hören. Ein völlig anderes Bild baute sich auf, wurde durch gelegentliche Verzerrungen jedoch unkenntlich gemacht. Er schlug nochmals auf dieselbe Stelle. Das Bild stabilisierte sich sofort, und es erschien die überraschende Mitteilung:

! NOTFALL-SEQUENZ ZUR ABKOPPLUNG EINGELEITET UND AKTIV !
- Manuelle Auslösung erforderlich -


Er konnte ein gewisses Erstaunen nicht unterdrücken, wusste nicht, was dieser Streich nun sollte. Doch bevor er wirklich die darin enthaltende Bedeutung begriff, übernahmen seine Reflexe die sein Handlungswillen. Blitzschnell fuhr seine rechte Hand auf eine hellgrün leuchtende, kreisrunde Fläche, auf das vier Dreieckspfeile blinkend hinwiesen.
Kurz darauf ertönte ein tiefes, mahnendes Signal. Ein heftiger Ruck riss ihn tief in seinen Pilotensitz. Das Blut sackte in seine Beine und er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Zwei Sekunden später war es vorbei. Die Generatoren für die Trägheitskompensation und künstliche Schwerkraft waren kurz ausfallen oder überlastet gewesen, stellten aber nach der erfolgten Absprengung der Cockpit-Kapsel die gewohnten Verhältnisse automatisch wieder her. Bis zu seiner Rettung würden auch die Schutzschilde aus den Speicherzellen genügend Energie erhalten, um ihn vor tödlichen Strahlen und Trümmerstücken zu bewahren.
Er erlangte das volle Bewusstsein rasch wieder und blickte aus dem rechten Cockpit-Fenster. Er sah gerade noch, wie sein Kampfflieger sich "unter" ihm befand und dabei zu schrumpfen schien, während es sich augenscheinlich von ihm fortbewegte. Gerade als er sich fragte, was eigentlich aus dem angreifenden feindlichen Flieger geworden war, gewahrte er im letzten Moment einen dämonischen Schatten, der in einigem Abstand an seinem führerlosen Flieger vorbeihuschte. Es konnte nur jener Feind sein. Verwirrung machte sich auf einmal in ihm breit.
Wieso hatte der Feind sein Ziel verfehlt, warum kollidierte er nicht mit seiner Maschine? Dieses sogenannte Schicksal war wohl für jede Überraschung gut...
Er wusste nicht recht, ob er jetzt froh, überrascht oder verärgert sein sollte - er wusste nicht genau worüber eigentlich. Alle Emotionen schienen auf einmal da zu sein, sich wie in einem Hexenkessel brodelnd zu durchmischen. Und um dann, jede für sich, eine dominante Stellung zu erringen.
Er drehte seinen Kopf wieder nach vorn und starrte etwas abwesend auf die Anzeigen. Die Computersysteme hatten nun offenbar gänzlich ihren Geist aufgegeben. Nur ein flimmerndes Stand-by-Bild war auf einem Display zu sehen. Er berührte die glatte Oberfläche, aber es trat keine besondere Reaktion ein. Nachdem sein Adrenalinspiegel begann, langsam abzuschwellen, blickte er verträumt durch das Frontfenster in die Ferne des Weltraums hinaus. Sein Blick wanderte sprunghaft von einem Stern zum anderen und schien einem unsichtbaren Pfad in den unbestimmten Mustern der Himmelspunkte zu folgen. Jeder Stern war anders, jeder auf seine Weise einzigartig. Einige leuchteten mit einem charakteristischen hellen Glanz, andere besaßen einen auffallenden farblichen Stich. Die meisten typischen Sterne übersäten den Himmel wie ein feines, kosmisches Tuch in unzählbaren Konstellationen. Zusammen mit den lichtschwachen Sonnen, die wie schimmernder Staub zwischen diesen Lichtpunkten verteilt waren und den hier und da erkennbaren diffusen Nebeln, war es ein unbeschreiblicher Eindruck göttlicher Herkunft.
Seine Kapsel vollführte eine geringfügige Eigendrehung. Er sah, wie die Lichtpunkte langsam, sehr langsam aus dem verdeckten Bereich des unteren Frontsichtfensters auftauchten und zugleich am oberen Rand des Trägerrahmens über seinem Kopf verschwanden. Assoziationen wurden in ihm frei. Es war fast so wie auf der Erde. Nachts, wenn sich der Boden, auf dem man in klaren, ruhigen Nächten steht, unter dem Himmelszelt darunter wegbewegt. Langsam, ganz langsam, aber bis in alle menschliche Ewigkeit.
Von den Kampffliegern hatte er seit dem letzten Funkkontakt nichts mehr gehört. Ein, zwei Mal versuchte er, über einen Kommunikations­kanal, irgendeine Menschenseele zu erreichen. Doch nur verzerrtes Rauschen und Knistern war zu empfangen. Wahrscheinlich versagte jetzt auch dieses System. Er aktivierte den Notpeilsender, um die Bergung seiner Kapsel zu erleichtern.
Wer weiß, vielleicht würde er sich wie die Erde bis in alle Ewigkeit um seine Achse drehen. Nur dass er hier draußen nie eine wärmende Sonne aufgehen sehen würde, eine Sonne, die den östlichen Horizont in ein erwachendes Rot tauchte. Sein Blick blieb an einem mittelschwachen, unbedeutenden Stern fixiert. Vielleicht war es gerade dieser Stern, um den sein Heimatplanet seit Äonen seine Bahn zog.
Bedächtig blies er einen sanften Lufthauch aus und hielt dann den Atem an. Dabei kam ihm ein ungewöhnlicher Gedanke ins Bewusstsein. Die Vorstellung, dass es im Universum fast so viele Sterne gab wie unsichtbare Teilchen in diesem zarten Hauch aus Luft, war für ihn...Er überlegte und hielt inne. Oh Gott, was war das für ein seltsames Zeug, was da aus irgendwelchen durchgeknallten Nerven­strängen hervorkam? dachte er erschrocken. War er jetzt etwa vollkommen durchgedreht? Doch andererseits fand er diesen Gedanken fast schon wieder faszinierend, beinahe schon komisch. Ehrlich gesagt, interessierte es ihn sogar auf eine besondere Weise. So entschied er sich, diesen Gedanken weiter hinzugeben. Was konnte er sonst schon tun? Und je länger und intensiver er über diesen eigenartigen Gedanken nachsinnte, desto mehr musste er gestehen, es einfach nicht zu wissen, wie er diese Vorstellung einordnen sollte. Vielleicht war das so unvorstellbar wie das gesamte Universum selbst. Niemals würde er alle Sterne sehen können und niemals könnte er damit alles wirklich begreifen. Aber musste man das überhaupt, um zu erkennen wie einmalig die Welt war?
Wieder musste er an die Erde denken, an den blauweißen Planeten, der wie eine schimmernde, kostbare Perle im geheimnisvollen Samt der Nacht schwebte. Sehnsucht umschlang ihn, Sehnsucht nach seinem Zuhause, seiner Familie und... Trübsinnig verlor sich sein Blick in der Ferne, dort, wo die Erde irgendwo ihren Platz hatte. Er musste an seine Lebensgefährtin denken, die in der Ferne auf ihn wartete - vielleicht.
Seit dem letzten, überraschenden Angriff auf eine im Orbit befindliche Raumstation, hatte er von ihr nichts mehr gehört. Weder von den zuständigen Behörden, geschweige von ihr selbst. Vor etwa drei Wochen war dies geschehen. Oder waren es schon vier? Die Zeit verlief hier draußen anders. Sicher war nur, dass es viele Opfer gegeben hatte. Die meisten konnten den allgemeinen Angaben zufolge jedoch mit Rettungsmodulen- und kapseln auf die Erde flüchten. Es stellte sich dabei als ein langwieriges Unterfangen heraus, all jene Menschen zu bergen, die in den Ozeanen gewässert waren. Ob seine Frau überlebt hatte, blieb für ihn bisher im Verborgenen.
Seine rechte Hand fuhr langsam und tastend über seine Brust. Obwohl sein Tastvermögen durch die Schichten des Raumanzuges vermindert war, konnte er dennoch einen flachen, harten Gegenstand an dieser Stelle fühlen. Es war eine Art Amulett, ein Glückbringer, der ihm seine Frau bei ihrem vorletzten Treffen geschenkt hatte. Es handelte sich um einen verzierten Anhänger, in dem zwei kleine Steine kunstvoll ineinandergefasst waren. Soweit sie erfahren hatte, stammte der eine von der Erde, vom Grund eines tiefen Meeresgraben, irgendwo im Südpazifischen Becken. Der andere Stein dagegen hatte seinen Ursprung von einem fernen Planten, weit außerhalb ihres Sonnensystems. Angeblich von Terra Antares.
Er musste an ihr wunderschönes Lächeln denken und die letzte Nacht, die sie zusammen verbracht hatten. Auf der Erde, als sie in den tiefen Himmel schauten und beide verträumt in die blinkenden, flackernden Sterne sahen. Er hatte relativ oft über ihr Schicksal nachgedacht. Doch in diesem außergewöhnlichen Augenblick war es anders. Er fühlte, wie kostbar jeder Moment gewesen war, den sie zusammen gewesen waren, jetzt wo er allein war. Ja, so frei wie er nun war, gab es kaum ein anderes Wesen. Aber zum Teufel! Was nutze jede Freiheit, wenn man für diese keine Verwendung hatte?
Seine Augen füllten sich mit Tränenflüssigkeit und ließen die Sternbilder zu tanzenden, strahlenden Lichtfiguren verschwimmen. Er blinzelte in rascher Folge, da er aufgrund seines Helmes die Augen nicht trocken wischen konnte. Die Feuchtigkeit verflüchtigte sich allmählich. Als er seinen Blick wieder nach draußen richtete, schien er die Sterne immer noch undeutlich zu erkennen. Merkwürdig war nur, dass es an der gleichen Stelle war. Er blinzelte erneut, aber die Sterne... es war, als wenn sie sich leicht bewegten, auf der Stelle hin und her tanzten! Er kniff seine Augen kurz zu und versuchte dann, diese Stelle genauer zu betrachten. Einige Lichtpunkte zogen kurze Bahnen, andere huschten an diesen vorbei. Er bemerkte, wie sich dieser sonderbare Fleck zudem verschob und dabei schneller zu werden schien. Zugleich hob sich dieses Phänomen zunehmend vom kosmischen Hintergrund ab und dehnte sich außerdem merklich aus. Er dachte nach, suchte nach einer möglichen Erklärung.
Gerade als er seinen Optozoomer zu Hilfe nehmen wollte, hatte sich die Erscheinung so weit verändert, dass ihm schlagartig bewusst wurde, was es war, war er sah. Es handelte sich um ein dunkles Objekt, in dem sich die umgebenen Sterne spiegelten und wie geisterhafte Lichter auf der glänzenden Oberfläche hinweg huschten. Er wollte mit dieser Erkenntnis bereits aufatmen. Doch gleichzeitig wurde ihm klar, dass er damit noch längst nicht wusste, was dieses Objekt darstellte. Angestrengt versuchte er, Genaueres ausfindig zu machen. Der Körper gewann immer noch an Größe, und es war klar, was dies bedeutete: Er kam auf ihn zu.
Leichte Nervosität, aber auch etwas Neugierde packte ihn. Es war nicht die Furcht vor einer anderen möglichen Kollision, dazu bewegte sich das Objekt zu langsam, und die Schutzschilde mochten auch weiterhin aktiv bleiben. Vielmehr war es die Angst vor dem Unbekannten. Und obwohl das Geheimnisvolle meistens etwas Schönes in sich trug, spürte er ein wenig Misstrauen gegenüber diesem dunklen, schimmernden Objekt.
Plötzlich konnte er mit bloßem Auge markante Einzelheiten erkennen. Es handelte sich um ein Frackteil, das ziellos im All herumirrte.
Was ihn allerdings beunruhigte, war, dass es nicht wie ein Frackteil aussah: Es war in der Form zu regelmäßig und wies keine typischen Beschädigungen auf. Als sich das Objekt hinreichend genähert hatte, wusste er es: das mysteriöse Objekt war augenscheinlich eine Rettungskapsel. Aber keine, die er kannte, keine terrestrische!
Unaufhaltsam bewegte sich die unheimlich anmutende Kapsel auf ihn zu. Und es dauerte nicht lange, bis er weitere Details feststellen konnte.
Immer stärker ahnte er, welchen Ursprung dieses Gebilde haben würde. Das abgeflachte, tropfenförmige Objekt hatte sich auf schätzungsweise 50 Meter genähert. Er konnte an der Spitze so etwas wie ein Fenster ausmachen. Sein Versuch zu erkennen, was sich dahinter befand, wurde ihm aufgrund der reflektierenden Oberfläche erschwert. Doch die Kapsel hatte sich im nächsten Augenblick so weit gedreht, dass er einen Blick ins Innere nehmen konnte. Und dann sah er es, sah er ihn: Hinter dem Sichtfenster erkannte er ein Gesicht, ein Gesicht fremden Ursprungs. Zunächst war er vom Anblick dieses Wesens geradezu schockiert. Es war aber nicht nur das Fremde, sondern vielmehr die unglaubliche Ähnlichkeit zu einem menschlichen Antlitz. Er war sich beim Anblick des Gesichtsausdrucks nicht sicher, ob es seine Phantasie war, die das in diesen Ausdruck zeichnete, was er glaubte zu sehen. Oder ob er genau jene Empfindungen erkannte, die sich auch in seinen Zügen wieder­spiegelten: Angst, Misstrauen, Verzweifelung. Aber auch eine Spur von Neugierde. Für einen kurzen Augenblick konnte er tief in die Augen des Gegenübers schauen, und das fremde Wesen blickte wie ein Spiegelbild ebenfalls in die Seinigen.
Obwohl es nur ein oder vielleicht zwei Sekunden sein mochten, in denen sie sich in die Seele schauten und alle Geheimnisse des Anderen offen lagen, reichte es aus, um zu verstehen, dass sie etwas verband, das nicht zu leugnen war. Vor wem auch? Sie beide waren wohl an diesem Ort die einzigen Lebewesen. Freund und Feind - Begriffe, die ihre sture Definition in diesem kurzen Augenblick völlig aufgaben. Es wurde ihm klar, dass die sogenannten Feinde in mancher Hinsicht nicht anders waren als er selbst. Sie beide, die sogenannten Feinde und die Menschen, kämpften um nichts Geringeres als um das Recht des Lebens, das Recht des Überlebens. Jedoch hatte keiner wirklich die Berechtigung, die Existenz eines Wesens auf dieser Welt gewaltsam zu beenden.
All dies war für ihn keine besondere, neuerworbene Erkenntnis, sondern vielleicht eine nackte Tatsache, die schon seit unvorstellbar langer Zeit in seinem Denken vergraben war und nun ans Licht kam: Vergleichbar mit einem geheimnisvollen Zugang zu einer tief verborgenen, uralten Welt, der lange verschüttet gewesen war. Jetzt allerdings gab ein heftiges Erdbeben diesen Weg endlich frei.
Ihr Blickkontakt riss abrupt ab. Es kam einem Schwerthieb gleich, der ihre Bindung auf schmerzvolle Weise beendete. Und in dem Moment, in welchem sie erbarmungslos voneinander getrennt wurden, wurde ihm auf eine außergewöhnliche Art bewusst, was ihm dieses Wesen bedeutete, dieser Feind. Er wusste, dass es in Wirklichkeit - seiner, ihrer Wirklichkeit - sein Freund war. Vielleicht der einzige, wahre Freund, den er überhaupt hatte.

Die Kapsel huschte lautlos vorbei, und verschwand dann für alle Zeiten aus seinen Augen. So, als wenn es sie niemals gegeben hätte und nur eine flüchtige Erscheinung seiner Illusion gewesen wäre. Was blieb, war nur ein verblassender Schatten in seinem Geist und waren die Gedanken, welche daran hafteten.
Erst einige Zeit später wurde ihm nach und nach richtig bewusst, was vorgefallen war, konnte er verarbeiten, was er aufgenommen hatte. Wieder begann es in dem Kessel der Emotionen zu brodeln. Gleichsam einem Schiff auf hoher See wurde er von der Gewalt der Wellen hin und her geschaukelt, gewaltsam umhergewirbelt.
Er fühlte sich hilflos.
Seine Gedanken begannen in einem teuflischen Tanz zu kreisen, der ihm den Verstand entreißen wollte. In seinem Geist schrie eine Stimme gequält auf, und er war kurz davor, den Mund aufzureißen, um diesen Laut entweichen zu lassen. Am liebsten hätte er laut aufgeschrieen, alles in die dunkle Ferne hinausgebrüllt. Ein Schrei, der kein Wort beinhaltete, aber dafür um so mehr sagte. Wer jedoch hätte ihn gehört? Die Sterne leuchteten in einem zurückhaltenden Schweigen.
Mit der Zeit legte sich seine ungeheure Unruhe. Doch immer stärker machte sich bei ihm das Verlangen breit, zu reden. Gleichgültig mit wem. Er wollte nur reden, all die angestauten Gedanken, Eindrücke und Gefühle mit einem anderen Geschöpf teilen; sich einfach alles von der Seele reden. Nicht nur die Erlebnisse seit dem Szenario des Hinterhalts, sondern vielleicht sein gesamtes Leben. Er beruhigte sich zunehmend, da er einsah, dass ihm dieser Wunsch im Augenblick unerfüllt blieb.
Ihm wurde kalt. Aber es war eine Kälte, die nicht von außen auf ihn eindrang, sondern von seinem tiefsten Inneren ausging. Seine Bewegungen waren wie gelähmt. Er zitterte ein wenig. Sein Blick erhob sich aus der leicht gebeugten Haltung und starrte verträumt in die ewige Sternennacht hinaus. Gerade wollte er den Kopf wieder sinken lassen, als er am Rande seines Gesichtsfeldes einen Stern hell aufleuchten sah. Automatisch richtete er seinen Blick auf den Ursprung dieser Erscheinung. Er konnte beobachten, wie das Leuchten noch etwas an Intensität gewann und sich dieser sonderbare Stern soweit ausdehnte, dass sogar einige umliegende Lichtpunkte überdeckt wurden. Rasch verflüchtigte sich dieser Anblick, wobei das blauweiße Leuchten in einen schwachen rötlichen Farbton umschlug. Noch bevor sich jegliches Leuchten völlig verflüchtigt hatte, wurde ihm mit einer geradezu ungeheuren Gewissheit bewusst, dass damit sein einsames Schicksal an diesem Ort besiegelt war. Es gab nun keinen Weg zurück. Die Praydan war zerstört.
Einige Zeit starrte er regungslos auf die Position, an der sich die Explosion ereignet hatte. Zunächst merkte er nicht, dass sich die Kapsel unaufhaltsam weiterdrehte, so dass er unbewusst den Kopf entgegengesetzt bewegte. Es entging ihm auch, dass eine Anzeige auf das baldige Versagen der Schutzschilde hinwies. Ob es wirklich sein Mutterschiff gewesen war, das war für ihn keine Frage mehr. Ehrlich gesagt, war es ihm beinahe gleichgültig. Genauso belanglos war es für ihn, ob es das Verschulden jenes feindlichen Schiffes war, das mit ihm augen­scheinlich kollidieren wollte.
Hatte es dies überhaupt beabsichtigt? fragte er sich, obgleich er die Antwort bereits kannte.

Er fühlte praktisch kaum noch etwas. Weder große Trauer oder Furcht noch unerbittehrlichen Zorn oder Verzweifelung. Es lag nicht daran, dass ihm der Verstand fortwährend zu verstehen gab, wie sinnlos dies sei. Nein, er war schlicht und einfach erschöpft. Seine Reserven gingen zu Neige, seine Kräfte ließen immer mehr nach. Er war so gut wie am Ende, sowohl körperlich als auch mit den Nerven, völlig ausgelaugt.
Die Kapsel hatte sich inzwischen soweit gedreht, dass er seinen Blick nicht weiter nachführen konnte, sondern am oberen Sichtfensterrahmen etwas verwirrt hängen blieb. Er schloss kurz die Augen.
Stille. Es war wunderbar still und friedlich. Nur das typische, unermüdliche Pochen seines Herzens konnte er vernehmen. Er war kurz davor in einen Schlaf zu versinken, wurde aber im letzten Moment durch eine störende Warnanzeige daran gehindert. Er schlug die Augen wieder auf und stellte mit einem Knopfdruck die entsprechende Kontrolleinheit aus.
Dann schaute er in den Sternenhimmel hinaus. Wieder kam eine Sehnsucht in ihm auf. Er musste an seine Heimat denken. An den einzigartigen blauen Planeten, überzogen mit weißen, strahlenden Wolkenschleiern. Und wieder stellte er sich vor, an einem warmen, klaren Sommerabend auf einer knöcheltiefen Wiese zu liegen und in den dunkelblauen Himmel zu schauen. Er schloss erneut kurz die Augen. Beinahe konnte er den wunderbaren Geruch von Gräsern wahrnehmen, als er die künstliche Luft in seinem Helm durch die Nase einsog. Er verspürte den lauen Wind, der ab und zu seicht an seinem Gesicht vorbeistrich. Sinnend entließ er einen Luftstrom durch den verengten Lippenspalt und öffnete dabei vorsichtig die Augen. Es mochten womöglich die gleichen Sterne und anderen Himmelsobjekte sein, die er auch jetzt erblickte. Aber sie verhielten sich anders. Was fehlte, war das markante Funkeln. Sie flackerten nicht auf jene Weise, wie er es von der Erde her kannte. Hier draußen, in der einsamen Kälte und unvorstellbaren Leere des Raumes, leuchteten die Sterne anders. Ruhig. Viel zu ruhig. Es war ihm, als wenn sie erstarrt wären, den Atem anhielten. Als wenn sie auf eine sonderbare Weise schwiegen - und auf irgendetwas warteten. Auf was? Vielleicht auf eine andere Zeit, womöglich einer besseren Zeit.
Sein Blick senkte sich nach unten auf ein Display. Immer noch war das Hauptcomputersystem ausgefallen, verzerrte Anzeigen zuckten unregel­mäßig auf einem noch aktiven Schirm. Mit einigen Tastatureingaben gelang es ihm, das Display auszuschalten, so dass sich eine matte Schwärze ausbreitete.
Er wusste nicht genau, wie lange er auf diese Schwärze gestarrt haben mochte. Irgendwann nahm er jedoch zarte, schillernde Spieglungen auf dem Display war. Im ersten Augenblick war er leicht irritiert. Als er jedoch automatisch den Kopf hob, um die Ursache zu ergründen, da sah er ihn: den einzigartigen, bizzaren Gasnebel - wie er sich geheimnisvoll über den Sternenteppich spannte. Diesmal wirkte er noch prächtiger, noch atemberaubender. Vielleicht lag es daran, dass seine Augen nun lichtempfindlicher waren, als beim ersten Anblick. Oder diese noch stärkere Empfindung mochte von den Eindrücken herrühren, die ihr seit jenem Mal verändert hatten. Irgendwie sah er jetzt vieles etwas anders, aus einer anderen, distanzierteren Perspektive, so dass er mehr von dem Gesamten erkennen konnte.
Der Gasnebel - viele Dinge schienen sich in ihm zu vereinigen: Rot und Blau, Farben, die Gegensätze darstellten. Wie Feuer und Eis, Krieg und Frieden, Feind und Freund. Er war einfach entsetzlich schön.
Das unvorstellbar Einzigartige an diesem Nebel war, dass diese Unter­schiede bedeutungslos wurden. Zwei noch so fremdartige, abstoßende Dinge fanden in diesem kosmischen Gebilde irgendwo eine Gemeinsamkeit, eine Stelle, an der beide harmonisch existieren konnten. Er kam zu dem Schluss, dass an jenem Ort, wo dies der Fall ist, etwas geschieht, das vielleicht so einmalig sein kann wie der gesamte Kosmos.
Und noch etwas entdeckte er in diesem Nebel. Er betrachtete sich das Himmelsobjekt näher, dachte nach. Dann begann die Antwort in seinem Geiste Gestalt anzunehmen. Irgendetwas fehlte. Der Nebel war nicht vollkommen. Und mit einem Mal wurde ihm klar: So wunderschön und bizzar dieser Gasnebel auch sein mochte, er war nicht mehr derselbe wie zuvor, vor ihrem Angriff.
Was fehlte, waren die Schiffe, war der Feind. Auf eine seltsame Weise vermisste er ihn. Dabei dachte er auch an die vorige Begegnung mit dem anderen Wesen.
Langsam begann er in Trance zu versinken, sich immer mehr in seinen Gedankenwald zu vertiefen. Die Zeit verlor dabei jede Bedeutung. Wie lange er in diesem Zustand verbracht hatte, konnte er im Nachhinein nicht sagen. Der Nebel war aber bereits wieder aus seinem Blickwinkel verschwunden. Plötzlich vernahm er ein leises kurzes Knacken. Er lauschte. Es hörte sich an wie... Er sah in die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen schien. Zuerst konnte er nichts entdecken. Dann war ein kaum hörbares Pfeifen zu registrieren. Mit einem fast teilnahmslosen Blick entdeckte er eine kleine, etwa handtellergroße Bruchspinne am unteren Rand des Frontfensters. Er sah, wie sich die feinen Brüche im Glas sprunghaft in das umliegende Material verästelten. Dieser Vorgang wurde von ganz leisen, kaum wahrnehmbaren Knacken begleitet, das vom Geräusch der ausströmenden Atemluft in der Kapsel immer stärker übertönt wurde. Das Material würde dem Innendruck trotz der Risse noch einige Zeit standhalten. Nur die Luft würde in kurzer Zeit völlig aus der Kabine ins Leere entwichen sein. So lange er den Raumanzug trug, bot ihm das jedoch einen ausreichenden Schutz vor dem tödlichen Vakuum. Welch' Ironie! Was hatte er schon davon, etwas länger leben zu dürfen? Sterben würde er doch sowieso!

Auf einmal spürte er einen merkwürdigen, brennenden Schmerz an seinem rechten Bein. Offenbar hatte der Raumanzug an dieser Stelle eine schadhafte Stelle, durch das ebenfalls Luft entwich. Nicht viel, dafür aber stetig. Es würde nicht all zu lange dauern, bis er das Bewusstsein verlieren würde, um dann endlich in einen wunderschönen Schlaf zu fallen. Vielleicht war es so wirklich das Beste. Wer außer ihm konnte all das verstehen, was er erlebt hatte? In jedem Fall bliebe es eine Erkenntnis, die nur er verstünde...
Zum letzten Mal blickte er in die leuchtenden Sterne. Sie schienen ihn jetzt leise zu rufen. In seinem Geist sah er noch einmal den beeindruckenden Gasnebel. Ein leichter Schleier schien sich langsam über seine Augen zu legen. Sein Atem wurde flacher und ein wenig hastiger. Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Gesichtszüge. Dann verlor er das Bewusstsein.


(... to be continued ...)


Robert P. Jaeger 17/8/1997;Ver.213/9/199726/9/1997
Ver.2.1 (TextScan und Korrektur) 1/1/2000[SA]

Letzte Korrektur: 28FEB2003

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.11.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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