Rolf Pollberg

“Als der Kunde noch König war!“

Wir schreiben das Jahr 2004. Für alle, die nicht sowieso schon nur noch im Internet shoppen, bestimmen Fast-Food, Fertiggerichte, Selbstbedienung, Sonderangebote, sanft säuselnde Hintergrundmusik und perfekt ausgeleuchtete Wursttheken das Einkaufserlebnis. Das ganze Land wird von einigen wenigen grossen Supermarktketten beherrscht. „Tante Emma-Läden“ für die bequeme Versorgung für den alltäglichen Bedarf in den Wohngebieten gehören endgültig der Vergangenheit an. Die typischen Tante-Emma-Läden sind mittlerweile aus dem Stadtbild so gut wie verschwunden. Nur gelegentlich noch lassen sich noch die Werbeschriftzüge von Kolonialwarenläden aus inzwischen längst vergangenen Zeiten an einzelnen Gebäuden entdecken.

Schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verbreiterte sich das Angebot an Kolonialwaren stetig. Einer Statistik aus dem Jahre 1912 ist zu entnehmen, dass die Käufer im Kolonialwarenladen mittlerweile längst nicht mehr nur die klassischen Produkte aus Übersee erhielten. Als es noch die Kolonialwarenläden gab, in denen Tante Emma Tee aus Dosen und Süßigkeiten aus Blechbüchsen verkaufte, fanden die Käuferinnen und Kinder (Männer gingen damals nicht einkaufen) neben Tee, Gewürzen, Zucker, Kaffee, Schokolade, Südfrüchten und Reis jetzt auch Rüböl, Schmalz, Sauerkraut, Heringe, Zwiebeln, Back- und Puddingpulver.
Mit der steigenden Verbreitung der klassischen Kolonialwaren erweiterte sich beim Kolonialwarenhändler, dem Tante-Emma-Laden, der Warenumfang zu einem umfassenden Angebot von Waren des täglichen Bedarfs. Kolonialwaren standen inzwischen für Lebensmittel. Dementsprechend wurde seit den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts kaum noch vom Kolonialwarenladen, sondern vielmehr vom Lebensmittelgeschäft gesprochen. Lebensmittelgeschäfte früherer Zeit waren nur kleine sog. „Tante Emma“- Läden, in denen alles abgewogen und dann in Butterbrotpapier oder Gläser verpackt wurde. Gläser waren rar zu dieser Zeit und wurden deshalb immer wieder verwendet.Da es auch noch keine Kühltruhen gab, wurden viele Lebensmittel eingekocht. Manchmal wurden die einzelnen Dinge auch getauscht, wenn kein oder nicht genug Geld da war.
Tante Emma war meist nicht nur die gute Seele des Stadtviertels, sondern auch eine gute Einzelhändlerin und ein sehr leistungsfähiges Informationssystem. Sie wusste stets, welcher Kunde kreditwürdig war und welches Bier der nette Herr vom Amt am liebsten trank. Sie wusste, welcher Mitarbeiterin sie genauer auf die Finger schauen musste. Und sie wusste, bei welchem Bauern sie immer gutes Gemüse bekam.
Der Supermarkt war noch unbekannt. Statt dessen stand die gute Tante Emma hinter ihrem Ladentresen und kannte jeden ihrer Kunden persönlich. Und Tante Emma hatte ein Buch. Darin standen die Namen all jener Kunden, die “anschreiben“ ließen, wenn der Monat mal wieder länger gewesen ist, als das Haushaltsgeld gereicht hat. Dann gab Tante Emma Kredit. Da kamen dann auch immer so bestimmte Kundinnen. So zum Beispiel die Frau eines Postbeamten. Die Frau kam gleich nach dem Frühstück in den Laden, setzte sich auf einen bereitstehenden Stuhl und sagte dann einige fromme Worte. Die anderen Kundinnen ließ sie alle vor, paßte aber ganz genau auf, was jede sagte und kaufte. So war sie bestens über alles informiert. Kurz vor dem Mittag hatte sie es dann plötzlich ganz eilig. “O mein Mann kommt, ich muß kochen!“ Dann kaufte sie schnell etwas ein, legte verstohlen ihr Büchlein auf den Tisch, zum Anschreiben, und verschwand.
Bei Tante Emma gab es alles zu kaufen, vom Hering bis zum Petroleum. Wenn Kinder bei ihr einkauften, bekamen sie immer einen Bonbon geschenkt.
Dies war die Zeit, als der Supermarkt noch Tante Emma hieß, nostalgisch, unverwüstlich und “echt nett“: Der “Tante-Emma-Laden an der Ecke“ eben.
Schade, daß diese Zeit, die ich noch erlebt habe, wohl ein für alle Mal vorbei ist und niemals wiederkommen wird.




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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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