Sven Ahlborn

Hélène

Als Carl aufwachte, pochte sein rechtes Ohr. Eigentlich wachte er auf, weil es pochte. Er spürte einen schon fast schmerzhaften Druck im Innenohr und dann dieses unaufhörliche Pochen, dumpf und regelmässig. Carl schaute auf die Uhr, es war morgens um zehn nach drei. In vier Stunden musste er aufstehen. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Mit seinen Fingern tastete er sein Ohr ab doch er konnte nichts eigenartiges erkennen. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als aufzustehen, in das Badezimmer zu gehen, eine Schmerztablette zu schlucken und zu hoffen, dass sie möglichst schnell wirken würde, damit er wenigstens noch ein wenig Schlaf finden konnte. Widerwillig stand Carl auf. Im Dunkeln tappte er ins Badezimmer, mit der rechten Hand am Ohr und mit der Linken tastete er sich der Wand entlang. Plötzlich stiess sein Fuss gegen etwas Weiches. Beinahe wäre er gestolpert doch im letzten Moment konnte er sich noch halten. Carl wollte fluchen, besann sich aber eines Besseren, er wollte seine Frau nicht wecken. Was das wohl sein mochte? Vorsichtig tappte er zum Bett zurück, öffnete die Schublade des Nachttisches und holte die Taschenlampe hervor. Er zündete sie an und ein weisser Lichtkreis wies ihm den Weg an die Stelle wo das weiche Etwas lag. Dort angekommen sah er, dass er seine Frau nicht mehr wecken würde. Sie lag auf dem Boden, das Gesicht schmerzverzerrt, tot. Eigenartigerweise hatte sie die Hand am rechten Ohr. Mein Gott! Was war das? Sein Ohr pochte jetzt fast unerträglich. Wenn er nur klar denken könnte. Irgendetwas musste er machen, es musste etwas passieren. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Der Schmerz raste in seinem Kopf, seine Frau, tot. Es war als würde sein Kopf explodieren. Carl torkelte ins Badezimmer, riss mit unkontrollierten Bewegungen das Schränkchen auf und klaubte nach den Kopfwehtabletten.

Stille. Nichts rührte sich. Kommissar Wicky schaute seinen Assistenten fragend an und drückte ein zweites Mal auf die Klingel. Diesmal etwas länger. Im zweiten Stock ging ein Licht an und die Haustür summte. Studer stiess die massive Holztür am abgegriffenen Messingknauf auf und trat ein. Sein Assistent folgte ihm. Wicky warf einen routinierten Blick auf die Namensschilder an den Briefkästen und begann die Treppe hochzusteigen. Er benutzte nur selten den Lift. In seinem Alter sollte er auf genügend Bewegung schauen, hatte ihm seine Frau mal gesagt. Zudem war das Treppenhaus oft eine interessante Visitenkarte über das Haus und seine Bewohner. Sein Assistent folgte ihm. Im zweiten Stock angelangt erwartete sie eine nur angelehnte Tür. Wicky klopfte. Als er keine Antwort bekam öffnete er die Tür und betrat die Wohnung. Sein Assistent folgte ihm. Im Flur war es dunkel aber weiter vorne brannte ein Licht. Als Wicky und sein Assistent den Raum betraten sahen sie sich im Wohnzimmer eines Zürcher Paares. DINKIES, dachte Wicky, leicht eifersüchtig, Double income no kids. Die Einrichtung war modern, aber nicht kalt. In dieser Wohnung war viel Geld. Komisch, dass Reichtum oft konträr zu Geschmack ist. Hier war das allerdings nicht der Fall. Aber im Moment sah es nicht so aus, als hätte der Hausherr eitel Freude an seiner Designereinrichtung. Mit geröteten Augen sass er am Esstisch, vor sich ein Glas Wasser, den Kopf auf das rechte Ohr gestützt starrte er ins Leere. Hinter ihm, auf dem Tisch, standen ein Aschenbecher - voll - und drei Weingläser - leer. Daneben eine leere Flasche Sassicaia. Schädelbrummen, dachte Wicky, sagte aber “Guten Morgen”. Er stellte sich und seinen Assistenten kurz vor, nahm sich einen Stuhl und setzte sich Carl gegenüber. Sein Assistent blieb stehen. Draussen wurde es schon langsam hell.




Hélène spürte ein leichtes Ziehen in der Brust. Schlaftrunken drehte sie sich im Bett und genoss die wohlige Wärme unter der Decke. Noch zwei Minuten, dann steh ich auf, dachte sie. Eine halbe Stunde später wachte sie wieder auf. Mist, murmelte sie, immer das Gleiche. Sie streckte den Arm aus und tastete nach dem Wecker. Eigentlich war es ja Sonntagmorgen und sie hatte keine Eile aufzustehen. Und geplant hatte sie für heute auch nichts, ausnahmsweise. Sie blinzelte und schaute auf den Wecker. Viertel nach Zehn. Ein leichtes Hungergefühl machte sich bemerkbar. Seufzend stellte sie den Wecker zurück und setzte sich im Bett auf. Die Arme um die Knie geschlungen und das Kinn darauf gestützt dachte sie nach. Bruchstückhaft kam ihr der gestrige Abend wieder in den Sinn. Ob sie wohl tot sein mochte, Carls Frau? Reue? Nein, das spürte sie nicht. Eher so etwas wie Befreiung. Endlich konnte sie wieder frei atmen. Sie musste tot sein. Und was hiess das für sie? Carl war frei, seine wahre Liebe zu leben. Seine Liebe zu ihr, Hélène. Wie wundervoll das würde! Und sie hatte ihn befreit. Ob er es vermutete? Kaum, so etwas würde er ihr nicht zutrauen. Wenn das kein Beweis ihrer Liebe war! Sollte sie ihn jetzt anrufen? Nein, nicht jetzt. Sie brauchte jetzt Ruhe um die nächsten Schritte zu planen. Und den Sieg zu kosten. Ihr Herz quoll beinahe über vor Glücksgefühl. Wie war das doch schöner als vorher. Hass, Neid, Eifersucht hatten sie geplagt. Auch gestern Abend. Jedesmal wenn Carl seine Frau anlachte, jedesmal wenn er in ihr glückliches Gesicht sah, jedesmal wenn sie ihn berührte, ihre Finger durch seine Haare gleiten liess fühlte Hélène diesen Stich im Herzen. Ihr Magen verkrampfte sich beim Anblick des Glücks an dem sie nicht teilhaben konnte; noch nicht. Sie hatten sich alte Geschichten erzählt, wie sie einander in der Schule kennenlernten, wie die Jahre verstrichen, sie sich aus den Augen verloren und wiederfanden. Und immer wieder fing sie diesen vielsagenden Blick von Carl auf. Ein Blick, der sie so tief berührte, die Eifersucht für einen Augenblick vertrieb und der eine wohlige Wärme in ihrem Körper ausstrahlte. Nur schon beim Gedanken daran spürte Hélène die Wirkung erneut. Ein Schauer durchlief ihren ganzen Körper. Sie sehnte sich nach Carl. Ihm tief in die Augen zu schauen und mit ihren Fingern sein Gesicht abzutasten. Mit den Lippen seine Haut zu schmecken. Hélène spürte ein leichtes Ziehen in der Brust.

Nachdem Kommissar Wicky und sein Assistent wieder gegangen waren war Carl allein. Und so fühlte er sich auch. Allein, verlassen. Was sollte er jetzt machen? Der Schmerz in seinem Ohr war fast verschwunden. Es blieb nichts als Leere. Die letzten Stunden mit seiner Frau. Wie glücklich war er doch gewesen. Und jetzt? Alles weg, vorbei, für immer. Er brauchte jemanden zum Reden. Hélène? Nein, das würde ihn zu fest an gestern abend erinnern. Er ging auf den Balkon, brauchte frische Luft. Eiskalt schlug ihm der Januarwind ins Gesicht. Gefangen drehten sich seine Gedanken im Kreis. Warum? Warum bloss? Warum gerade sie? Carl zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und liess den Rauch wieder aus seinen Lungen rausströmen. Unten auf der Strasse fuhren die Autos wie immer. Eine andere Welt. Eine Welt, die nichts von ihm wusste und doch lebte er in ihr. Die Relationen hatten sich verschoben. Ganz plötzlich. Er musste sich erst in der neuen alten Welt zurechtfinden. Gedankenversunken stand Carl am Geländer und starrte ins Leere. Er spürte die Kälte nicht. Vielleicht sollte er runterspringen. Das würde alles lösen. Für was hatte er bisher gelebt? Welchen Sinn soll die Zukunft haben? Er musste sich entscheiden. Inmitten dieser Gedankengänge störte ihn immer wieder ein Bild: Hélène. Sie hatte sich verändert seit sie sich das letztemal gesehen hatten. Sie war eine reife, erwachsene Frau geworden. Einst hatte er sie verlassen weil sie noch so sehr Kindfrau war. Zudem konnte er ihre rasenden Eifersuchtsanfälle nicht ausstehen. Sie zerschlug Geschirr, ohne Grund, und trotz vielen Gesprächen blieb sie dabei. Gestern Abend war sie ruhig. Es schien ihr nichts auszumachen wenn seine Frau mit ihren Fingern durch sein Haar fuhr. Sie schenkte ihm warme, offene Blicke. Vielleicht sollte er sie trotzdem anrufen. Mit ihr reden würde ihm Gut tun. Er ging wieder ins Wohnzimmer und schloss die Balkontür hinter sich. Carl griff zum Telefon und wählte Hélènes Nummer. Nach mehrmaligen Läuten lassen legte er wieder auf. Sie war nicht zu Hause. An und für sich nichts aussergewöhnliches bei ihr an einem Sonntag. Er stand da und überlegte, was er als nächstes tun sollte. Da klingelte es an der Haustür. Er hatte jetzt keine Lust auf Besuch und öffnete nicht. Nachdem es beim dritten Mal Sturm läutete, drückte er auf den Knopf der Gegensprechanlage. Vielleicht war es ja Kommissar Wicky der noch etwas wissen wollte. Oder sein Assistent. Aus dem Lautsprecher ertönt die Stimme von Hélène. Sie habe gestern Abend ihren Schal vergessen, ob sie störe? “Komm hoch” sagte Carl und drückte auf den Türöffner. Wenig später klopfte sie an der Wohnungstür. Carl öffnete und bat sie rein. “Stör ich nicht” fragte sie. “Nein, komm rein”. Carl schloss die Tür hinter ihr. “Ich wollte eigentlich nur meinen Schal holen” sagte Hélène. “Bleib doch ein bisschen” meinte Carl und half ihr die Jacke aufzuhängen. Sie gingen in die Küche und Carl fragte sie ob er ihr etwas zu trinken anbieten könne. Hélène wählte einen Tee, das tue ihr gut bei der Kälte da draussen. “Wo ist eigentlich Deine Frau” fragte Hélène. Carl antwortete nicht gleich. Er hantierte noch ein wenig mit dem Geschirr bevor er es aussprechen konnte. “Sie, sie ist tot”. Hélène setzte die Tasse hart auf. “Wie bitte?” Ihre Überraschung wirkte echt. Stockend begann Carl zu reden. Es tat gut. Jemand, der zuhörte, der ihn kannte, jemand, dem er vertrauen konnte. Als er fertig war herrschte Schweigen. Beide schauten gedankenverloren in ihren Tee. Hélène brach als erste das Schweigen. “Was hast Du jetzt vor” wollte sie wissen. Carl zuckte mit den Schultern. Hélène schaute ihm lang in die Augen, nahm seine Hand in die ihre und sagte: “Ich liebe Dich immer noch”. Carl nahm sie in seine Arme. Schweigend standen sie so für einen Moment engumschlungen. Da begann Hélène zu erzählen. Sie grub Erinnerungen aus, aus Zeiten, in denen sie sich liebten. Erlebnisse, die sie zusammengeschweisst hatten, Ereignisse, die sie zu Gipfeln der Glückseligkeit geführt hatten. “Weisst Du noch als ...” Und streichelte sanft seinen Rücken. Sie liess all die schönen Momente auferstehen, hauchte ihnen Atem ein, erweckte sie zum Leben und unterstrich sie mit ihren Händen, streichelte ihr zärtlich. “Und über all dem stand und steht noch immer meine Liebe zu Dir. Die Gewissheit, dass wir zwei zusammengehören. Und damit diese Wahrheit Realität wird musste ich Dich befreien. Dank meiner Hilfe können wir gemeinsam unsere Liebe leben. Ich war es, die Deiner Frau einige Tropfen einer Flüssigkeit in den Wein gegeben habe, die ich im Herbst aus einem chinesischen Pilz gewonnen habe. Damit ist sie friedlich entschlafen. Das habe ich alles nur für Dich getan, mein Liebster”. Hélène wartete gespannt auf seine Reaktion. Carl hielt sie noch immer eng umschlungen. Das war immerhin ein gutes Zeichen, dachte sie. Als sie ihre Hand auf seine Brust legte spürte sie sein Herz schlagen. Ruhig und regelmässig. Carl strich ihr übers Haar. Zart küsste Hélène ihn auf den Hals. Carl gab sie frei, drehte sich zum Fenster und schaute hinaus. Draussen war es inzwischen dunkel geworden und die Lichter der Stadt funkelten in der kalten Nacht. “Gib mir ein wenig Zeit” sagte Carl “ich muss mich erst daran gewöhnen”. “Ich glaube ich geh jetzt besser” sagte Hélène leise. Carl folgte ihr, half ihr in die Jacke, nahm ihre Hände und schaute ihr tief in die Augen. “Ich habe Dich nie vergessen” sagte er. Ihre Lippen berührten sich. Hélène löste sich, öffnete die Tür und ging. Carl stand noch eine Weile da und ging dann ins Wohnzimmer. Er nahm die Visitenkarte in die Hand, die Kommissar Wicky ihm dagelassen hatte. “Für alle Fälle” hatte er gesagt. Carl drehte sie ein paarmal in seiner Hand, nahm den Hörer und wählte die Nummer. Als Wicky abnahm nannte Carl die Adresse von Hélène und fügte bei: “Vielleicht hilft Ihnen das weiter”. Dann hängte er auf. Er nahm eine Zigarette und stand ans Fenster. Der Wein. Plötzlich fiel ihm ein, wie er gestern Abend, nachdem Hélène gegangen und seine Frau schon im Bad war den letzten Schluck aus ihrem Glas getrunken hatte. Ob er wohl deshalb solche Ohrenschmerzen hatte? Was musste seine Frau gefühlt haben? Er trat auf den Balkon, lehnte sich ans Geländer und tat einen tiefen Zug. Warum war er nicht aufgewacht? Er hoffte insbrünstig, dass sie nicht gelitten hatte. Langsam liess er den Rauch aus der Lunge strömen. Warum? Dachte er verzweifelt, lehnte sich über das Geländer und stürzte sich in die Tiefe.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.12.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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