Dietmar Penkert

Die Brut des Uzmuon


„Erwache! Erwache, mein Geschöpf!“ – Diese irren Worte sind noch immer in meinem Kopf und lassen mich nicht mehr los. Wieder und wieder höre ich sie, die Rufe eines Wahnsinnigen. Ein Alptraum ist dagegen ein liebliches Spiel, denn daraus kann man erwachen. Was ich erlebte und sah ist jedoch schiere Wirklichkeit! Es gibt kein Erwachen aus diesem Wahnsinn, es hilft kein Schreien oder Beten. Während ich das hier schreibe, sind sie auf der Suche nach mir. Vielleicht entkomme ich auf irgendeine phantastische Weise. Aber vielleicht auch nicht. In dieser geheimen Kammer habe ich Zuflucht gefunden. Vielleicht vermutet man mich hier nicht, denn den Eingang zu dieser verborgenen Kammer findet man nur durch Zufall. Aber ich beginne meine irrsinnige Geschichte von Anfang an. Und ich hoffe ich kann sie noch beenden.

Mein Name ist Gormor Halimh, erfolgreicher Dieb und Händler aus Bakasht jenseits der Großen Salzwüste. Erfolgreich machten mich nicht nur angelernte Diebesfertigkeiten, sondern auch das Geschick für Verhandlungen sowie Belesenheit. Meine Lehrer waren nicht alle Gauner sondern auch geistreiche Menschen von Weisheit und Wissen.
Geschäfte führten mich in die Stadt Port Gofra. In der Gilde erfuhr ich von einem neuen Auftrag. Und wie viele meiner Aufträge steckte auch ein Mysterium dahinter. Es gab da eine Karawane, die immer nur nachts gesichtet wurde und unübliche Wege bereiste. Späher sahen sie von den Tückischen Dünen bis nach Okhrem reisen, verhüllte stumme Leute. Zuletzt waren sie im Bergland des Achten Pfeilers gesehen worden. Die Gilde vermutete, daß etwas sehr wertvolles transportiert wurde. Oder daß sie zu einem Ort führen, an dem etwas wertvolles zu finden sein könnte. So war ich es, der sich dem Rätsel dieser Karawane annahm und ihrer Spur folgte. Denn noch niemand hatte von der Karawane zuvor gehört, und wir wußten schnell, daß es keine gewöhnlichen Händler waren, die nur bei Nacht reisten.
Hinter Shalan-Abh nahmen wir die Spur wieder auf und folgten ihnen in die unbekannte Tiefebene von Chulem, in der einst die Götter ihren Zorn schickten und Feuer und Sturm hinunterschickten. Nun war Chulem ein verfluchter Ort, in dem nur Verbannte, Verbrecher und Aussätzige hausten. ‚Wir wollen nicht ins Land der Verdammten’, sagten die Männer, die ich anführte. ‚Wenn man Ruhm erlangen will, muß man auf schmalen Graten wandern’ sagte ich ihnen, und wir folgten der stummen Karawane in diese verlorene Gegend. Ich nahm nicht an, daß man uns entdeckt hatte, denn wir folgten der Karawane fast eine halbe Tagesreise hinterher. Leise und unbemerkte Verfolgung war eines guten Dieben eigen. Und die Spur dieser Karawane war herausragend. Sie führte uns durch karges Ödland, dann durch einige uralte, abgebrannte Dörfer und dann in eine felsige Schlucht. Hier endete die Spur bei einem gedrungenen Turm aus schwarzem Fels. Es war weder etwas von den Kamelen, noch von den Reitern zu sehen. Es schien auch keinen Eingang zu diesem ungeheuren Turm zu geben. Keine Türen, keine Fenster und keine Scharten. Doch wir fanden dennoch etwas merkwürdiges: Schleifspuren und kleine Splitter von Holz. Es dauerte lange, bis wir schließlich hinter das Geheimnis des Turmes kamen. Die Schleifspuren führten hinter einen Felsen hundert Fuß entfernt und schienen darin zu verschwinden. Doch in Wirklichkeit führten sie unter den Felsen! Die Holzsplitter stammten von den Objekten, -Pfähle oder Stäbe, mit denen die Karawanenleute den Felsen verschoben hatten, um ihn dann in die ursprüngliche Lage zu bewegen. Es war der Eingang zu dem Turm!
Wir fanden auch eine Möglichkeit, diesen Felsen zu verschieben. Mit der Zugkraft unserer Kamele schafften wir den Eingang. Es war ein gähnender Abgrund, aus dem ein fürchterlicher Gestank drang.
Unnötig, das weitere Vorgehen genau zu beschreiben. Es mangelt mir an Zeit und Ruhe, das zu berichten. Ich muß jedoch von den unbeschreiblichen Szenen erzählen, die sich hier abspielen.
Was wir als Versteck von Warenhändlern vermuteten, entpuppte sich als ein Tempel der dunklen Mächte. Allerdings erkannten wir das nicht gleich, erst als es zu spät war.
Der dunkle Eingang führte in einen Tunnel abwärts. An der Steinwand hängende Fackeln verrieten von jemandes Anwesenheit. Der Tunnel gabelte sich, und wir teilten uns auf. Zwei von uns gingen nach rechts, drei nach links, ausgerüstet mit Dolch, Diebeswerkzeugen und Seil. Die Gewölbe sind größer, als ich erst vermutete. Und es gehört alles zu dem gedrungenen Turm, in dem ich mich jetzt aufhalte.
Ich ging mit zwei meiner Gefolgsleute in den linken Tunnel. Der führte in eine große Halle, von der wieder einige Tunnel weiterführten. Alles war von Fackeln erleuchtet, und wir sahen gerade noch rechtzeitig die Gestalten, die von einem der Tunnel in die Halle kamen. Es gab nichts mehr zum verstecken, so pressten wir uns in einem der dunkleren Winkel der Halle an die Wand. Hier begann der Alptraum. Die Gestalten waren vorwiegend in alte Tücher und Binden gehüllt und bewegten sich schleppend und träge. Man sah ihr Gesicht nicht, doch die teils unverborgene Haut wies entsetzliche Flecken, Pestbeulen und Wunden auf, in denen sogar Maden ihr Heim suchten. Aussätzige! Ihr Gestank war ekelerregend. Den Göttern sei Dank, daß sie uns nicht bemerkten. Auch als von der anderen Seite der Halle ein Schrei drang, machte die Gruppe von Aussätzigen keine Anstalten, schneller zu gehen oder innezuhalten. Sie liefen in ihrem schleppenden Gang einfach weiter. Ich aber erkannte in dem Schrei einen meiner Gefolgsleute und sah warnend zu den anderen. Uns blieb nichts übrig als zu warten, bis die Aussätzigen an uns vorrüber waren und schlichen uns dann leise dieser merkwürdigen Gruppe nach, welche genau in die Richtung lief, aus der der Schrei gedrungen war.
Mich überkam ein Schauder, als wir es sahen: in einer weiteren Halle auf der anderen Tunnelseite tummelten sich ebenfalls Aussätzige, welche auf Enbak und Yubraid, meine anderen beiden Gefolgsleute, einprügelten. Sie lagen still am Boden, aber dennoch prügelten sie auf primitive, kranke Weise auf sie ein. Warum taten sie das? Um ihren eigenen Schmerz zu vergraben? Aus Gründen der Rache an den Gesunden?
Ein Teil von mir wollte helfen, ein anderer ekelte sich vor dieser ungeheuren Szenerie und wollte fliehen. Es ging nun alles recht schnell. Zu spät sahen wir weitere der unheimlichen Aussätzigen von anderen Gängen kommen, sie kreisten uns ein und schnitten uns die Flucht ab! Wir hatten zu spät reagiert und sahen die Gestalten auf uns zutorkeln. Ich weiß nicht wie ich es schaffte, dem krankhaften Mob zu entkommen und ein Versteck zu finden. Aber irgendwie öffnete sich mir ein Weg, und ich verzog mich in die Schatten der Nieschen und Mauervorsprünge. Voller Entsetzen mußte ich mit ansehen, wie meine Gefolgsleute niedergeschlagen wurden. Dann lief ich. Nein, ich rannte, hastig und ohne Ziel. Nur weg von dieser Szenerie. Hatten die Aussätzigen meine Flucht bemerkt? Oder war ihr Verstand zu zerfressen von Krankheit, um mich zu bemerken? Ich weiß es nicht. Und ich war auch zu erschüttert, um klare Gedanken zu fassen. Es dauerte einige Zeit, bis ich wieder die Fassung gewann und meine mir innewohnende Selbstkontrolle wiedererlangte.
Ich denke, hier machte ich meinen zweiten großen Fehler in diesem abscheulichen Gewölbe. Meine Neugier und die Sucht nach dem Geheimnis ließen mich innehalten. Ich hätte vermutlich fliehen können, aus der gleichen Öffnung, die wir auch hineinkamen. Stattdessen hielt mich etwas davon ab. Eine düstere und perverse Lust, diesem kranken Wahnsinn hinterherzuspionieren trieb mich indessen weiter in die Gewölbe. Vielleicht hat mich der Wahnsinn angesteckt. Nun harre ich hier aus und warte auf ein mildes Ende.
Die Gänge waren nun leer. Hier und da hingen glimmende Fackeln, die ihren schummrigen Schein auf die grauen Mauern und Winkel warfen. Eine Treppe führte nach unten und endete in einer alten Holztüre. Vorsichtig zog ich am Metallknauf der Tür; sie war nicht verschlossen. Dahinter endete ein weiterer schmaler Gang wieder mit einer Tür. Auf beiden Seiten der Wände waren auch wieder Türen. Es war ein verworrener Komplex, und viele der Gänge sahen alptraumhaft gleich aus. Ich irrte umher in den Gewölben, auf der wahnsinnigen Suche nach irgend etwas, vielleicht suchte ich auch meine Gefolgsleute. Ob sie tot waren oder noch lebten wußte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht, da ich sinnlos in den Gewölben umherirrte. Doch ich sollte es bald herausfinden. Und nicht nur dies, sondern die ganze Wahrheit dieses Irrsinns. Ich muß nur alles niederschreiben, um den Wahnsinn preiszugeben!
Ich suchte nach meinen Gefolgsleuten, und ich fand sie. Es war ein großer Raum, ein Kerker gleich einer Folterkammer mit allerlei Geräten und Werkzeugen von Stilett bis Zange. Es schien mir wie eine Mischung aus Folterkammer und dem Laboratorium eines Wahnsinnigen. Was ich vorfand war schlimmer als das, was ich mir ausmalt hatte. Dort auf hölzernen Bänken lagen nackte Leichname. Die Eingeweide waren ihnen entfernt worden, ebenso die Augenhöhlen. Und dennoch ich erkannte die Männer, es waren Yubraid und Enbak. Was war das nur für ein Höllenort? Warum hat man meinen Männern das angetan?
Ich konnte nur da stehen und ungläubig auf diese Szenerie blicken. Und ich hielt krampfhaft saure Magensäfte zurück, angeekelt von der Widerwärtigkeit vor mir. Ich erbrach und verließ den Saal mit einem gemischten Gefühl aus Furcht, Mitleid und Wut zurück. Furcht empfand ich, weil ich um das gleiche Schicksal bangte und wußte mit was für kaltblütigen Gesellen ich zu tun hatte. Mitleid wegen der Art wie meine Männer sterben mußten, denn so ein Schicksal wünschte ich keinem Menschen. Und Wut empfand ich über die Unsinnigkeit dieser Abschlachtungen.
Ich erinnere mich, wie ich die vielen Gänge entlang irrte, ohne zu wissen wohin. Ich weiß auch nicht, ob ich wirklich einen Ausgang suchte oder weiter in das Gewölbe vordringen wollte. Vielleicht wollte ich mich dem Grauen stellen. Ich bin zwar kein Feigling und lasse mich durch nicht viel abschrecken. Aber ich bin auch kein Krieger, der in seinen Schlachten seinen Mut beweist. Ich bin bloß ein Meisterdieb, der die Kämpfe lieber meidet, und die Dunkelheit der Nacht und die Schatten für sich nutzt, ohne bemerkt zu werden. Der Anblick meiner Gefolgsleute vor mir erschütterte mich jedoch aufs tiefste, und es war eine der wenigen Male, wo meine Selbstkontrolle versagte und mich gemischte Emotionen an den Rande der Verzweiflung trieben.

Als ich mich in dieser verfluchten Kammer umsah, hörte ich schleppende Schritte. Hektisch versteckte ich mich in einer dunklen Niesche. Vier dieser Aussätzigen kamen heran, diesmal ging ihnen allerdings eine andere Gestalt voran, sie war in einer Kutte gekleidet, die das Gesicht völlig verbarg. Die Aussätzigen schienen dieser wohl zu gehorchen. Vielleicht war es der Anführer der verdammten Brut.
Sie gingen an mir vorüber, ohne mich zu bemerken, denn ich war zu tief in den Schatten der Nieschen verborgen. Sie gingen schließlich weiter. Und – in meiner tückischen Neugier – folgte ich ihnen. Der in Kutten gekleidete schien kurz innezuhalten, und einen Moment lang fürchtete ich, er hätte mich gesehen und würde sich nach mir umdrehen. Doch das tat er nicht, und die Gruppe ging zögerlich weiter.
Die Gestalten betraten denselben Raum, dem ich zuvor entflohen bin, Der Raum, in dem die toten Körper meiner Gefolgsleute lagen. Ich wagte es nicht, ihnen dorthin zu folgen. So presste ich mich an die gegenüberliegende Mauer, von der ich einen Teil des Raumes sehen konnte. Einige Bewegungen, einige Schatten. Ein ratterndes Geräusch ertönte, dann ein schabendes. Es hörte sich an, wie das aufeinanderreiben von Stein.
Ich mußte meine Neugier befriedigen und schlich weiter heran. Eine Vermutung bestätigte sich, das Geräusch war von einer Geheimtür gekommen. Das ratternde Geräusch war ein Kettenzug, und das schabende Geräusch rührte von einem Steinblock her, der damit geöffnet wurde. – Die Gestalten hoben die Leichname auf und trugen sie durch den Eingang zu einem weiteren Raum, der zuvor durch den Steinblock verschlossen war. Ein übler Gestank entströmte daraus hervor, es roch wie ein verdammter Kerker.
Ich wagte mich allerdings nicht weiter, sondern duckte mich hinter der Türöffnung. Ich sah nichts, dafür war ich zu weit weg, aber ich hörte etwas. Eine tiefe Stimme ertönte und befahl: „Legt die Körper in die Mulden!“. Diese Stimme ließ mir schon das Blut in den Adern gefrieren, denn sie klang völlig emotionslos und böse. Ja, abgrundtief böse, bei den Göttern! Die Stimme die indessen antwortete, löste Ekel aus:
„Wir gehorchen, Meister!“, krächzte diese Stimme voller Krankheit, als sei die Kehle zerfressen von Geschwüren. Dennoch klang diese schreckliche Pain und Demut heraus, die ich später noch einmal bei diesen Kreaturen anhören mußte!
Schnell verzog ich mich wieder in die hintersten Schatten der Mauernieschen, als die Gezeichneten mit ihrem Anführer wieder heraus kamen, nachdem sie den Steinblock wieder zurückschoben. Dann verschwanden sie irgendwo in einem der Nebengänge. Ich hatte nicht das Bedürfnis, ihnen zu folgen. Vielmehr drängte es mich, zu sehen, was hinter dieser Geheimtür verborgen war. So ging ich erneut in diese Folterkammer, oder was immer es auch war. Da ich als Meisterdieb geschult war, Geheimtüren zu öffnen, fiel es mir nicht schwer, auch diese Steintür und dessen Mechanismus zu durchschauen. Mit dem gleichen Rattern öffnete sie sich. Wieder entströmte der entsetzliche Gestank der Öffnung, der Gestank nach Verwesung und Verderben. Ich nahm mir eine der Fackeln, die an den Halterungen an der Mauer hingen und ging hinein in diesen Raum hinter den Steinblock. Ich tat es, obwohl sich mein Körper sträubte und mir Ekel hochstieg.
Ich stand in einer Art lehmigen Gruft, in deren Wände und Boden Mulden zu sehen waren. Darin erkannte ich einige Körper, die von Toten stammten. Sie waren verborgen in fleckigen Tüchern und Säcken aus Jute. Ich sah auch die Kadaver meiner Gefolgsleute, die man etwas abseits in Erdmulden am Boden gelegt, aber nicht in Säcke gepackt hat. Es war nicht Mitleid, das ich empfand. Aber war erfüllt von Pain und Zorn, als ich ihre leblosen Körper da liegen sah, benutzt für irgendeinen üblen Wahnsinn, ihr Leben ausgelöscht ohne Skrupel. Es war ein entsetzliches Los, das ich nicht um alles in der Welt erleiden wollte. Was für einen Sinn hatte so ein Tod, welchem Zweck diente die Entstellung, die dieser bleiche Anführer der Brut mit den Leichen meiner Männer verursacht hatte?
Ich fragte mich dies die ganze Zeit. Und obwohl ich mich nach Freiheit sehnte und all den Wahnsinn hinter mir lassen wollte, drängte mich etwas in meinem Innersten, eine Antwort darauf zu erfahren. Ich wollte den Sinn ergründen, warum meine Gefolgsleute sterben mußten; erfahren was hinter dem Irrsinn steckte.
Ich näherte mich diesen eingewickelten Körpern, um meine Neugier zu befriedigen, und zu sehen, wer oder was darunter steckte. Ob es auch Männer waren wie wir. Dazu kam ich allerdings nicht, denn ich hörte wieder Schritte von draußen! Sie waren noch fern. Aber ich hatte nicht viel Zeit. Da fiel mir ein: die Geheimtür! Ich mußte sie verschließen, um keinen Verdacht zu schöpfen. Die Aussätzigen hatten die Türe verschlossen, bevor ich sie wieder geöffnet hatte. Aber es war zu spät! Dafür war keine Zeit mehr. So schlich ich schnellstmöglich in den hinteren Teil dieser Kammer und löschte die Fackel, die ich noch in der Hand trug. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich in eine der Nieschen zu quetschen, hinter einer der Toten. Ekelerregend, dieser Gestank des Todes, der hier überall hing!
Ich sah die Schatten, sie näherten sich. Der Fackelschein verriet es. Ich wagte es nicht herauszublicken aus meinem Versteck. Noch nicht. Und ich hoffte bei den Göttern, nicht entdeckt zu werden. Aber mit Sicherheit würde man Verdacht schöpfen wegen des geöffnete Geheimgangs. Oder doch nicht? Keine Stimmen, keine befehlenden Äußerungen des Anführers, keine überraschten Wortwechsel.
Schließlich wagte ich doch einen vorsichtigen Blick aus der Niesche, und meine Vermutung hatte sich bestätigt. Es waren nur zwei Aussätzige, ohne ihren Anführer. Sie packten kommentarlos einen der Körper aus den Nieschen, um ihn irgendwohin zu schleppen. War ihr Verstand zu zerfressen, um die offene Geheimtür zu hinterfragen? Und gerade im letzten Moment merkte ich es noch. Wenn man wieder die Geheimtür verschließen würde, konnte ich nicht mehr raus! Den Mechanismus konnte man von innen nicht bedienen. Um auf keinen Fall eingeschlossen zu werden huschte ich von Schatten zu Schatten, und den Aussätzigen nach. Wie froh war ich in dem Moment, die Kunst des Schleichens zu beherrschen, eine der wunderbaren Diebesfertigkeiten!
Die Gestalten hatten mich nicht bemerkt. So schlich ich ihnen weiter nach. Ich wollte wissen, wohin sie den Leichnam brachten. Diese gottverdammte Neugier! Es zog mich magisch an. Ich wurde scheinbar schon selber von Wahnsinn verfolgt.
So folgte ich. Ich wußte nicht mehr so recht, wo welche Gänge verliefen. Dieses unterirdische Gewölbe verstrickte sich recht weitläufig. Was auch immer es war, es hatte etwas spürbar böses an sich.
Die Aussätzigen brachten den Körper schließlich in einen Raum oder Saal, in den ich ihnen nicht folgen konnte, da sie oder andere mich sonst entdeckt hätten, wobei das nur noch eine Zeitfrage war.
Erst nach einer geraumen Weile wagte ich, weiter zu folgen. Durch ein Portal gelangte ich in eine Halle mit Treppenhaus, von welchem je eine steinerne Wendeltreppe nach unten und nach oben führte. Ich hätte nach oben gehen können. Wer weiß, vielleicht würde diese Treppe in die Freiheit führen. Stattdessen ging ich nach unten. Ich wußte, daß die Antwort auf meine brennende Neugier dort unten zu finden war. Und ich fand sie.
Ich hörte Stimmen aus einem Saal, der halb verschlossen war mit einem Portal. Durch den Spalt konnte ich nur einige der Gestalten mit dem Rücken zu mir ausmachen. An der Front stand der unheimliche Anführer vor irgendetwas, das von der Masse der Gestalten verdeckt war. Da ich wegen der Entdeckungsgefahr nicht hier vor diesem Portal bleiben konnte, suchte ich ein anderes Versteck. Ich fand tatsächlich eine Leiter zu einem Schacht weit an der Seite dieser Vorhalle. Vielleicht wird der Schacht zur Belüftung genutzt.
So kroch ich in diesen dunklen Schacht, tastete mich vorwärts auf dem erdigen Gestein, bis ich Licht aus einer kleinen Öffnung schimmern sah. Schließlich erspähte ich ein kleines Gitterfenster, das oben in der Querwand eines Raumes angebracht war, derselbe Raum, in dem sich die Schar dieser widerlichen Brut versammelte. Nachdem dieses kleine Fenster etwa zehn Fuß über dem Boden angebracht war, konnte ich gut sehen. Ich sah nur zu gut. Und es wäre besser gewesen, wenn ich es nicht gesehen hätte und wenn ich dieses Gewölbe nie betreten hätte.
Es standen vielleicht ein Dutzend dieser Verhüllten im Halbkreis um den Anführer, der vor einem Steinaltar weilte. Man hatte einige Kerzen angezündet. Alles sah nach einer Zeremonie aus. Auf irgendetwas wurde noch gewartet. Dann sah ich die zwei Verhüllten den Körper aus der Gruft hereintragen. Was für ein perverser Kult war das hier?, dachte ich angewidert. Man legte den verhüllten Körper auf den Steinaltar.
„Befreit ihn von den Tüchern!“, befahl der Anführer mit seiner dunklen, monotonen Stimme. Daraufhin entfernten zwei der Aussätzigen die Jutesäcke, in welche der Körper gewickelt war. Zum Vorschein kam ein Leichnam, welcher bereits den Hauch der Verwesung aufwies. Eine dicke Schimmelschicht gedeihte auf dessen Gesicht, die schwammige Haut war von Fäulnisflecken durchzogen, und der eingefallene Mund gleich einem Abgrund schwarzer Vergänglichkeit.
Dann traten die Untergebenen zurück, und der Anführer trat vor. Er entfernte vorsichtig die Schimmelschicht mit einem Tuch und gab das verwitternde Antlitz des Toten frei. Leere Augenhöhlen starrten nach oben. Aufgedunsene graue Lippen stülpten sich über den einfallenen Mund. Nach dem Verwesungsstadium war der Tote vielleicht zwei Wochen alt. Aber die ausgehöhlten Augen erinnerten mich unweigerlich an den grauenhaften Zustand meiner Gefolgsleute, die man ja gleichsam verstümmelt hatte.
Der Anführer schien den Leichnam zu begutachten, mit seinen kochigen Fingern strich er ein einer abartigen Weise über das Antlitz des Toten, beinahe fürsorglich. Mit seiner hohlen Stimme rief er:
„Das Werk ist fast vollbracht! Mit jedem Körper gedeiht sie, Essenz der Toten, die unerschöpfliche Substanz der Anderen Welt. Sie zerstört und schafft, sie verdörrt und gebährt“
Der Sektenführer, oder was auch immer er war, hob ein Gefäß vom Boden auf und öffnete einen Glasverschluß. Mit einer Art Greifzange schließlich holte er etwas heraus. Erst sah ich nicht genau was es war. Als es jedoch über den leeren Augenhöhlen des Leichnams absetzte, erkannte ich, daß es Würmer waren! Gelbe Würmer. Saure Magensäfte wollten meiner Kehle hochsteigen, als ich mit Abscheu diese Szenerie verfolgte. Dieser Bastard gab dieses Gewürm in die Augenhöhlen, welches sich mit offenbarer Gier in das verwesende Fleisch wühlte. Noch immer begreife ich den Irrsinn nicht, aber ich vermute, daß dieses Gewürm seinen Beschwörungen diente. Oder es war einfach nur Teil dieses entsetzlichen Rituals.
Die anderen Vermummten begannen nun etwas zu singen, wobei ihr Singen nichts melodisches hatte. Es war ein bizarrer Chor aus stöhnendem Singsang und Gekrächze. Aber sie sangen stets den gleichen Satz: „Uzmuon ruft! Höre und gehorche!“
Der Chor schwoll an, während der Anführer, den seine Schar als Uzmuon bezeichnete, beschwörend die Hände über dem Kadaver hielt und seine Augen schloß. Währenddessen murmelte er unverständliches in ekstatischer Gebärde. Schließlich öffnete er seine Augen, und der Chor verstummte plötzlich wie auf ein Zeichen. Dann rief Uzmuon mit seiner dröhnenden dunklen Stimme nur diese Worte, die ich immer noch alptraumhaft zu vernehmen scheine:
„Erwache! Erwache, mein Geschöpf, und folge Uzmuon, deinem Herrn!“
Und meine Vorahnung offenbarte sich zur schrecklichen Wahrheit. Den Leichnam erfüllte ein widerliches Zucken. Ungläubig riß ich die Augen auf und stopfte mir die Faust in den Mund, damit mir kein Schrei des Entsetzens entwich. Denn der runzlige Mund des Leichnams öffnete sich und aus dieser vom Tod berührten Kehle entwich ein gurgelnder Seufzer, der mir kalte Schauer durch Mark und Bein trieb. Die schwammigen Gliedmaßen bewegten sich mürbe, als Leben den Körper von neuem erfüllte. Aber kann man es überhaupt Leben nennen? Ich wage kaum, dieses Wort in der Beziehung zu gebrauchen. Üble Nekromantie war es, welche die Leiche wiederbelebt hatte, dunkelste Totenbeschwörung, von der ich nie geahnt hätte, daß sie wirklich solches erwirkte!
Der Wiedererweckte rollte orientierungslos mit dem Kopf herum, während er schaurige ächzende Laute von sich gab, offenbar die Qual in sich tragend, wieder aus dem Totenreich geweckt worden zu sein.
„Legt ihm Binden an!“, befahl der Anführer. „Und heißet euren Bruder willkommen“.
Euren Bruder? Da dämmerte mir es! All diese verhüllten Gestalten, von denen ich angenommen hatte, es seien Aussätzige, waren – wiederbelebte Tote!
Mit wachsendem Entsetzen beobachtete ich noch, wie andere der Brut dem neu Erweckten Stoffbinden um die Gliedmaßen und Gesicht wickelten, wohl damit der faulende Körper nicht auseinanderfallen würde. Plötzlich hob der Anführer den Blick in meine Richtung, - und starrte mich an. Ich schwöre, er sah mir direkt in die Augen! Obgleich ich doch versteckt in der Dunkelheit war, und man mich doch gar nicht sehen konnte! Erst gelähmt durch diesen durchdringenden Blick, bewegte ich mich schließlich von dem Gitterfenster fort. Dann stolperte ich davon, floh den Schacht entlang weiter durch die Dunkelheit. Panisch und immer noch verfolgt von diesem wahnsinnigen Blick, der sich in meinem Gedächtnis festgefressen hatte. Ich kroch nicht den Schacht zurück, wo ich hergekommen war, nein. Denn dort müßte ich vorbei an dem Eingangstor dieses Raumes. Doch ich wollte weg davon, weg von allem hier, von dem ganzen Wahnsinn. Ich hatte ihn gesehen. Genug gesehen. Aber die Neugierde war erloschen, nun wollte ich alles hinter mir lassen und die Freiheit wiederfinden.
Ich kroch den Schacht weiter. Irgendwo schließlich sah ich Licht. Und ich wußte noch nicht wo dieses Licht herkam, ließ mich indessen von ihm leiten. Aber ich erkannte nun, daß ich den Schacht in eine schmale Wendeltreppe gefolgt war, die spiralenförmig aufwärts führte, immer weiter. Das Licht drang aus Spalten im Mauerwerk der Außenwand dieses Treppenschachtes. Es war Tageslicht! Führte der Weg etwa in die Freiheit?, schoß es mir in den Kopf, und voller Hoffnung rannte ich weiter, keuchend und übersäht von Schürf- und Platzwunden vom blinden Hasten durch das Gemäuer. Ich mußte mich in dem Turm befinden, den man von außen gesehen hatte. Das einzige des ganzen Gewölbes, was wirklich von außen sichtbar ist.
Meine Flucht endete an einer Tür, die nicht verriegelt war und zu einem quadratischen Raum führte. Auch hier sah ich sofort willkommenes Tageslicht durch Scharten in der Mauer herein, das noch immer genügend Licht spendet, um alles zu sehen. Dies ist der Raum, in dem ich nun harre. Denn es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Ich habe bereits vergeblich nach Fenstern oder anderen Ausgängen gesucht. Es gibt nur die Tür durch die ich gekommen bin. Dies ist ein Geheimraum, wie es aussieht. In der Mitte steht dieser Tisch mit einem Schemel. An der Wand etliche Regale mit verstaubten Pergamenten und Büchern. Vielleicht werde ich mir diese näher ansehen, wenn ich diese Aufzeichungen fertig geschrieben habe. Vielleicht.
Auf dem Tisch fand ich eine Schatulle mit Schreibutensilien und in einem der Regale auch das nötige, auf dem ich nun das alles niederschreibe.
Ich hoffe bei allem was mir heilig ist, daß jemand diese Aufzeichnungen findet, um sie als Warnung zu verstehen. Noch mehr hoffe ich, daß ich aus diesem Gewölbe entfliehen kann. Meiner Schätzung nach sitze ich hier seit einer Stunde. Vielleicht auch länger, ich kann es nicht sagen. Ich sehe nur das schwache Tageslicht einen gedämpfteren Ton annehmen und schließe daraus, daß der frühe Abend hereingebrochen ist. Wenn es hier einen Weg raus gibt, dann wird es lange dauern, diesen zu finden. Selbst ich als Meister im öffnen von Schlössern und Türen vermag nicht, die starke Mauer zu bewältigen, die mich nur wenige Schritte von der Freiheit trennt. Was für eine Ironie des Schicksals.
Bei den Göttern, ich höre Schritte! Schleppende, schwere Schritte. Sie kommen näher, die Treppe herauf! Sie haben mich gefunden, die Heiligen stehen mir bei! – Da! Ich höre ihre röchelnden Atemzüge, ihr leidendes Keuchen, ihr hassvolles Grollen. Gleich werden sie die Türe öffnen, es gibt keinen Ausweg!
Mögen die Götter mir ein gnädiges Ende gewähren! Mögen andere diese Aufzeichnungen finden, die ich in eine der Spalten nach draußen schieben werde!

Ende – Fortsetzung folgt



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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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