Annika Albe

Begegnung

Es ist dunkel. Schwach flackert das kleine Licht über ihm. Der Sitz ist hart, der glatte Bezug an manchen Stellen zerissen. Er sitzt da, starr. Die Hände vor Anspannung zu Fäusten geballt. Ein Lichtschein mitten in der Dunkelheit. War es ein Auto, oder schon die erste Laterne des Bahnhofes?

Jeden Tag und jede Nacht muss er mit dem Zug eine Stunde fahren. Er denkt an Mutter, die wohl wieder hinter den bunt geblümten Vorhängen steht und auf die kleine schmutzige Gasse hinab schaut. Jeden Tag und jede Nacht steht sie da und wartet auf ihn.

Sein Blick wandert in Richtung Dunkelheit. Es war wohl doch nur ein Auto. Allmählich lässt die Anspannung nach und eine unbeschreibliche Müdigkeit überkommt ihn. Draußen ist es schwarz.

Was wohl Vater wieder tut? Er sitzt wahrscheinlich wie jeden Tag und jede Nacht an seinem Tisch in der rechten Ecke des Wohnzimmers, gleich neben dem Fernseher. Auf dem Tisch wird die Tageszeitung liegen und Vater wird sich den Tabak aus dem Küchenschrank nehmen, seine Pfeife stopfen und dann die zweiundzwanzig Uhr Nachrichten schauen. So, wie er es immer tut.

Ihm ist kalt. Der Mantel, den seine Mutter noch schnell heute morgen gestopft hat, hilft nicht sehr gut gegen die Kälte. Er zieht dennoch den Kragen höher. Er lässt seinen Blick durch den Zug gleiten. Eine alte Frau sitzt zwei Bänke hinter ihm. Sie schläft. Ihr Gesicht ist alt und die Haut erscheint in dem matten Licht sehr grau. Dennoch hat sie ein feines, zartes Gesicht. Ihr Atem geht ruhig. Ihre Hände liegen zusammengefaltet auf dem Schoß. Er schaut sie an. Eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten. Er sieht die Frau, sieht seine Mutter. Sie ist anders. Ihr Gesicht ist hart und kühl. Wenn Mutter schläft, liegt sie nicht ruhig da, sondern stöhnt bei jeder Umdrehung. Sie sagt, dass die frühere harte Arbeit daran schuld sei. Er soll es besser haben. Ihm hat sie eine leichte Arbeit besorgt. Seit letztem Jahr arbeitet er in einem Parkhaus. Er muss Knöpfe drücken, Karten verkaufen und kann Kaffe aus dem Automaten im Einkaufszentrum trinken. Jeden Tag macht er das. Er schaut auf seine Schuhe, die seine Mutter ihm jeden Tag putzt. Er schaut die Schuhe an und sieht sie doch nicht. Er denkt an Leben.

Ein Ruck, der Zug hält. Es ist der Bahnhof vor seiner Station. Hier steigt selten jemand ein. Er blick hinaus in die Nacht und denkt an Vater, Mutter, Leben.

Ein Windstoß, die Tür wird aufgerissen. Doch er merkt von alledem nichts. Er blickt hinaus ins Nichts. Wieder ein Ruck und der Zug fährt an. Jetzt sind es nur noch zwanzig Minuten.

Er schaut sich um. Die Frau hinter ihm ist aufgewacht. Blaue Augen schauen sanft zu ihm herüber. Seine Mutter hat keine blauen Augen, die sanft schauen.

Noch fünfzehn Minuten.

Er versucht, durch das Dämmerlicht weiter nach hinten in das Abteil zu sehen. Die letzte Bank ist besetzt. Das ist selten. Meist fährt er alleine im Zug. Ein Mann und eine Frau sitzen dort. Er kennt das Paar aus dem Parkhaus. Welchen Beruf der Mann ausübt, weiß er nicht, die Frau studiert.

Noch fünf Minuten.

Er hätte gerne studiert. Vielleicht Jura oder Medizin. Er beobachtet die Frau. Sie ist jung und hübsch. Er denkt an Leben. Der Zug hält.

Es ist sein Bahnhof.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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