Sandra Heimann

Geisterstunde

Er öffnete die Augen. Um ihn herum war es dunkel, nur ein leichter Lichtschein fiel vom Mond durchs Fenster herein. Der Durst hatte ihn geweckt.
Sein Blick fiel nach rechts auf den Wecker, als er sich langsam aufrecht hinsetzte. In rotleuchtenden Zahlen stand dort 00:31.
Er spürte, wie seine Kehle immer trockener wurde und mehr und mehr nach Wasser verlangte.
Sollte er es wirklich wagen in die Küche zu gehen, um sich ein Glas Wasser zu holen? Sollte er wirklich sein warmes, weiches Bett verlassen um dann mit nackten Füßen erst über den rauhen Teppich bis zur Tür, durch den dunklen Flur und dann über die kalten Fliesen bis hin zum Waschbecken mit dem erlösenden Wasserhahn zu laufen?
Sein Blick fiel wieder auf den Wecker. 00:34 Uhr. Bis zum Ende der Geisterstunde waren es noch 26 Minuten. Würde er es noch so lange aushalten oder würde er bis dahin nicht schon längst verdurstet sein?
Bis zur Tür würde er es leicht schaffen, das war klar. Aber dieser dunkle, lange Flur!
Der machte ihm Angst. Sicher, tagsüber, im hellen war es ein ganz gewöhnlicher Flur und es machte ihm überhaupt nichts aus, ihn entlang zu gehen.
Aber jetzt, mitten in der Nacht, zur Geisterstunde, verwandelt sich so ein Flur in eine grauenvolle Höhle mit gräßlichen Fledermäusen an der Decke, widerlichen Spinnen an der Wand und beißenden Ratten und gefährlichen Schlangen auf dem Boden.
Vorsichtig hob er die dicke Steppdecke hoch und drehte seine Beine nach rechts, so daß er mit den Füßen den Boden berühren konnte. Ein kurzer Schauer durchfuhr ihn, unter der Decke war es soviel wärmer gewesen.
Warum hatte er bloß vor dem zu Bett gehen nicht noch mal etwas getrunken? Dann hätte er jetzt nicht diesen schrecklichen Gang vor sich.
00:36 Uhr. Er atmete tief durch und überlegte sich für einen klitzekleinen Moment, ob er sich nicht doch lieber wieder hinlegen sollte.
Aber dieser Durst! Der war ja unerträglich! Nein, dachte er bei sich, ich werde es schaffen, denn ich habe keine Angst vor Ratten, Schlangen und sonstigen Getier, ich bin doch kein Feigling.
Oder doch? Was wäre wohl schlimmer, feige im eigenen Bett zu verdursten oder mutig im Kampf gegen Schlangen und Ratten zu sterben? Er stützte seine Hände auf die Bettkante und krallte sich mit den Fingern fest.
Wenn er ganz, ganz schnell rennen würde, könnte er es schaffen ohne überhaupt bemerkt zu werden. Seine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte die Umrisse der Tür erkennen.
Mit einem kräftigen Ruck stand er auf. "Ich weiß, das ich es kann. Ich werde es schaffen" sagte er laut zu sich selbst. Seine eigene Stimme so zu hören machte ihm Mut.
00:45 Uhr. Langsam und so leise wie nur möglich schlich er bis zur Tür, denn er wollte die Meute da draußen im Flur nicht schon vorher aufschrecken.
Ein letzter Blick zum Wecker.
00:46 Uhr. Er stand nun direkt vor der Tür und hatte schon die Hand auf die Klinke gelegt. In Gedanken stellte er sich vor, wie er die Tür öffnen und dann blitzschnell hinaus, durch den Flur, zur Küche hin rennen würde.
Das müsste doch zu schaffen sein. Einfach dran vorbei rennen, ohne hinzuschauen. Vorbei an den langen Schlangen, die nur darauf warten, sich um den Hals eines kleinen Jungen zuwinden, um ihn zu erwürgen.
Vorbei an den unzähligen Spinnen, die mit ihren ekligen behaarten Beinchen unter seinen Schlafanzug krabbeln würden, um ihr tödliches Gift direkt in seine zarte Haut zu spritzen.
Vorbei an den riesigen Ratten, die sich in seine Beine festbeißen würden, damit er stolpert und sie ihn vollends auffressen könnten.
Vorbei an den kreischenden Fledermäusen, die ihm um den Kopf fliegen und ihm wahrscheinlich die Augen auspicken würden.
Das müßte doch zu schaffen sein. Einfach dran vorbei rennen. Er nahm einen tiefen Atemzug und drückte die Klinke sachte nach unten.
Er konnte die Meute förmlich riechen, wie sie nur darauf warteten, ihn zu quälen. Er öffnete die Tür nur einen Spalt und lugte vorsichtig hindurch.
Sehen konnte er nichts, aber er hörte ein leises Zischeln und Piepsen. Jetzt war es zu spät, zurückgehen konnte er jetzt nicht mehr, jetzt hatten sie ihn schon längst bemerkt.
Er öffnete die Tür schließlich ganz und hob den linken Fuß zum ersten Schritt durch diese Monsterhöhle an. Noch immer konnte er nichts sehen, der Flur war stockfinster.
Suchend streckte er den Fuß nach sicherem Untergrund ab. Er stieß an etwas glattes, kaltes und wich erschreckt zurück.
Dadurch geriet er leicht ins wanken, konnte sich aber gerade noch am Türrahmen festhalten. "Einfach losrennen, einfach ganz schnell rennen." sagte er zu sich selbst.
Aber es funktionierte nicht, seine Beine wollten einfach nicht auf ihn hören. Sein Mund war so trocken, daß seine Zunge am Gaumen festklebte.
"Ich muß etwas trinken. Ich muß". Noch einmal versuchte er loszurennen, doch seine Beine kamen ihm schwer wie Blei vor.
Er schaffte nur ein paar Schritte und stand nun mitten im Flur. Er spürte wie sich die Schlangen langsam um seine nackten Füße wanden, er fühlte die Spinnen, die schon bis zu seinen Armen hinaufgekrabbelt waren.
Er hörte die Fledermäuse um seinen Kopf kreisen und Ratten an seinen Zehen nagen. Ein Ohnmachtsgefühl überkam ihn. Er holte noch einmal tief Luft, verdrehte dann die Augen und ließ sich nach hinten fallen.
Mit einem lauten Knall schlug er auf den Boden auf.

Eine Mutter kniet weinend über ihrem toten Kind, daß in der Nacht über leere Bierflaschen gestolpert und unglücklich gestürzt war. Und der Wecker in dem Kinderzimmer zeigt in rotleuchtenden Zahlen 00:59 Uhr an. Eine Minute vor Ende der Geisterstunde. Hätte er doch bloß gewartet.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.03.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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