Carsten Maday

Lemming

„Individualität.“, sagte Lemming und trat verdrossen nach einem Stein, dessen Bahn nach wenigen Schritten im dichten Nebel verschwand.
„Individualität. Pah, was hat´s mir schon eingebracht?“, sagte Lemming bitter und stapfte weiter den Hang hinauf. Der Nebel lag wie eine feuchte Maske auf seinem Gesicht, sein Pelz war triefend nass, und der letzte Rest von Wärme, der noch in Lemming steckte, entfloh dampfend seinen Körper. Nun, zumindest waren die Flugbedingungen schlecht.
„Na los, wo bleibt ihr denn?“, sagte Lemming und blieb für einen Moment stehen.
„Ja, das mit der Individualität ist schon so ´ne Sache“, sagte er und schüttelte die Feuchtigkeit aus seinem Pelz.
„Nehmt mich zum Beispiel. Ich heiße Lemming. Schöner Name, kann man nichts gegen sagen. Ist ja irgendwie passend. Mein Vater hieß auch Lemming. Meine Mutter ebenso. Lemming, der Sohn von Herrn und Frau Lemming. Lemming Lemmingssohn. Stellt Euch das ´mal praktisch vor. He, hör ´mal, hast Du schon das neuste von Lemming gehört? Nein? Der hat Lemming geheiratet. Komisch, ich dachte der wäre mit Lemming verlobt. Na, versteht ihr was ich meine?“
Lemming stapfte weiter durch den Nebel, der sich nicht vor ihm teilte, sondern dick und zähflüssig um ihn herum floss, ihn ganz umhüllte. Die Welt schien auf die geringe Sichtweite beschränkt zu sein. Mit jedem Schritt rang er dem Nebel ein weiteres Stück der Welt ab und verlor zu gleich, was hinter ihm lag. Raum und Zeit schienen bedeutungslos, und gern hätte Lemming geglaubt, er könne ewig so weiter gehen, erschaffen und verlieren, einfach nur leben.
„Ja, ja, ja. Ist natürlich nicht wahr. Wenn ihr meint, so sähe das Leben aus, wenn ihr einfach nur euren Weg gehen wollt, dann sperrt ´mal eure Ohren auf. Hört ihr das Grollen der Brandung? Noch ein paar von diesen Ichwilleinfachnurlebenscheiß-Schritten und dann wollen wir ´mal sehen, ob eurer Optimismus Euch Flügel verleiht. Wenn nicht, dann geht´s abwärts die Klippen ´runter. Das ist das wirkliche Leben. Nichts lehrt einen so viel Demut, wie ein Sturz von einer Klippe. He, ich muss es wissen, ich bin ein Lemming.

Sinnlos warfen sich die Wogen wieder und wieder gegen die Klippen, nur um auf kalten Fels zu treffen, der sie brach, sie höhnend zurückschmetterte, die Gischt wie verzweifelte Tränen an den Rand der Klippe schleuderte. Lemming dachte an sein Leben, dachte darüber nach, dass er dachte.
„Das ist wohl das schlimmste“, sagte er. Er lächelte. „Na ja, für einen Lemming jedenfalls.“
Er kratzte sich am Bauch, witterte in der nebligen Luft die nahende Erlösung: Wind kam auf.
„Wo beginnen?“, fragte Lemming. „Am Anfang? Leicht gesagt, aber wer weiß schon, wann eine Krankheit beginnt? Schleichend ist sie, hinterhältig, unwiderstehlich, tödlich. Wann bekam ich sie? Ich weiß es nicht, aber es war hier, an dieser Klippe, da sie ausbrach.

Gott (ein Punkt auf den ich erst später eingehen werde) was hatte ich damals Angst. Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen mit geringer Bewölkung. Wir wissen alle, was das bedeutet, aber mein Vater musste mich ja unbedingt an diese Klippe schleifen. Die Sonne sandte ihre wärmenden Strahlen auf das taunasse Gras. Mir schlotterten die Knie, aber mein Vater stand aufrecht am Rand der Klippe und deutete mit ausladender Geste hinab in die tosende Tiefe. „Junge“, sagte er, „eines Tages, wenn ich nicht mehr bin...“ Ich protestierte artig.
„Nein, nein, Junge, der Tag wird kommen“, fuhr er fort und blickte wehmütig in die Brandung. „An diesem Tage wird dies alles...“, er zeigte auf die scharfkantigen Felsen, die bedrohlich einladend sichtbar wurden, wenn das Wasser sich zurückzog, um Kraft zu sammeln. „...DIR gehören.“ Den väterlichen Stolz seiner Stimme konnte selbst das ewige Tosen nicht unterdrücken. Und eben jener Tonfall war es, der mich meinen Blick vom Himmel auf meinen Vater lenken ließ. Seine Augen, wie erwartungsvoll sie blicken. Und was sie erwarteten, war die Bestätigung dessen, woran mein Leben nie einen Zweifel hatte aufkommen lassen, dass ich ein guter Sohn, ein guter Lemming war.
Er wollte Dank und erhielt nur ein Zögern. „Was soll ich mit ein paar blöden Felsen?“, dachte ich. Und hätte ich diese Worte laut gesprochen, so hätten sie meinen Vater nicht mehr schmerzen können, als mein Zögern. Ich las die Enttäuschung in seinen Augen, sah, dass er sich verraten fühlte, verraten von dem Lemming, den er am besten zu kennen glaubte. Ich schwöre, dass ich das nicht wollte und ich wünschte, ich hätte damals einfach „Danke“ gesagte. Aber ich erkannte mich selbst nicht.
Bis heute weiß ich nicht, ob das Entsetzen in den Augen meines Vaters mir galt, oder der Schnee-Eule, die auf ihn herabschoss.

„Ob ich mir die Schuld an seinem Tod gebe?“, fragte Lemming. „Natürlich, verdammt noch mal. Was würdet ihr denn tun, wenn ihr in der einen Minute eurem Vater das Herz brecht und in der nächsten sein Blut in eurem Fell kleben habt?“
Lemming ließ seine Beine über den Rand der Klippe baumeln.
„Mutter nahm es gelassen. Wie denn auch nicht, ich meine, sie war ein kleines, wuscheliges Nagetier und die werden eben von Eulen gefressen. So ist das Leben.“
Er schnippte einen kleinen Stein über die Kante, sah zu, wie er im Nichts verschwand.
„Ob ich daran gedacht habe, mich umzubringen? Gründe dafür hätte ich eigentlich genug, ich meine, da entwickelt man erste Zeichen von Individualität und Vater stirbt. Meine Güte, wenn das kein Trauma ist, weiß ich auch nicht.“
Er beugte sich ein Stück weit vor, starrte in die Tiefe.
„Hätte ja von der Klippe springen können, hahaha. Herrgottnochmal, ich bin ein Lemming, aber was tat ich? Ich klammerte mich an ein Leben, das längst nicht mehr meines war.
Ach, scheiß Individualität.“

Es war ein üppiges Jahr, und kein Lemming musste hungern und nicht wenige teilten meines Vaters Schicksal, denn auch den Schnee-Eulen ging es gut. Irgendwann entdeckte ich, dass es bei weitem angenehmer war, ihnen die Schuld an Vaters Tod zu geben als mir selbst. Von all dem, was in mir wuchs, gedieh der Hass am besten, so gut, dass er den anderen Gefühlen das Licht nahm. Hass- und Schuldgefühle sind für einen Lemming, das darf ich wohl mit Fug und Recht behaupten, äußerst ungewöhnlich. Na, schön sind sie beide nicht. Aber ´mal ehrlich: Vor die Wahl gestellt, welche der beiden hätte ihr denn bitte gewählt? Na, dachte ich´s mir doch. Scheiß Schnee-Eule! Nie werde ich das Muster auf deinem Rücken vergessen, das mich lachend zurückließ, als Du meinen Vater stahlst.

Was für ein Narr ich war, zu denken, ich könne meinen Hass kontrollieren, ihn auf meines Vaters Mörder bündeln. Oh weh, das konnte nicht klappen. Er begann sich selbständig zu machen.
Die Weibchen warfen wie wild, und bald konnte man kaum durch die Berge springen, ohne anderen Lemmingen auf die Pfoten zu trampeln. Überall waren sie, machten was brave Lemminge machten: sie fraßen und wurden gefressen. Und der weiße Tod hielt reiche Ernte, doch selbst er, so allgegenwärtig er war, konnte die Flut nicht aufhalten. Und mitten darin stand ich. Warum wusste ich nicht, ich sah nur, dass ich anders war.
Alles schien sinnlos, als sei das Leben nur der hohle Raum zwischen Geburt und Tod: gerade lang genug, um eines anderen Magen zu füllen. Da war sie, die große, eine Frage, die ein Lemming noch nie zuvor gestellt hatte, die er auch nicht stellen durfte, ja, die ihn gar nicht zu interessieren hat: Ist das wirklich alles? Ja, natürlich! Aber damals wollte ich das nicht einsehen, sah nur die anderen, wie sie blind durch eine grausame, tödliche Welt spazierten, an Fortpflanzung und Nahrung dachten. Zufrieden mit der Bedeutungslosigkeit. Da griff der Hass. Oh, sie waren so klein, so begrenzt, aber ich dachte in so viel größeren, besseren Dimensionen. Der Freund der Anmaßung ist die Verachtung, und sie wuchs, denn, von der Rechtmäßigkeit meines Wesens überzeugt, versuchte ich bald andere zu bekehren. Das heißt natürlich nicht, dass ich alle Fesseln meiner pelzigen Art abgelegt hatte. He, ich bin ein Lemming.

Sie hieß Lemming und war eins dieser kleinen wuscheligen Biester, die einen Lemming verrückt machen konnten. Und dieser Pelz, Wahnsinn! Wir trafen uns an einem Tag, wie er schöner nicht hätte sein können, auf einer Wiese, so herrlich blühend, dass es eine Sünde war, sich ihr nicht zu ergötzen. Nun, wir waren jung und widmeten unsere Aufmerksamkeit der Paarung. Ich hörte mich selbst belangloses Zeug reden, war selbst bei der Verlustliste meiner Familie (Eulen: 15, Lemminge: 0) nicht ganz bei der Sache, denn mit jedem Atemzug sog ich ihre Paarungsbereitschaft ein, und es dauerte nicht lange, da sah ich meinen vor Geilheit bebenden Körper auf sie springen, und mich selbst rammeln, als gäbe es kein Morgen mehr. Ach, für einen Moment lang war ich, wie ich sein sollte. All die Gedanken, die mein armes Hirn auf dem Weg zu ihr zum kochen brachten, waren fort. Oh, Liebe war es, so dachte ich, denn ich mein neues Ich weigerte sich blind einem natürlichen Trieb nachzugeben. Auch danach wollte ich sie lieben, tat es auch und glaubte es zu tun, doch während jener wenigen, sorglosen Augenblicke, da wir es wie die Lemminge trieben, da war es gut. Versteht das nicht falsch, aber das Liebesleben der Lemminge ist nicht gerade durch seine grenzenlose Ekstase bekannte, aber das war es auch nicht, was mich bewegte. Es war richtig, es war normal. Als ich meine Ladung neuer Lemminge in sie schoss, begriff ich dies nicht, denn Normalität lernte ich erst schätzen, als ich Lemmings kleinen, flauschigen Bauch ein letztes Mal sah, ehe die Wellen sie von den Felsen ins Meer rissen.
Lemmings Grabwerkzeuge wuselten durch mein Fell, und mit der angenehmen Entspannung kamen die Gedanken zurück, stürmten gegen die Reste meines alten Ichs, das mehr und mehr zu zerbersten drohte. Oh, dachte ich, was für ein verdammter Bastard von einem verantwortungslosem Lemming ich doch bin. Hier liegt Lemming, der Lemming den ich liebe, und ich zwinge sie dazu, kleine Lemminge in eine von Eulen gebeutelte Welt zu werfen, die sicherlich eine Menge zu bieten hat, aber gewiss eine große Lebensaussicht. Verdammt, gibt es nicht schon genug von uns? Wie konnte ich es wagen? Oh weh, nur aus purer Geilheit! Na prima, kaum ein paar Wochen ein Individuum und schon einen Charakterfehler von der Größe von Vaters, ach nein, meiner Klippe. Verdammt! Oh, diese Schuld wird über mir schweben, wie diese Schnee-Eule dort oben, und genau wie sie, wird Strafe für meine Schwäche eines Tages auf mich herabstürzen und... He, Moment mal. Arrggg...“
Die Reste meines Lemming-Daseins starteten meinen Überlebensinstinkt. Ratternd kam er in Gang. Lemming sprang ebenfalls auf. Wir entschieden uns für die altbewährte Lemming Fluchtstrategie: getrennt fliehen, einsam sterben. Die Schnee-Eule entschied sich für Lemming. Ich sah´s aus den Augenwinkeln heraus, als ich versuchte, die Felsen im Zickzacklauf zu gewinnen. Ich rannte schneller, dann langsamer, blieb endlich stehen, schüttelte den Kopf, rannte wieder los und während ich so rannte, bemerkte ich zu meinem Entsetzen, dass ich auf meiner Flucht anscheinend meinen Überlebensinstinkt und meinen gesunden Lemmingverstand verloren hatte: Ich hatte kehrtgemacht und rannte zurück. Meine Güte, ich glaube, ich schrie sogar.
Lemming tastete nach einem weiteren Stein, hielt ihn hoch.
„Ja, ja“, sagte er, „das war schon seltsam, weiß gar nicht wie ich´s euch beschreiben soll. Aber ich versuch´s einfach mal, vielleicht verstehe ich es dann selbst. Beobachtet den Stein!“
Lemming ließ den Stein über den Rand fallen. Der Wind drückte ihn gegen die Klippe und der Stein prallte vom kalten Fels ab, wirbelte einige Schritt von der Felswand fort, um in seinem unaufhaltsamen Fall aufs Neue vom Wind gegen den Fels getragen zu werden. Weiter und weiter fiel er holpernd in den dunklen Schlund, als wollte weder die Wand noch der Wind sich seiner erbarmen, so als stießen sie in von sich, bis dass er in die dunkle, gischtgepeitschte Tiefe stürzte.
„Seht ihr“, sagte da Lemming, „ich meine, das war viel zu langsam. Stein fällt, Stein schlägt auf, keine Zeit den Fall mit Gedanken zu füllen. Und so war es an jenem Tag: jeder Schritt, den ich auf Lemming zu machte, schien eine Ewigkeit zu dauern, gut, vielleicht waren meine Gedanken auch zu schnell, und mir kam es nur wie eine Ewigkeit vor. Was weiß ich? Ich bin ein Lemming und dementsprechend unerfahren in solchen Dingen.“

Ich rannte also, und wurde von meinen Gedanken überholt. Langsam schoss die Schnee-Eule auf Lemming hinab, die, zäh wie der Harz, der von den Bäumen fließt, hakenschlagend über die Wiese jagte. Schritt. Was mache ich hier eigentlich. Schritt. Hallo, Echo? Schritt. Wahnsinn, ich laufe schreiend auf eine Schnee-Eule zu. Schritt. Verdammte Individualität, das ist der Grund. Oh du grausame Wahrheit. Schritt. Dort rennt sie. Schritt. Ich liebe sie. Schritt. Ich muss sie retten. Schritt. Stirbt sie, sterbe ich. Schritt. Oh nein, wie erbärmlich ich bin, denn das ist die Wahrheit. Schritt. Ich bin kein Held, ein Feigling bin ich. Schritt. Ein Egoist. Schritt. Will sie um meinetwillen retten. Schritt. Das ist es. Die traurige Wahrheit. Schritt. Oh, ich liebe sie, klar, kein Zweifel, deshalb will ich sie ja auch retten, selbst wenn ich dafür sterben muss. Doppelschritt. Wie bitte soll ich denn weiter leben in dem Bewusstsein, dass der Lemming den ich liebe, von eine beschissenen Schnee-Eule gefressen wird, während ich versuche mein lächerliches Leben durch Fluch zu verlängern? Schritt. Schritt. Es ist die Angst vor diesem Leben, die mich den Tod suchen lässt. Reine Feigheit. Schritt. Bitter, bitter, na ja vielleicht bin ich doch ein Held, wo ist da schon der Unterschied. Schritt.
Es gibt Dinge, die die Ewigkeit zerreißen, die einen aus dem Schlaf in die Realität schleudern, kleine Dinge, vielleicht Gedanken, vielleicht Geräusche, manchmal ein Bild, manchmal eine Erinnerung. Schritt. Dieses Muster kenne ich doch...
Nun brüllte ich, rannte schneller, als es die Zeit erlaubte, so, als wolle sie ihre Schuld begleichen. Schon sah ich die Krallen im Licht der Sonne blitzen, jener Sonne, die unsere Paarung so wärmend segnete, und die doch so treulos sich dem elendesten Geschöpfe hingibt. Endlich fuhr die Eule mit dem Schädel herum, sah mit ihren scharfen Augen mich armen Irren heranstürmen. Ihre Aufmerksamkeit war mir sicher. Lemming entkam, die Eule hielt auf mich zu und schien alles in allem überrascht und neugierig zu sein. Ich fragte mich, was größer war. Ihre Neugierde oder ihr Hunger. Schritt.

„Na ja“, sagte Lemming und ließ sich hintenüber ins feuchte Moos fallen. Der Wind riss bereits Löcher in den Nebel. Irgendwo hinter den Bergen wartete die Sonne nervös auf ihren Auftritt.
„Es kam der Moment, an dem ich improvisieren musste.“

„Ho, ho. Wen haben wir den da? Lemmus Lemmus...“, begann die Eule amüsiert, doch ich würgte sie ab.
„Schnauze! Spar dir deine Eulenweisheit. Erwartest du etwa eine gepflegte Konversation bevor du mich frisst? Sieh Dich doch an, an deinen Federn klebt noch das Blut deines letzten Opfers. Töte mich, friss mich, morde mich dahin, doch beleidige mich nicht durch deinen Hochmut. Ha, waltet deines Amtes, tausendmal verfluchter Bote des Todes, nimm, zerreiße mit deinem Mordschnabel und Krallen meinen Pelz, weide mich aus, schlürfe mein Gedärm, stärke dich an meinem Körper, lass zurück von mir, was du von meinem Vater ließest, ein Stück Fell, Fleisch und Blut auch, und die wenigen Erinnerungen, die mir in meinem Herzen von ihm blieben, nimm auch sie, schluck es herunter, ernähre deine verruchte Brut, reiß es mir aus dem zuckenden Leib, doch denke ja nicht, du könntest dein Tun verbergen hinter deiner Arroganz, nein, nimmer mag dies geschehen, denn es ist was es ist, und ich nenne es Mord!“
„Nimm es nicht persönlich“, sagte die Schnee-Eule und beugte sich zu mir hinunter. Tja, die Woge der Triumphes ebbte recht schnell ab, als ich ihren Atem spürte: er roch nach herauf gewürgtem Lemming. Ich versuchte nicht in Ohnmacht zu fallen, als die Eule fortfuhr:
„Was soll ich denn machen, ich muss fressen, um zu leben, um meine Kinder zu ernähren. Das ist meine Natur.“ Es ist recht schwer in dem Gesicht einer Schnee-Eule Gefühle zu lesen, abgesehen von Hunger, damit liegt man meistens richtig, nein, ich meine überall Federn und dieser gekrümmte Schnabel. Vielleicht meinte sie wirklich, was sie gesagte hatte, höchstwahrscheinlich war es auch die traurige Wahrheit, aber ich zog es Zeit meines Lebens vor zu glauben, dass sie uns nur zu vier Fünfteln als Nahrung ansahen. Der Rest war Unterhaltung. Ich weiß, ich weiß, ein billiges Vorurteil, das abzubauen mir allerdings in Angesicht meines nahenden Todes nicht möglich war.
Nimm es nicht persönlich! Toller Rat. Das Problem ist nur, als Individuum nimmt man alles persönlich. Ich verlor die Fassung, aber leider nicht meine Angst, so dass ich zum einem faulen Kompromiss gezwungen war, bevor ich sie anschrie: Ich wich zurück.
„Bravo, was erwartest Du? Dass ich dir einen Preis für die ehrlichste Aussage dieses Jahres verleihe? Es ist deine Natur? Ha, dass ich nicht lache. Von wegen Natur, ein Verbrechen ist es, das der Starke an dem Wehrlosen verübt.“ Ich sammelte was an Speichel noch in meinem Mund war, und spukte ihr mein Pathos vor die Krallen:
„Komm schon, friss mich, dann brauch ich mir wenigstens nicht diesen Unsinn anzuhören. Was? Halt, einem Moment noch. Jawohl, der Starke frisst den Schwachen, doch größer als dies Verbrechen ist das Unrecht, dies als Recht, ha, als Natur, als Leben hinzustellen. Nein, diese Lüge kann nur von dem Mörder kommen, das Opfer aber verspottet sie!“
Ich fand, dass dies eine sehr schöne Rede gewesen war. Das Bedauerliche war nur, dass es keinen Unterschied machte, ob es Natur oder Tyrannei war: der Lemming wurde trotzdem gefressen.
„Bringen wir es hinter uns“, sagte sie schließlich, als dächte sie wirklich, dass dem Opfer eine aktive Rolle zufiel.
„Ja“, sagte ich und nickte so traurig und so langsam wie ich konnte. Der Schnabel kam näher, öffnete sich zaghaft, fast zärtlich spürte ich den Atem der durch mein Fell fuhr und einen Moment schien es mir so, als schäme sich die Eule mich nach unserem Gespräch mit grober Gewalt zu verschlingen.
„Friss mich, wie du meinen Vater gefressen hast“, sagte ich so schicksalsergeben, wie es ein Lemming nur konnte. Sie nickte verständnisvoll, immer noch die weise Eule bis zum letzten Biss. Ich sog ihren Atem ein. Ich würgte. Der Geruch von erbrochenem Lemming nahm mir die Luft. Ich übergab mich, kotzte über mein Fell. Und aus den Augenwinkeln sah ich, wie die Eule verdutzt innehielt. Ich ergriff meine Chance, fiel zu Boden, rollte mich wie toll durchs Gras. Krämpfe zuckten durch meinen Körper. Schaum entstand auf meinem Maul. Ich spuckte ihn ihr ins Gesicht, als ich sie jämmerlich darum bat, mich zu fressen, mein Leid zu beenden.

Vorsichtig lugten die ersten Strahlen über den Gebirgskamm, zerrten die Sonne mit sich, die als verschwommene rote Scheibe durch den Nebel schien. Wind und Wärme schlossen eine Allianz, welcher der graue Schleier über der Klippe nicht standzuhalten vermochte. Ein erster, klarer Tag, am Ende eines langen Winters, und Lemming balancierte ausgelassen am Abgrund entlang. Er lehnte sich weit hinaus, und nur der Wind zerrte an seinem Fell, als wolle er Lemming vor dem tödlichen Sturz in die Tiefe bewahren. Er zog die Schultern nach vorn, legte die Vorderpfoten an, formte mit seinem Körper eine Höhlung, in die der Wind fuhr und ihn aus der Schwebe nach hinten warf. Lemming landete mit seinem Hintern auf dem Moos, lachte wie ein ausgelassener Lemming, streckte wohlig alle Viere von sich, als eine Bö seinen Bauch streichelte. Er sprach wieder:
„Was? Habt ihr etwas geglaubt, nur weil ich ein Individuum bin und mein Leben nach totem Lemming stinkt, dass ich deshalb so humorlos wie ein Polarfuchs bin? Oder habt ihr etwas Angst gehabt, ich könnte springen? Hm, vielleicht liegt tief unter dieser verfluchten Individualität doch noch etwas von einem vernünftigen Lemming, der einen prima Sturz von einer Klippe durchaus zu schätzen weiß. Seht doch nur, wie tief es hinab geht. Ein Sprung, so endgültig wie der Tod. Der Körper, zerschmettert von den Felsen, endlich hinabgezogen von den Wellen, doch in dem kürzesten aller Augenblicke, da man in die tosende Gischt eintaucht, wird man Teil des ewigen Wütens, des immerwährenden Sturmes der Wogen, der Unverrückbarkeit des Felsens, der einen zerbricht.
Vielleicht wussten die anderen um diese Ewigkeit, die ich als Individuum nur erahne. Sicher ist, sie waren im Tode glücklicher, als ich im Leben, denn in mir brandet der Hass, so ewig, wie die Wellen, doch was einst Lemming, was einst Gutes in mir gewesen, ist nicht aus Fels, sondern aus Sand, verdammt bei jedem Ansturm mehr und mehr zusammenzustürzen. Und höre ich in mich, so höre ich die Ewigkeit nicht mehr, denn die Wogen haben alles in die Tiefe gerissen, haben keinen mehr, an dem sie sich brechen könnten, und der Hass liegt still und friedlich über meiner Seele, wie das weite Meer. Ich glaube, es ist falsch, sich umzubringen. Verfluchte Erkenntnis meiner Individualität. Ich darf es nicht tun. Nun, jedenfalls nicht, ohne noch jemanden mitzunehmen...

Ich wälzte mich also von Krämpfen geschüttelt durchs Gras. Das schien die Schnee-Eule zu verwirren, jedenfalls hüpfte sie unschlüssig auf ihnen Beinen auf und ab, und zwang meinen Körper dazu, noch mehr zu zucken, als ich mein Gelächter herunter schlucken musste. Der weiße Todesbote mag ja majestätisch seine gierigen Bahnen am Himmel ziehen, aber am Boden, wenn er auf seinen gefiederten Beinen angewiesen war, machte der eine klägliche Figur. Der runde Kopf folgte drehend meinen Verrenkungen, der Schnabel öffnete sich wieder und wieder, halb hungernd halb angewidert. Ich denke, ich habe keinen besonders appetitlichen Anblick abgegeben. Jedenfalls meinte die Schnee-Eule, als ein weiterer Krampf durch meinen Körper schoss, mir die Luft aus den Lungen presste, dass der Schaum in einer weißen Fontäne nach oben geschleudert wurde:
„Ähm, na ja, dann wollen wir es für heute ´mal gut sein lassen, was. Noch ´mal Glück gehabt. Du darfst jetzt gehen, aber beim nächsten Mal fresse ich dich. So, troll dich!“
Es kam mich hart an, ihr das letzte weise Eulen-Wort zu lassen, aber bei aller Liebe zum Widerspruch, zog ich es vor zu warten, bis sie sich in die Lüfte erhob und verschwand, als mit einer brillanten, demütigenden Entgegnung auf den Lippen doch noch zu sterben.
Zugegeben nicht sehr einfallsreich, obwohl ich das mit dem Schaum vorm Mund ganz gut hingekriegt habe, aber ich bin ja noch ein Anfänger als Individuum. Außerdem fiel mir nichts besseres ein. Ja, ja, Euch hätte ich gerne mal gesehen. Was soll´s. Der Erfolg gab mir Recht, selten genug für einen Lemming. Die Eule verschwand, ich war noch am Leben. Aber das reichte mir nicht, oh nein, ich wollte mehr. Ich folgte ihr.

Oh, Hass war nicht das einzige was in mir brodelte, doch er war der Nährboden auf dem alles andere wuchs. Es gab keine guten, keine schlechten Eigenschaften in mir, nur willenlose Kreaturen, die ER sich dienstbar machte. Hass gierte nach Rache und Rache nach Zielstrebigkeit. Doch ist man erst der zielstrebige Rächer, sieht man sich mit dem Problem der Zeit konfrontiert. Hass schuf, was von Nöten war. So kam es, dass ich mich in Geduld übte und drei Tage an der Stelle wartete, wo ich die Schnee-Eule aus den Augen verloren hatte.
Wer denkt, dass das Schicksal launisch sei, der kennt nicht das Wetter in den Bergen.

Drei Tage, die ich im Regen und Schlamm verbrachte, ohne Schlaf und Nahrung, da ich stets fürchtete, die Eule könne an mir vorbei gelangen, während ich niedere Bedürfnisse befriedigte. Mein Pelz hatte eine perfekte Tarnung aus Schlamm und Exkrementen angenommen, und ich fühlte mich so, wie ich aus sah. Endlich sah ich sie, die Mörderin, und ich rannte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Irgendwann versagten meine Beine und ich musste fressen und mich ausruhen. Gegen Abend kam die Eule von ihrem Raubzug zurück und ich folgte ihr erneut, bis sie verschwand. Warten, hoffen, warten, allein beflügelt von der Gier nach Rache, die mich unweigerlich verzehren würde, wenn ich sie nicht stillen konnte. Wie viele Tage? Neun, ja ganz sicher, hab sie mit gezählt. Neun, doch der Zehnte lohnte sie mir tausendfach.
Ich sah, wie sie sich in die Lüfte schwang, sah ihr Muster, sah, was sie zurück ließ. Als ich mich vergewissert hatte, dass keine Gefahr mehr bestand, erhob ich mich aus meinem Versteck und hielt auf die kleine Bodenmulde zu. Piepsende Töne drangen an mein Ohr, als ich das Nest erreichte.

Och, wie unschuldig süß sie waren. Der Tod hatte Nachwuchs. Drei kleine, beflaumte Eulen, noch inmitten der Eierschalen, denen sie entsprungen waren. Sie blickten mich schmutziges Knäuel an, doch nicht mit Furcht, sondern mit freudiger Überraschung, dass ihr Grundnahrungsmittel nun frei Haus kam. Hunger hatten sie, die lieben Kleinen. Ich sprang zu ihnen hinab ins Nest und schon biss das erste mich in den Fuß.
„Na, na“, sagte ich, „seid ihr den ganz alleine? Ist Mutter nicht da? Nein? Oh, wie verantwortungslos.“ Ich lächelte so liebevoll ich konnte, tätschelte dem einen Jungen den Flaum auf den Wangen, drehte ihm den Hals um.
Erstaunlicher Weise wurde es still, fast anklagend ruhig. Als der leblose Körper schlaff aus meinen Händen glitt, sah ich die Empörung in den Augen der Jungen, die Fassungslosigkeit der Starken, wenn sie selbst Opfer ihrer eigenen Gesetze wurden. Nun war ich der Täter und ich genoss es. Ich stürzte mich auf das zweite Junge, biss ihm die Kehle durch, packte das letzte am Fuß, als es feige zu fliehen versuchte, prügelte es mit meinen Grabhänden, bis es still, blutig und nach ein paar weiteren Schlägen mit Sicherheit tot war. Ob ich mich schlecht fühlte? Nein, na ja, jedenfalls nicht mehr, nachdem ich mich übergeben hatte. Da stand ich, in Blut, Kotze und Eierschallen und fühlte mich groß, gut, unbesiegbar, war der Retter der Lemmingheit, denn ich hatte die Lösung gefunden, um mit den Eulen aufzuräumen. Gut, es war Mord, he, aber wenn wir nur erfolgreich genug sind, ist es kein Mord mehr, dann ist es unsere Natur. Wow!

Der Lauf des Lebens schlägt mitunter recht seltsame Wege ein, und das fatale an der Individualität ist, dass man den Weg nicht einfach geht, sondern sich ständig fragen muss, warum es denn gerade diese Richtung ist, warum der Weg so holprig, so steinig ist, warum die Füße bluten müssen, warum man überhaupt weiter soll, wenn es doch kein Ziel gibt. Solche Fragen machen das Wandern nicht gerade leichter, das könnt ihr mir glauben. So kam es, als ich dem Nest euphorisch und siegreich den Rücken kehrte und kaum zehn Schritte gegangen war, dass mein Weg mich geradewegs in den tiefsten Schwermut führte, meinen friedlichen Ozean, dessen hasserfüllte Wasser sich über mir schlossen, als mein Gewissen mich hinabzog. Der erste Tag meines langen Untergangs also. Nun, da ich ja zum ersten Mal ertrank und ich es in meiner Einfall nicht besser wusste, kämpfe ich dagegen an. Zugegeben, ein Fehler, denn je mehr ich gegen mein Gewissen ankämpfte, desto mehr füllte sich mein Meer, und sein Grund sank weiter und weiter, bis ich ihn nicht mehr erreichen konnte, um meine Schuld abzulegen, um wieder auftauchen, vielleicht sogar leben zu können. Na, was soll´s, Pech gehabt.
Gut, ich war zu dem geworden, was ich verachtet habe, ein Schlächter an Wehrlosen. Aber nein, nicht so selbstkritisch. Ich war ein Held, ganz eindeutig, ich hatte gemordet, um zu leben. Hatte ich? Ja, natürlich. Ja, Ja, Ja. Kein Zweifel. Oder doch? Nein, ich war gut, und mögen meine Motive noch so egoistisch, noch so widerlich gewesen sein, ich hatte die Lemmingheit doch zumindest vor drei weiteren gierigen Mördern bewahrt, habe Verbrechen begangen, nahm Schuld auf mich, um andere zu erretten. Mann, das ist wohl selbstlos, ha!
Ein schneller Atemzug, bevor ich wieder versank. Ich war einer Schnee-Eule entkommen, entkommen durch meine Individualität. Die Eule flog davon, um ihren Hunger anderweitig zu stillen. Hatte ich mein Leben auf anderer Kosten verlängert? Pfui, wie niederträchtig. Aber nein, ein Lemming mehr oder weniger, was soll´s, ich meine, wer weiß wie vielen ich das Leben gerettet habe, indem ich den drei kleinen Rackern für immer ihre gierigen Mäuler gefüllt hatte? Was ist einer, gegen so viele? Nichts? Ich bekam Oberwasser, erhob meinen Kopf über die Fläche meines Hasses und sah, dass ich gut war.
Ein unendlich zorniger Schrei hinter mir, beschwerte mein Gewissen um ein oder zwei Gebirge, und als ich in die Tiefe schoss, wehrte ich mich dennoch, warf mich zu Boden, verhielt mich still. Die Schnee-Eule war zurückgekehrt, und ihr Schrei war wie ich: hasserfüllt, gierig nach Rache. Hm, vielleicht war es keine gute Idee, den Kleinen die Flügel auszureißen und sie ihnen in die Kehlen zu stopfen.

Lemming lief auf und ab, blickte mal in den Himmel, mal in die Tiefe.
„Ob ich nervös bin? Ja, klar. Wenn man sich erst einmal zu etwas entschlossen hat, dann ist die Zeit zwischen Entschluss und Tat, die längste, die ich mir vorstellen kann. Aber letztlich wird auch sie vergehen. Anders sieht es aus, wenn man einen ganzen Winter allein in einem klammen Erdloch verbringt und die Kälte draußen genauso unerträglich ist, wie die Langeweile drinnen. Das ist die Hölle, und das einzige, was man tun kann, ist sie mit den eigenen Gedanken zu verschlimmern. Was bin ich, fragte ich mich eines Tages, und da es besonders kalt war, suchte ich nach einer Antwort. Kein Lemming jedenfalls, das war soweit klar. Was dann? Andersherum? Warum bin ich kein Lemming? Wieso bin ich, wie ich bin? Ich mummelte mich ein, versuchte mich selbst zu wärmen und Entwickelte das Konzept eines höheren Wesens, das ich, warum weiß ich auch nicht, Gott nannte, stolperte aber über mein Leben. Ich war anders, aber Lemminge haben nicht anders zu sein, verdammt. Hatte mich jemand so geschaffen? Wer und Warum? Gott, der große Lemming tief unter dem Gebirge? Warum sollte ein Gott-Lemming ein mobiles Nahrungsmittel erschaffen? Weil er einen recht subtilen Sinn für Humor hat? Na, Optimist, der ich bin, schlug ich mir diesen Gedanken aus dem Kopf. Ist Gott eine Schnee-Eule? Einiges sprach dafür, vieles dagegen. Immerhin waren auch sie tot. Warum sollte ein Gott Leben erschaffen, wenn er seine Schöpfung untergehen ließ? Es wollte mir nicht gelingen eine Antwort auf diese Absurdität zu finden. Ich zog es vor, den Fehler in meinem Gott-Konzept zu suchen. Warum bin ich verflucht, warum bin ich allein, warum mussten alle sterben und warum ist es so verflucht kalt? Gut, es gibt also keinen Gott. Die Wahrheit ist, das Leben ist, wie es ist und Lemminge werden gefressen.
Und ich? Gott, zum fluchen eignet sich mein Konzept hervorragend, ich bin ein Fehler des Lebens, ein DashätteniegeschehendürfenLemming. Das Leben ist bitter, aber sicherlich nicht humorlos, und so wuchs und wuchs der Fehler, dachte bald, das Leben sei falsch, nicht er, kämpfte dagegen an, nur um sich um so sicherer selbst zu eliminieren. Der Fehler erschuf einen Fehler und es dauert nicht mehr lange, bis dass das Leben wieder seinen ruhigen Gang zunehmen hoffte. Aber nicht mit mir. He, unterschätzt nie einen Lemming.

Die Schnee-Eule flog über mich hinweg, ohne Notiz von mir zu nehmen. Regungslos, niedergeschmettert und besudelt wie ich war, hielt sie mich wohl für ein lebloses Stück Scheiße. Leblos war ich nicht, denn kaum dass sie mordrufend an mir vorbei geschossen, sprang ich auf, rannte los, der traurigen Bestätigung meiner Furcht entgegen. Ich brauchte drei Tage nach Hause, genug Zeit für den kleinen Stein, den ich losgetreten hatte, sich in eine Lawine zu verwandeln, die alle, Lemminge und Schnee-Eulen, mit sich riss. Ich ertrank in meinem Hass, der sich endlich gegen mich wandte, ich erging in Selbstvorwürfen, die, so zerschmetternd sie auch waren, doch nichts gegen das anklagende Massaker waren, das mich erwartete.
Es ist recht schwer, die Konsequenzen einer Tat abzusehen, wenn man mit Mordgier in den Augen an der Kehle einer jungen Eule würgt. Mit den grausamen Folgen konfrontiert, ist es leicht zu sagen: Mein Gott, das hätte ich mir ja auch an zwei Pfoten abzählen können. Jetzt ließen sich nur noch die Opfer zählen. Eine Schnee-Eule fliegt, schlägt Beute, frisst, trägt die Beute zu ihren Jungen, füttert sie, fliegt, tötet, füttert, bis die jungen Mörder flügge werden, die behagliche Nestwärme verlassen, um in einer traurigen Welt den Lemmingen nachzustellen. Vielleicht war meine Rache weit über ihr eigentliches Ziel, den blutigen Mord, hinaus geschossen, vielleicht war sie vollkommener, als ich es zu hoffen gewagt, denn so wie einst die Schnee-Eule den Hass in mir gesät hatte, so pflanzte auch ich den Keim des Hasses in ihr, der sie zwang, die Bahnen ihres Weges zu verlassen. Sie brauchte nicht mehr die Jungen zu füttern, weite Strecken zu fliegen, auszuruhen. Die neu erworbene Freizeit nutzte sie, um jeden Lemming, den sie sah, zu töten. Sie fraß sie nicht, denn so viele Lemminge hätte sie kaum vertragen. Nein, sie stürzte auf sie hinab, zerfetzte, zerriss sie, ließ sie liegen, um weiter zu töten. Überall lagen sie, die verstümmelten Kadaver, Dutzende, die ich sah, Hunderte, die irgendwo vor sich hinmoderten. In ihren Augen las ich, dass sie wussten, wer ihren Mörder erschaffen hatte. Die Überlebenden versammelten sich, um mich zu vernichten.

Zu Tausenden strömten sie von den Hängen herab, so viele, dass die wenigen Toten kaum ins Gewicht zu fallen schienen und es in Wahrheit auch nicht taten. Sie waren von allen vergessen, außer von dem, der sie gemordet hatte. Wie wir hatten sich auch die Schnee-Eulen rasend vermehrt, und die Massaker setzen das Unvermeidliche lediglich etwas früher in Gang. Ich stand in mitten dieser zuckenden, pelzigen Menge, und als man forderte, dass man die Eulen-Plage ein für alle mal aus dem Weg räumen sollte, hörte ich mich laut mit der Masse meine Zustimmung schreien. Ich dachte, dass mein Hass endlich die Lemminge wachgerüttelt hätte, dass ich vielleicht doch etwas bewegt, etwas Gutes getan hatte. Ich war wieder der Held, sah mich bereits mit einem kleinen Trupp hartgesottener Lemminge in schlammigen Löchern den Schnee-Eulen nachspüren, siegreiche Vernichtungsschläge führen, während die anderen in gewaltigen Höhlenanlagen Zuflucht suchten. Ein gewaltiges Werk, sicher, aber es könnte gelingen. Zuschlagen, verschwinden. Die Eulen würden den Winter nicht ohne Nahrung überleben, ihr Nachwuchs dahingemordet. Wer weiß, vielleicht könnten wir im Jahr darauf auch den Polarfuchs erledigen.
Ich begrub diese Hoffnung sofort, denn ich war schon zu tief gesunken, als dass ich noch hoffen durfte. Ich suchte nach Lemming, den Lemming den ich liebte. Ich fand sie jubelnd vor, als man den Exodus beschloss.

Der Nebel war fort, die Sonne stand voll am Himmel und Lemming schlug heulend auf den Boden ein.
„Schwanger war sie“, schrie er. „Auf Knien flehte ich sie an, nicht zu gehen, bei mir zu bleiben. Die Masse wich von mir fort, ungläubig, dass ein Lemming sich gegen sein Schicksal zu wehren bereit war. Oder erkannten sie nur meinen Wahn? Töricht schienst Du mir, oh mein geliebter Lemming. Ich habe dich gerettet, rief ich, lass uns abhauen, sollen die anderen doch verrecken, was interessiert es uns, ich liebe Dich, komm mit mir.
Sie sah mich an, strich über mein Fell und fragte: Ach, Lemming, warum kommst du denn nicht mit uns?
Ach, tausendmal verfluchte Individualität. Nie ließest du zu, anderen zu folgen. Immer war dein Weg der Rechte. Ich konnte nicht und doch wünschte ich, ich hätte es getan. Ich ertrank in meinem Hass, verachtete sie, die Narren, die ihr Leben fortzuschleudern imstande waren. Ich hasste sie, als sie ihren kurzen Marsch antraten, ich hasste sie, weil sie mich zurück ließen, weil ich ihnen nicht zu folgen vermochte, weil ich Angst hatte, mit mir allein zu sein. Und ich hasste mich, als ich sah, wie ich den anderen nachlief.
Was für ein Anblick. Wie eine lange Schlange wand sich die Flut der Lemminge die Klippe hinauf und der Druck der Masse stieß die Vorderen in die Tiefe. Oh, ich Narr. Selbst in diesem Augenblick hätte ich noch gern geglaubt, in den Augen der Stürzenden Angst zu erblicken. Angst vor der Tiefe, Angst, dass ihre Entscheidung vielleicht doch nicht so klug gewesen sein könnte. Vielleicht hätten sie sich gewehrt, nur um von der Masse in einen Tod getrieben zu werden, den sie nicht länger wollten, den sie fürchteten. Ach, wie tragisch! Aber ebenso wenig wie Lemming mir ein letztes Mal zuwinkte, mir ihre Liebe zeigte, so wenig wankten die Lemminge in ihrem Entschluss. Kein Zweifel kam auf und ich war angewidert, als ich bemerkte, dass ich neidisch auf sie war. Ich wünschte, ich hätte Lemming sagen können, wie sehr ich sie wirklich zu lieben glaubte. Aber als ich in die Tiefe blickte, sah ich nur ihren toten Leib, blutig zerschmettert. Es dauerte nicht lange, bis die Wellen den letzten Leichnam mit sich in die Tiefe rissen. Ein Volk war im wahrsten Sinne des Wortes untergegangen.

Lemming blickte wieder in den Himmel, sah den kleinen weißen Punkt, der auf die Klippe zu hielt und rasch näher kam. Er sprach:
„In dem langen Winter wurde mir bewusst, wie sehr ich irrte. Abgesehen von mir und ein paar Versprengten war mein Volk nicht mehr. Die Schnee-Eulen fingen bald an zu hungern. Zuerst starben die Jungen, dann die Schwachen und schließlich auch die stärksten von ihnen. Nur sie überlebte. Sie, die Mordruferin, hatte keinen Nachwuchs mehr, und das Fettpolster der üppigen Zeiten erhielt sie am Leben. Sie war wie ich, wir waren falsch, hatten kein Recht zu leben und die Ironie des Lebens ist, dass unser Unrecht uns leben ließ. Oh, der Winter war auch lang für sie, und sie musste fressen. Doch wen? Es gab niemanden, nur mich. Ich bin so tief gesunken und sinke immer weiter, denn in meiner Seele ist kein Grund, nur unauslotbarer Hass. Seht, da kommt sie und ich, der Mörder ihrer Jungen bin der einzige, der sie retten kann.“
Lemming tastete sich mit dem Rücken zum Meer an den Rand der Klippe. Er blickte nicht hinab, sah nur auf die Schnee-Eule, die auf ihn herabschoss. Die Ewigkeit rief nach ihm, das Leben verlangte, wozu sein Hass ihn trieb. Er sah die Schnee-Eule auf sich zurasen, der Schnabel vor Gier und Wut aufgerissen, die Krallen ausgefahren, in der Hoffnung das Opfer, den Mörder zu packen. Lemming beugte die Knie, machte sich sprungbereit, wartete bis zum letzten Augenblick, um seine Rache vollkommen zu machen. In den Augen der Eule sah er sich selbst, sah das Meer, sah, wie sie ertrank. Er streckte die Knie durch, erhob sich, breitete die Arme aus und empfing die Krallen der Eule, die sich durch seinen Pelz bohrten. Die Schnee-Eule schrie triumphierend auf, als sie ihn über den Rand der Klippe trug und Lemming konnte noch sehen, wie die Klippe, der brodelnde Kampf, kleiner und kleiner wurde. Er lächelte. Er flog übers Meer und fühlte sich frei.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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