Florian Feindel

Der Auserwählte

„Ja“, sagte eine Stimme.
Ginch sah verdutzt auf das Steingesicht vor ihm. Hatte es sich gerade wirklich bewegt?
„Ja, Ginch. Auf deine beiden Fragen.“
Tatsächlich schien der Basaltkopf, vor dem er mit den Schamanen stand, sprechen zu können. Aber wie war das möglich, bei einem aus dem Fels gehauenen fünf Spannen hohem Gesicht?
„Ja, die alten Sagen über die heiligen Hallen sind wirklich war. Und Ja, ich kann mich bewegen und auch sprechen.“
Wie als Beweis zog der Steinkopf ein breites Grinsen auf und rollte dabei mit den Augen.
„Aber genau genommen bin ich fünf einviertel Spannen lang,“ fuhr er ernst fort, „aber was soll man von einem niederen Wesen wie dir schon erwarten!“
Ginch stand mit offenem Mund da. Er hatte schon von Zauberei und solchen Dingen gehört, aber darauf war er wirklich nicht vorbereitet gewesen. Schön und gut, sein Dorfschamane hatte gesagt, dass er die heiligen Rieten auswendig lernen sollte und dann im geheimen Tempel von seinem Gott selbst geprüft werden würde, ob er der Auserwählte sei. Nun, er hatte vermutet, dass er seinen Text aufsagen würde und dann irgendein ausschraffierter Schamane seltsame Wörter aus dem „Buch, das sonst keiner lesen kann“ spricht. Das Ganze dann noch mit Fackeln unheimlich gemacht, und fertig ist der Auserwähltenritus. Am Ende hätten sie ihm dann gesagt, er wäre nicht der Richtige. Er solle wieder gehen und der Familie des Schamanen viele Geschenke machen, um sich für seine Unwürdigkeit zu entschuldigen. Noch besser, wenn sie ihn für den Auserwählten halten würden müssten die Schamanen ihm viele Geschenke machen, damit er ihnen eine reiche Sumpfgurkenernte bescherte. Was für ein Leben das gewesen wäre. Er hatte sich schon alles bis ins kleinste Detail ausgemalt. Er auf einer großen gepolsterten Liege, mehrere Frauen um ihn, die ihn bedienten und ihm jeden Wunsch von den Lippen ablesen würden. Nur ein Fingerzeig und eine Schönheit würde sich zu seinen Lenden beugen und die Arbeit erledigen, für die er sonst noch keine Frau gefunden hatte. Bei diesem Gedanken musste er immer vor Freude grunzen und wurde ganz rot. Zumindest hatte er es sich so vorgestellt, doch jetzt stand er vor einem sprechendes Steingesicht, das auch noch seine Gedanken lesen konnte. Oder hatte Ginch das alles gerade laut ausgesprochen? Er wusste nie so genau, was er jetzt sagte und was er dachte, eine Eigenschaft, durch die er in seinem bisherigen Leben nie viele Freunde hatte.
„Für diesen Gesamtzahl an Sünden, die du dir gerade in deinem kleinen Hirnchen ausgemalt hast, müsste ich dich jetzt eigentlich zu Asche verbrennen,“ sagte das Gesicht ruhig, „aber du bist wahrscheinlich der Auserwählte, also lass ich das lieber. Nicht, dass ich das nicht könnte. Aber hätte ich Beine, würde ich dir zumindest mal kräftig in den Arsch treten. Also komm, ich häng hier nicht zu deiner Belustigung rum. Konzentrier dich gefälligst auf deine Aufgabe!“
Einer der Schamanen legte seine knöchrige Hand auf Ginchs Schulter, was ihn wieder in die Realität und seine derzeitige Lage zurückbrachte. Der Schamane nickte ihm ruhig zu und bat ihn, fort zufahren.
Ginch ratterte unsicher das auswendig Gelernte hinunter. Die Miene des Steingesichts hellte sich langsam wieder auf, und man hörte einige der Schamanen erleichtert Luft ausstoßen.
Währenddessen dachte Ginch darüber nach, was wohl aus seinen Vorgängern geworden war. Jedes neue Jahr wurde wieder jemand als Auserwählter bezeichnet und mit viel Aufsehen in den Tempel geholt. Manche wurden wieder nach Hause geschickt, sagten aber nie etwas über die Vorfälle im Tempel. Die meisten aber kamen nie wieder hinaus. Einige Schwarzseher sagten, man wurde dem Gott geopfert, andere wiederum behaupteten man müsse auf ewig den Tempelboden schrubben. Seine Mutter wiederum war überzeugt davon, dass im Tempel das Paradies war und nur die Auserwählten es betreten durften. Darin war es so schön, dass keiner jemals wieder in das schlammige kleine Dorf im tiefsten Sumpf zurückwolle. Darum war sie auch ganz entzückt und hatte ihn dazu gedrängt, den Ritus bis zum Erbrechen zu lernen. Die Schamanen aber verloren kein Wort darüber und Niemandem sonst war es gestattet, die heiligen Hallen betreten.
„...und Ihm, der uns alle geschaffen hat auf ewig und uneingeschränkt dienen!“ beendete Ginch das Glaubensbekenntnis seines Volkes.
„Ok,“ sagte das Steingesicht feierlich. „Du könntest tatsächlich der Auserwählte sein. Schreite durch das heilige Tor und erfahre die erste Prüfung.“
Das Gesicht mitsamt der Mauer, in die es eingelassen war, teilte sich in zwei Hälften und öffneten sich zu einem gewaltigen bogenförmigen Tor. Nur ein leises Schleifen war zu vernehmen, als die Flügel sich entfalteten und den Weg in eine gewaltige Heldengalerie freigab.

Mindestens zwanzig Spannen ragte das Gewölbe über Ginch hinaus und die gebogenen Balken verstrickten sich in unglaublich komplizierten Mustern, dass einem bei längerem Hinsehen die Augen wehtaten. Und vor allem das Genick vom vielen hochsehen. Die Wände waren übersäht von kunstvollen Wandmalereien über frühere Helden und ihre Siege in Schlachten und für die Gemeinschaft. Ginch erkannte sogar eines der Bilder. Es stellte eine Schlacht dar, von der ihm sein Vater zwischen den vielen Prügeln einmal erzählt hatte. Er wollte angeblich sogar dabei gewesen sein als Szelch, der Sanfte, gegen alle seine Grundsätze handelte und die Sumpfdörfer aus den Klauen der ansässigen Orks befreit hatte. Dies hielt Ginch nun wieder für maßlos übertrieben. Zwischen den Wandmalereien standen fast schon lebendig wirkende Statuen der Helden in voller Montur. Er erkannte Morchel, den Held von Sumpfloch, der in einer Nacht ein Nest mit Siebenhundertsiebenundsiebzig giftige Sumpfschlangen erschlagen hatte und Can‘Nabis, den einzigen Seefahrer in der Geschichte – sein Volk liebte das Wasser nicht gerade – der auch noch das legendäre berauschende Siebenblatt in die Dörfer brachte, wodurch sie im restlichen Land einen schon fast den Ruf eines Paradieses innehatten. So zog sich die Reihe durch, und in jeder Statue erkannte Ginch eine neue Berühmtheit.
Die Schamanen waren mittlerweile zurückgeblieben und hatten ihn seinem weiteren Schicksal überlassen. Das riesige Tor hatte sich krachend hinter ihm geschlossen, doch dass störte ihn nicht weiter. Er sah sich schon zwischen all den Helden stehen und man würde Lieder über ihn singen. Großväter würden ihren Bälgern erzählen, dass sie dabei waren, als Ginch, der Wurmfänger aus Torfheim, auserwählt worden war und das ganze Volk gerettet hatte. Wovor er sein Volk hätte retten können außer vor der derzeitigen Langeweile, darüber dachte er natürlich in diesem Moment nicht nach.
So langsam und staunend er auch durch die Heldengallerie gewandert war, kam er schließlich doch ans Ende des Ganges. Dort standen zwei seltsame Gestalten aus Stein an der Wand.
Der eine ungefähr eine Viertel Spanne größer als Ginch mit unzähligen vielgliedrigen Armen. Damit umklammerte er locker unzählige Maßbänder und -stäbe. Über einer kleinen knorrigen Nase lugte ein ganzes Bündel langstieliger Glotzaugen auf den Auserwählten hinunter. Darunter wucherte ein Monster von Mundwerk. Sämtliche anderen Glieder und Körperteile waren eher verkümmert, als würden sie so gut wie nie gebraucht werden.
Der Andere war klein und breit. Vier kräftige Füße trugen einen wuchtigen Körper, der breiter als groß war. Der vollkommen runde und flache Kopf hatte keine erkennbaren Organe, nur ein zwei Spannen breiter Strich zeichnete einen gewaltigen Mund aus. Auf ihn konnte man sich bequem setzen oder mit etwas Mühe darauf stehen.
Sobald Ginch etwas näher gekommen war, begannen die beiden, sich zu bewegen und umzusehen. Der Große entdeckte den Auserwählten – was kaum verwunderlich war, da er mindestens zwei Dutzend Augen hatte und sein Kumpan gar keine – und ließ ein breites Grinsen sehen.
„Hallo Auserwählter,“ begrüßte er Ginch mit schriller, aber irgendwie angenehmer Stimme. „Ich bin Maß und mein kleiner Kollege hier heißt Gewicht. Aber lass dich von unseren Namen nicht täuschen, wir sind ganz lustige Zeitgenossen, wenn man uns nur mal besser kennt.“
Maß zeigte mit einer seiner vielen Finger auf den kleinen Breiten hinunter.
„Du steigst jetzt auf Gewicht, wenn ich bitten darf – keine Angst, der ist das schon gewöhnt – und hältst dann schön still. Das hier ist deine erste Prüfung als vermeintlicher Held.“
Ginch nickte schüchtern und verwirrt, stieg dann aber auf den Kleinen. Zuerst einen Fuß, dann als er merkte, dass es stabil war, den Anderen. Gewicht fühlte sich kalt und hart an, wie sich Stein eben anfühlte, wenn man mit dem nackten Fuß drauf stieg. Sofort begann Maß, um ihn herumzuschwirren wie eine verrückte Wespe und ihm mit allen Händen gleichzeitig seine Körperteile detailliert in Länge, Breite und Tiefe zu messen. Nicht einmal die Furunkel in Ginchs Gesicht lies er dabei aus. Nach jedem Maßnehmen schrie er lauthals durch die Gegend, als würde irgendjemand interessiert lauschen, der schwerhörig oder taub war. Ab dem neunten Zeh war das zumindest Ginch, und Maß arbeitete sich von unten nach oben. Als er am Geschlechtsteil angekommen war, schoss die Röte nur so hoch in dem vermeintlichen Auserwählten.
„PENIS, ZWEI EINS EINS!“
Immerhin.
Er konnte sich ja noch vorstellen, dass sein Gott wissen wollte, dass er Dreieinhalb Spannen groß war, aber er konnte sich beim besten Willen nicht denken, warum das Furunkel auf seiner linken Arschbacke so wahnsinnig interessant zu sein schien.
Als Maß Ginch vollkommen vermessen hatte, denn so musste man es sagen, stand dieser mit hochrotem Gesicht und hilfloser Miene da. Das Blut pochte nur so durch seine Schläfen und seine tauben Ohren. Das Kopfweh tat sein übriges, um Ginch zu entmutigen. Unter ihm regte sich nun zur weiteren Verunsicherung auch noch Gewicht und öffnete seinen breiten Mund.
„GENAU SIEBENUNDDREIßIGKOMMAZWEIDREIFÜNF PFUND!“ posaunte er hinaus, dass sein ganzer Steinkörper bebte.
„Ausgezeichnet!“ sagte Maß, wieder mit gesenkter Stimme, zu Ginch. „Damit hast du die erste der drei großen Prüfungen bestanden!“
Das beruhigte Ginch aber nicht im Geringsten. Er fragte sich ernsthaft, welch entwürdigenden Prüfungen wohl noch auf ihn warten würden, hinter dem nächsten Tor. Das Erste, dass er sich wünschen würde, falls er als Auserwählter diese Hallen verlies, war, ein beruhigendes Siebenblatt zu rauchen.

* * *

Er schluckte einmal schwer und trat durch das nächste Tor, das sich zwischen den nun wieder regungslosen Maß und Gewicht geöffnet hatte. Genauso lautlos wie das Erste. Und es schloss sich auch wieder genauso lautlos hinter Ginch.

Er sah sich um. Er befand sich in einem großen eckigen Raum, in dessen Mitte ein riesiger sprudelndes Bad eingelassen war. Es gab keine Möglichkeit, auf die andere Seite zu kommen, als durch das ekelhafte Nass zu steigen. Ginch hatte wie der Rest seines Volkes eine fast schon panische Angst vor allem, das mehr als Händewaschen war. Außer natürlich dem täglichen Schlammbad, dass er mit seinen Freunden zusammen zu nehmen pflegte. Es war einfach ein gutes Gefühl, den Schlamm in alle Poren kriechen zu lassen und ihm dann beim trocknen zuzusehen. Wenn er dann abbröckelte, nahm Ginchs Haut einen fast rosigen Grünton an, den er so gern mochte.
Aber Das! Wasser. Was verlangte sein Gott da nur von ihm. Wasser zu trinken, war eine Sache, im Wasser zu Ertrinken eine andere. Das würde er auf keinen Fall tun. Ginch drehte sich um und wollte wieder in die Gallerie gehen und die ganze Auserwähltensache vergessen, doch er stand vor einer vollkommen glatten Wand. Er konnte keine Spalte oder Ritze entdecken und auch nichts Hebelähnliches war zu sehen. Also wand er sich wieder um und sah auf das ekelhafte Nass. Das Becken führte von Wand zu Wand und maß bestimmt fünfzehn Spannen bis zum anderen Ende. Unmöglich, drüber zu springen. Aber wenn er sich nicht überwand, durchzugehen, würde er hier elendig verhungern. Schließlich entschied er sich doch, hindurchzugehen und sich hinterher kräftig bei seinem Gott zu beschweren über die Frechheit, einfach ein unüberwindliches Becken sprudelnden Wassers vor ihn zu stellen. Schließlich war er ja der Auserwählte.
Er ging einen Schritt darauf zu. Auf seiner Stirn bildeten sich erste Schweißperlen. Und noch einen Schritt. Und noch einen. Bäche von Schweiß rannten ihm mittlerweile hinunter, dass er selbst ein ganzes Fass nur mit seinen Körperausscheidungen hätte füllen können. Dann stand er vor dem Becken. Das Wasser war glasklar und er konnte den Grund sehen. Es führten fünf niedrige Stufen hinab auf einen Weißgefliesten Boden. Zwischen den Fließen stiegen immer wieder Luftbläschen hinauf, was dieses Sprudeln erklärte. Auf der anderen Seite führten wieder Stufen aus dem Becken hinaus. Irgendwo in der Mitte dachte er, eine hellgraue Gestalt gesehen zu haben, tat dass aber dann als Unsinn ab, um sich selbst zu beruhigen.
So tief schien das Becken gar nicht. Vielleicht ging es ihm ja nur bis zu den Knieen oder höchstens bis zur Hüfte. Er versuchte, neuen Mut zu fassen und erinnerte sich dabei an ein frohes Lied aus seiner Kindheit, das Takina der Gobbo, Schutzheiliger seines Dorfes, angeblich einmal in seiner Verzweiflung gesungen haben soll. Sie fragten sich noch heute, wo er wohl geblieben sei, aber seit er am Klau-dem-Mensch-sein-Kind-Tag – der gleich nach dem Spuck-dem-Mensch-in-die-Suppe-Tag kam – verschwand, hatte ihn niemand mehr gesehen.

„Es steht ein armer Gobbo hier, ihr sitzt da und trinkt ein Bier, mich dürstet es nach kühlem Nass, ich will auch ein Bier vom Fass, ich will auch ein Bier vom Fass!Gobbos trinken nie gern alleine, Gobbos trinken niemals zu Haus. Wir trinken gern alte Weine! Wo wir sind gibt’s immer Applaus! Es steht ein armer Gobbo hier, wenn ihr wollt, sing ich bis vier. Drum trinkt und trink und trinkt noch mehr, denn das freut den Wirt gar sehr, denn das freut den Wirt gar sehr!

Gobbos trinken nie gern alleine,
Gobbos trinken niemals zu....“

Kein sehr passendes Lied, aber es beruhigte ihn im Moment ungemein. Schließlich schluckte er schwer und wagte den Schritt hinein. Er tauchte ein, zuerst mit dem großen Zeh, dann mit dem ganzen Fuß und schließlich mit der Wade. Aber da war nicht wie erwartet eine Stufe, sondern nur weiteres kaltes Wasser. Schnell wollte er sein Bein wieder herausziehen, aber unglücklicher Weise hatte er sein Gewicht schon verlagert und ruderte hilflos mit den Armen. Mit einem letzten lang gezogenen „....gibt’s immer Applaaaaaaiiiiiiiiiiiiiiiii...!“ stürzte er platschend und prustend in das Becken. Hilflos ruderte er mit den Armen und versuchte, sich an die Oberfläche zu strampeln, aber der graue Schatten war wieder da und hielt ihn Unterwasser fest. Er merkte, wie sich der wunderbare Schmutz, der ihn in mindestens sechs Lagen überdeckte, langsam ablöste und sich mit dem sprudelnden Wasser vermischte. Doch soviel er auch zappelte und strampelte, er kam nicht mehr an die Oberfläche zurück. Langsam aber sicher hatte er alle Luft aus seinen Lungen gepumpt und seine Brust brannte wie Feuer. Schließlich verlor er das Bewusstsein und driftete in ungeahnte Tiefen ab.

* * *

Ginch erwachte schreiend. Welch ein Albtraum. Er hatte davon geträumt, singend in ein großes sprudelndes Wasserbecken gestiegen und dann darin ertrunken zu sein. Dann hatte ihn eine graue Gestalt auf der anderen Seite wieder hinauskatapultiert. Er stand von dem harten Steinboden, auf dem er gelegen hatte auf und sah sich um. Das war jedenfalls nicht sein Zuhause. Wo war er nur. Dann erkannte er das Wasserbecken und die Kammer wieder. Er schrie auf und stolperte rückwärts gegen die nächste Wand. Dann erkannte er, dass das Becken leer war. Ein Glück. In der Mitte war ein Ausguss und eine breite Dreckspur führte darauf zu. War das alles mit den Auserwähltenprüfungen doch kein Traum gewesen?
„Nein!“
War er wirklich im Wasser gewesen?
„Ja!“
Hatte ihn dort dann wirklich ein gräuliches Wesen in die Tiefe gezogen?
„Korrekt!“
Moment mal. Wer sprach da überhaupt?
„Ich.“ sagte eine Stimme hinter Ginch. „Und sobald du deine rechte Hand aus meinem Nasenloch nimmst, bin ich bereit, mit dir zu reden.“
Ginch quietschte wie ein junger Furchenfurzer (verzeiht) zur Paarungszeit und taumelte mit weit aufgerissenen Augen von der Wand weg. Dort sah er ein weiteres Steingesicht, das ihm ermutigend zulächelte.
„Es tut mir wirklich leid, dass du das alles erdulden musst, aber so ist das nun mal als Auserwählter. Mach dir also nicht in die Hosen. Du wurdest jetzt auf deine Geduld geprüft und auf deinen Mut, ins Wasser zu springen. Außerdem bist du jetzt wenigstens sauber.“
Ginch sah an sich hinab und bemerkte es auch. Er war wirklich überall gewaschen worden. Sogar den Dreck unter den Fingernägeln hatte man ihm herausgepult, was ein äußerst gewöhnungsbedürftiges und unangenehmes Gefühl war. Ginch fühlte sich richtig nackt. Keine Dreckkruste mehr, keine Schuppen und auch keine Flöhe mehr, die sich bei ihm hätten heimisch fühlen können. Das war einfach nicht natürlich. Die Schamanen würden sich einiges anhören dürfen, wenn er erst wieder draußen war. Doch die ganzen Proteste ließen das Steingesicht vollkommen kalt. Statt dessen redete es mit ungebrochenem Enthusiasmus weiter.
„Auf zur dritten und letzten Prüfung, Auserwählter. Leider darf ich dir nicht verraten, um was es sich dabei handelt, aber es wird dir gefallen.“
Und wieder öffnete sich ein Tor vor Ginch. Dahinter erstreckte sich ein großer reich geschmückter Raum. Direkt in der Mitte stand eine große gepolsterte Liege. Rundherum standen Tische und darauf unzählige Schalen mit erlesenen Speisen: Überfüllte Schüsseln mit exotischem Obst und köstliches gedünstetes Gemüse. Dampfende Schüsseln mit Pilzsuppe und leckere Rollen Wurzelbraten. Frischgebackenes Brot, neben dem kiloweise Butter stand und in einer Ecke lehnten triefende Bienenwaben voll mit köstlichstem Honig. Es gab ganze Tische nur voll Bandwurmfrikassee, seinem Leibgericht und Teller voller Rindengulasch. In mehreren Töpfen dampften Fischsuppen, Hurlgeintopf und Borkenkäferbriketts auf Kartoffelbett. Er sah ein Rindschwein (eine Kreuzung aus Kühen und Schweinen, die ein köstlich zartes fettarmes Fleisch besitzt, das meist den Häuptlingen vorbehalten ist) sich langsam am Spieß drehen und mehrere kleine Spieße mit in Pfannenkuchen eingewickelten Maulwürfen. Es gab mit Morcheln umwickelte Pferdeäpfel und hier und da sah er ein Paar gedünsteter Zwillingschwalben. Die Meisten der Speisen, die auf den Tischen bereitlagen kannte er nicht einmal, doch sie dufteten mindestens genau so gut wie alles, dass er kannte zusammen. Da waren große grüne Blätter die auf der Zunge zergingen und einen angenehmen Zimtgeschmack hatten und kleine runde Kugeln aus Schokolade, die mit Trüffeln und anderen Leckereien gefüllt waren. Auf jedem Tisch standen dutzende duftende Schalen mit Gewürzen wie Salz, Pfeffer, Majoran, Zimt, Curry, Wurzelgras, Osthang und Otterbrühe um die erlesenen Speisen je nach Geschmack zu verfeinern.
Sofort stürzte er sich auf die Tische, die alle nur für ihn gedeckt zu sein schienen, und stopfte in sich hinein, was nur ging. Dabei merkte er erst, wie hungrig er eigentlich war. Er hatte am Vortag seiner Prüfung keinen Bissen hinuntergekriegt, was seine Mutter auch für ihn gekocht hatte.
Doch selbst während des leckersten Mahls muss man mal einen Schluck zum runterspülen trinken und so hielt Ginch auch nach Getränken Ausschau. Da waren Krüge, gefüllt mit dampfendem Met, Grog und schäumendem Bier. Kostbare Gläser mit starkem elfischen Wein und an den Wänden standen ganze Fässer davon um nachzufüllen. Es gab frischgepresste Frucht- und Gemüsesäfte, kräftigen Orkschnaps und leichten Obstlikör. Ganze Kannen voll Milch standen neben süßlich frischem Wasser und noch unzählige andere Krüge, Pokale, Kannen, Gläser und Flaschen voll mit erlesenen Getränken. Er trank einen Krug Met ohne abzusetzen hinunter und machte sich wieder über das köstliche Essen her.
Langsam und unbemerkt schloss sich das Tor wieder und ließ ihn allein mit all den Köstlichkeiten.

* * *


Ginch sah auf und rülpste ausgiebig. So gut hatte er nicht mehr gegessen seit....so gut hatte er eigentlich noch nie in seinem Leben gegessen. Er hatte sich mittlerweile auf die Liege in der Mitte gelegt, da er eindeutig nicht mehr stehen konnte, soviel hatte er gefuttert. Sein Bauch wölbte sich fast eine Spanne über Ginch hinaus. Er nippte an seinem Glas Sumpfampfersaft und sah in die Runde. Der Raum war ein Schlachtfeld. Von allem hatte er probiert und vieles daraufhin ganz gegessen. Die Schüsseln, Teller und Schalen hatte er achtlos auf den Boden geworfen und liegengelassen. Das war wirklich ein Leben, dass eines Auserwählten würdig war. Er dachte gerade noch darüber nach, ob er als nächstes marinierte Heringsköpfe mit Olifantenrüssel oder das Ottergeräucherte mit Adleraugen probieren sollte, als eine laute Stimme ertönte.
„Ginch Wurmfänger, Sohn von Gulg Warzenzähler und Innec Pfannenfurie, du hast nun alle drei Prüfungen bestanden. Du bist einer der vielen Auserwählten deines großen Gottes.“
Das die Miene, die sich jetzt auf Ginchs Gesicht breit machte, Selbstzufriedenheit ausdrückte, wäre untertrieben gewesen. Er grinste breit und drückte seine Freude mit einem dröhnenden Rülpser und einem Furz, wie ihn nur wenige ausstoßen können, aus.
„Du wurdest ausgewählt und vorbereitet...“ sagte die Stimme nun feierlich.
Ginchs Brust schwoll vor Stolz an und er grinste noch breiter.
„...den großen Gott als alljährliche Hauptmahlzeit zu dienen!“
Der Auserwählte riss ungläubig die Augen auf. Sein Grinsen verschwand so schnell, wie es beim betreten der Kammer gekommen war. Und plötzlich realisierte er das volle Ausmaß seines Besuchs. Er sollte sozusagen das Mittagsessen sein und war dafür gemessen, gewogen, gewaschen und gemästet worden. Sofort wollte er aufspringen und einen Ausweg aus dieser Situation suchen, doch er schaffte es trotz aller körperlicher Anstrengung nicht, aufzustehen und den Raum, geschweige denn die Liege zu verlassen. Er keuchte vor Verausgabung und ließ sich hilflos wieder in die bequeme Liege fallen. Dicke Schweißperlen rannen ihm die Stirn hinunter.
„Aber, aber. Der große Gott bittet zu Tisch und er wartet nur ungern auf seine Mahlzeiten.“
Der Raum um Ginch verschwamm und ihm wurde schwindelig. Die Welt um ihn herum begann sich zu drehen. Immer schneller. Schließlich wurde das Drehen wieder langsamer und er war nicht mehr in dem Tempel.
Jetzt befand er sich in einem überdimensionalen Festsaal auf einem lang gezogenen, reich gedeckten Tisch. Am Kopfende saß eine große vermummte Gestalt und aß mit seltsamen Esswerkzeugen eine Art Knödel. Schließlich beugte sich die Gestalt zu ihm hinüber und setzte ein Ding mit vier langen Zinken an seinen Bauch und stieß es hinein. Ginch brüllte vor Schmerzen. Unbeirrt nahm die Gestalt nun ein scharfes Messer und schnitt ihm damit den Kopf ab. Das letzte, das der Auserwählte wahrnahm, war das durchdringende Schmatzen seines Gottes.

* * *

Gottlieb tätschelte seinen Bauch und gähnte herzhaft. Es hatte schon was, sich von Gläubigen zu ernähren. So einen schmackhaften Goblin hatte er seit dem letzten Krieg vor gut und gerne achtzig Jahren nicht mehr gegessen. Mit einem Fingerzeig war der Tisch abgeräumt und er lag auf einer gemütlichen eigens für diesen Zweck geschaffene Wolke. Etwas Abwechslung wäre aber nicht schlecht, dachte er sich und blätterte den Völkerkatalog durch. Eine Seite gefiel ihm besonders.
„Erde,“ hieß es dort, „Welt mit circa vier Milliarden intelligenten Einwohnern, alles Menschen. Der Hochtechnisierte Teil dieser Welt glaubt an einen gewissen dreifaltigen Gott, der sich in Gott selbst, Jesus Christus und den Heiligen Geist aufteilt. Bis vor Zweitausend Jahren befand sich dieser Gott auch dort, aber er verlies diese Welt, als er seinen Vaterschaftsurlaub beendet hatte und begab sich wieder in Psychiatrische Behandlung wegen seiner gespaltenen Persönlichkeit. Seitdem ist die Erde ohne abgestammten Gott und ein Paradies für jeden Feinschmecker. Die Menschen selbst sind sehr schmackhaft und nahrhaft. Hierzu können sie unser Kochbuch für Menschen auf Seite 225 telefonisch bestellen. Viel Vergnügen beim Ausprobieren.“
Gottlieb griff sofort nach dem Telefon. Es war an der Zeit, mal wieder Urlaub zu machen.


Ende


Der Auserwählte sollte unbedingt bis zum Schluss gelesen werden , denn da offenbart sich das Schicksal des Goblins Ginch. Ist er nun der Auserwählte oder ist er es nicht?

Viel Spaß und Vergnügen beim Lesen.
MFG
Florian Feindel
Florian Feindel, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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