Florian Feindel

Vampirtraum

Still lag ich da in meinem Zuhause mit den modrigen
Schimmelbewachsenen Wänden und wusste nicht ob ich träumte oder wach
war. Doch es muss wohl ein Traum gewesen sein, den n es war meine letzte
Jagd, die schon Tage, Wochen oder sogar Monate zurücklag, denn ich hatte
jedes Gefühl von Zeit verloren.

Es ist kalt.
Schneeflocken fallen in sanften Bewegungen auf gefrorene Erde
und überziehen sie mit einer weißen Decke. Eine leichte Brise lässt
die Flocken wirbeln und tanzen und die kahlen Zweige der Eichen
und Buchen in der Nähe erzittern als würden sie frösteln.
Ich frage mich, wie alt die Bäume wohl sein mögen. Älter als ich?
Wie viele Jahrhunderte sie schon gesehen haben, wie viel Leid ihr
altes Holz schon ertragen musste. Wie oft sie schon die
Totenglocken drüben in der alten St. Georgs Church dröhnen und die
Todesschreie meiner Opfer durch die ruhige Nacht haben hallen
hören. Aber vielleicht ist das alles ja bedeutungslos für sie und jede
Nacht ist nicht mehr als ein Augenzwinkern oder ein Atemzug.
Atmen....oh, wie sehne ich mich danach. Ich weis nicht mehr wann
sich meine Lunge das letzte mal mit Luft gefüllt hat. Sie ist so süß
und frisch und umgibt mich überall, und dennoch kann ich sie nicht
spüren. Ich kann meine Opfer und all ihre Gerüche wahrnehmen,
aber ich atme nicht wirklich. Und ich weis auch nicht, wann ich das
letzte Mal gelacht habe. Ich meine richtiges ehrliches Lachen über
Dinge, die man witzig finden kann. Die Gaukeleien eines Narren
oder die Verse eines Barden. Nicht dieses monströse Lachen, das ich
Nacht für Nacht über den Gräbern lache, wenn ich mich meiner
Beute nähere und ihren Lebenssaft an mich nehme. Und das nur um
noch eine weitere Nacht herumzuspuken.
Auf einem der Bäume sehe ich eine Eule sitzen. Mit ihren großen
Augen sucht sie Beute in der finsteren Nacht. Ich verschmähe sie.
Ich mag Tiere nicht und ich mag ihren Geschmack auch nicht. Ich
weis das sie mir überlegen sind, weil sie töten um zu essen und sich
fortpflanzen, und so den Kreislauf des Lebens immer wieder zu
vollziehen. Ich dagegen bin allein und töte nur um mich an den
letzten Funken Leben zu klammern, der noch von mir
übrig geblieben ist.
Und jede Nacht beginnt meine Jagd aufs neue und ich hetze an den
Gräbern verstorbener Menschen vorbei und auf die Lichter zu, die
sich in einiger Entfernung in den Häusern räkeln. Meist steht der
Mond am Himmel, am liebsten jage ich bei Vollmond. Er erinnert
mich an die Sonne mit ihren wärmenden Strahlen und ihrem
wunderschönen Glanz und der Pracht. Schon lange hab ich sie nicht
mehr gesehen und erinnere mich nur vage daran. Aber ich weis dass
ich nicht schwach werden darf um tagsüber hinauszugehen und sie
mir anzusehen. Denn sie ist mein Feind.
Vor ewigen Zeiten waren wir zu zweit und jagten gemeinsam über
die Felder und an den Hütten der Menschen vorüber. Es war besser
als jetzt. Wir konnten uns über Vieles unterhalten, auch wenn uns
das Lachen fehlte. So sehr wir uns auch anstrengten und es
versuchten, wir bekamen immer nur ein monströses böses Lachen
zustande. Niemals ein Ehrliches oder Fröhliches.
Dann fanden wir bei einer unsrer Jagten ein Bild – Keines von einem
großen Künstler, aber dennoch ein gelungenes Bild das unsere
Herzen traf – auf dem die Sonne in all ihrer Herrlichkeit abgebildet
war, und wir behielten es bei uns. Als Erinnerung. Es war unser
größter Schatz. Denn bei seinem Anblick liefen uns salzige Tränen
die Wangen hinunter und befeuchteten unsere zitternden kalten
Hände, denn dieser Anblick, diese Erinnerung, die das Bild in uns
auflodern ließ, entfachte in uns eine Sehnsucht, die Sonne mit
unseren eigenen Augen zu betrachten und uns von ihren Strahlen
wärmen zu lassen, die jegliche Vernunft in meinem Gefährten
beiseite fegte.
Am nächsten Tage ging er nach draußen und kam nicht wieder. Ich
hörte die verrostete Eisentür, die knirschend aufschwang und seine
schweren, zögernden Schritte gepaart mit einem Keuchen als er in
die Sonne trat. Zuerst schrie er vor Entzücken und Freude, aber kurz
darauf veränderte sich der Klang seiner Stimme und sie war voll von
Schmerz, Leid und unendlicher Qual. Aber als er dann verging in
den heilenden Strahlen der Sonne war es fast wie ein Seufzen im
Wind, das ihn zur Ruhe bettete. Am nächsten Abend lag am Eingang
unserer Zuflucht nur noch ein Häufchen Asche, das sich langsam im
Wind verstreute. Bis heute fand ich nicht den Mut, ihm zu folgen
und mein eigenes Leiden zu beenden. In der nächsten Nacht riss ich
das Bild entzwei und verscharrte es in der Friedhofserde, um nicht
auch von meinem eigenen Rest an menschlichen Gefühlen
übermannt zu werden. Denn mein Überlebenstrieb war stärker als
die Wärme der Sonne.
Irgendwo räkelt sich ein Hahn auf seinem Heuhaufen. Das sagt mir
der Wind, der mir den Geruch des Tieres herüber trägt wenn er seine
Federn aufplustert und die Müdigkeit abschüttelt, um den Morgen zu
begrüßen.
Langsam richte ich mich auf. Muskeln spannen sich. Schneeflocken
fallen von mir ab und rieseln auf den Boden hinunter, nur um dann
auf eine tote Hand zu fallen, die da im Schnee liegt. Sie führt zu
einer Reichverzierten Weste aus Wildleder, Leinen und anderen
teuren Stoffen, die sich über einen dicken Bauch wölbt. Darauf liegt
ein kleines Kreuz aus Messing. Er hält es fest umklammert. Die
Kniehose weist einen nassen Fleck im Schritt auf, der erbärmlich
nach Urin stinkt. Er hatte große Angst. Irgendwie befriedigt mich
das immer wieder. Die weiße Perücke aus Pferdehaar ist verrutscht
und darunter kann man das Gesicht eines fetten geschminkten
Mannes erkennen, der seinen Mund weit aufgerissen hat und entsetzt
in den Himmel starrt. Als hätte er im Tod seinen Glauben wieder
gefunden. Seine Kehle ist aufgerissen und geronnenes Blut klebt
daran. Hier liegt mein letztes Opfer, und sein Lebenssaft war
wunderbar. Süßlich und zugleich kraftvoll herzhaft. Mir klebt er
immer noch an den Lippen und Händen, und ich lecke mir die
verwesten Finger sauber.
Ich sehe hinüber zu den Holzhütten. Die ersten Lichter erlöschen
schon. Irgendwo schlägt eine Tür auf und wieder zu, wahrscheinlich
ein Trunkenbold, der sich auf den Heimweg macht. Er kann froh
sein dass ich meinen Hunger schon gestillt habe. Die Dämmerung
bricht an und eigentlich sollte ich schon lang in meiner Gruft sein
und mich für die nächste Jagd ausruhen. Aber irgendetwas hält mich
zurück. Vielleicht ist es das Blut des Fetten, das mich berauscht. Es
schneit immer noch und wahrscheinlich wird heute keine Sonne
scheinen, aber dennoch sollte ich gehen bevor mich der Pöbel
entdeckt und ich selbst zur Beute werde. Aber immer noch starre ich
die Leiche an und bin nicht fähig, einen Schritt zu tun. Die Jagd war
nicht gut.
Ich roch ihn schon von weitem und sah wie er das Wirtshaus verließ.
‚Wir wünschen euch eine gute Nacht, Pater.‘ kamen lachende
Stimmen aus dem Inneren der Schankstube.
Der Reichgekleidete machte eine wegwerfende Bewegung und setzte
seinen fetten Körper torkelnd in Bewegung. Ich roch sein billiges
Parfüm und die Mischung aus Schminke, Alkohol und Weihrauch,
die ihn wie eine Wolke Fliegen umgab. Und darunter den leichten
Duft von unschuldigen Knaben.
Seine bleichen, mit Edelsteinbesetzten Ringen geschmückte Hände
fummelten ungeschickt an der weißen Perücke herum, die schief auf
seinem wulstigen Kopf saß. Er murmelte ein paar undeutliche Sätze
und schleppte sich durch die schneebedeckten schlammigen Straßen
auf die Weiß gestrichene Kirche in der Dorfmitte zu. Weiß wie die
Unschuld. Pah. Niemand in diesem Dorf war unschuldig. Jeder hatte
sein eigenes kleines Geheimnis. Selbst den meisten Kindern ist die
Unschuld schon genommen worden. Der Geruch des Priesters verriet
es mir. Und doch besuchten diese Menschen täglich diese Kirche,
um scheinheilig zu beten und zu hoffen, dass niemand hinter ihr
eigenes Geheimnis kommt. Wenn ich ehrlich bin, tut mir keines
meiner Opfer leid. Aber keiner von ihnen hat den Tod, den ich ihnen
bringe, verdient. Am liebsten würde ich sie Leiden lassen, aber mein
Durst ist so groß. So unerschöpflich groß.
Er torkelte vorbei an schäbigen Holzhütten mit ihren lehmbedeckten
Wänden und morschen Dächern. Vorbei an einer Glasscheibe, die
die verwischte Aufschrift ‚BESTATTUNGEN G. MURDOCK‘
trug. Eine leichte Brise trug mir den nur allzu vertrauten Geruch des
Todes herüber. Dieser süßliche Moschusgeruch von verfaulendem
Fleisch. Ich konnte die blassen Holzkisten durch die verwaschenen
Scheiben sehen und die drei totenbleichen Männer, die ordentlich
geschminkt und gekämmt, die hohen Krägen über die zerrissenen
Kehlen geschlagen darin lagen. Ich wünschte ich wäre an ihrer Stelle
und könnte mich dem Tod hingeben. Aber mir bleibt nichts erspart,
genauso wenig wie dem Pater, dem ich langsam und in den Schatten
versteckt die Straße hinunter folge.
Irgendwo bellte ein Hund. Uninteressant. Zu weit entfernt als dass er mich spüren könnte.
Der Fette war stehen geblieben und sah sich nach einer ruhigen
Hauswand um. Wahrscheinlich, um seine Notdurft zu verrichten. Ich
nutzte die Gelegenheit um ihn ein bisschen an seine eigene
Sterblichkeit zu erinnern und dass wir alle irgendwann die Opfer des
Todes sind. Alle außer mir natürlich.
Es war schon immer eine Art Genugtuung für mich, meine Opfer mit
vor Entsetzen geweiteten Augen rennen zu sehen.
Natürlich schrie der Fette erstaunt auf, als ich aus dem Schatten der
Gasse neben ihm trat. Das taten sie alle. Er wand sich mit der
Schnelligkeit, die einem Menschen die Todesangst verleiht, um und
rannte schnurstracks auf seine Kirche zu, wo er dachte, er könne
Schutz vor mir finden. Er hatte genauso wenig Ahnung wie alle
anderen. Sein Geschäft hatte sich in der Zwischenzeit von alleine
erledigt, während er rannte und alle Muskeln außer Einem
anspannte. Seine Flucht war wie bei allen meinen Opfern sinnlos,
aber ich mag es, wenn sie wie abgestochene Schweine rennen und
ich ihr Keuchen und ihren Angstschweiß spüren kann. Also ließ ich
ihn laufen. Doch ich ließ nicht allzu viel Zeit verstreichen, denn mein
Durst war groß und die Beute fett. Im wahrsten Sinne.
Direkt vor den Treppen des ‚Gotteshauses‘ schlug ich ihm meine
Reißzähne in den Hals, und der Schrei des Entsetzens, der in seiner
Kehle steckte wurde zu einem heiseren Quieken, auf das gurgelnde
Laute folgten. Im Flug riss ich ihn herum, damit er mit dem Gesicht
zum bedeckten Himmel seinem Schöpfer gegenübertreten konnte.
Wir schlitterten fast bis zur untersten Stufe der Kirchentreppe durch
den zolltiefen Schnee, als uns seine Fettmasse herbremste. Fast wie
eine Mastsau vor der Schlachtung, die sich ein letztes mal im
Schlamm suhlt.
Dann saugte und trank ich von seinem Blut, wie bei keinem meiner
Opfer zuvor, denn sein Lebenssaft war wunderbar. Wie eine Droge,
und nachdem ich einmal davon gekostet hatte, musste ich mehr
davon haben.
Danach saß ich eine lange Zeit einfach nur neben dem Priester und
fand nicht den Mut, aufzustehen. Nicht mal mein schreckliches
Geheule, das ich normalerweise nach solch einem Festmahl ausstieß,
ließ ich verlauten. Ein vages Gefühl, eine Ahnung von Erinnerung an
ein Leben vor meinem Dasein als lebender Toter zuckte für kurze
Zeit durch meine Gedanken voll Blut, Pein und Hass. Nur ein
Hauch, dann war es wieder fort. Ich saß dort und versuchte, das
Gefühl wieder einzufangen, doch es wollte mir nicht gelingen.
Nur die vage Erinnerung an die Erinnerung bleibt mir. Ich weis nur
noch, dass es eine Schöne war, Eine aus meiner Kindheit. Jetzt stehe
ich da und blicke in den Himmel. Wie schön er ist. Wie schön er
doch ohne die dicke Wolkendecke wäre.
Nein. Ich reiße mich zusammen und setze meinen Körper nun
endlich in Bewegung, der niemals müde zu werden scheint. Aber
mein Geist ist müde, so unendlich müde. In langsamen Schritten
gehe ich Richtung Friedhof mit seiner Familiengruft am Dorfrand,
die ich seit einiger Zeit als mein Heim beanspruche.
Das Klappern von Türen, knirschende Schritte im Schnee und dann,
kurz bevor ich das Tor meines Zuhauses öffne, Schreie des
Entsetzens, klagende Rufe Richtung Himmel und Würgen gepaart
mit dem Geruch von Erbrochenem.
Doch kein dämonisches Lächeln zeichnet sich wie sonst immer auf
meinem Gesicht ab, nur eine seltsame Müdigkeit.
Ich öffnete meine Augen und sah die dunkle Steindecke über meinem Kopf. Ich wusste, das
es Morgen war, denn ich roch den Tau und hörte das Gezwitscher der Vögel.
Zu meinen Seiten die kahlen Wände aus dicken Basaltblöcken. Unverwüstlich.
Wie ich.
Doch der Wind der Zeit kann so einen Stein langsam schleifen, unförmig machen und von
Innen aushöhlen.
Wie er es mit mir getan hat.
Aber dieses Blut brachte die abgetragenen Erinnerungen wieder zum
Vorschein, die mir wie ein Blitz durchs Gedächtnis schossen. Aber
es war nicht nur ein einzelner Blitz, nein es war ein ganzes Gewitter
voll Erinnerungen.
Ich sah meine Kindheit mit ihrer Unbeschwertheit und den Freuden.
Ich spürte die feuchten Küsse voller Liebe in den Armen meiner
Mutter und die gelegentlichen Schläge meines wütenden Vaters,
wenn ich und meine Brüder nicht gehorsam waren.
Ich sah meine Jugend, mit Ihrem Freud und Leid. Die harte Arbeit
auf dem Friedhof, die schlechten und die guten Zeiten in unserem
Geschäft, mein erstes Berauschnis mit Sechzehn im Kreise meiner
Freunde. Den Tod meines Vaters, die Übernahme seines Ladens.
Ich kostete noch einmal den süßlichen Geschmack des Weins auf
meinen Lippen und den Herben der Unschuld auf denen des
Mädchens in meiner ersten Liebesnacht.
Und dann sah ich, wie sich die Sonne über uns im Osten erhob...die
Sonne! In ihrer vollen Pracht und Schönheit und mich durchlief ein
Schauer auf meinem steinigen Lager. Und Sehnsucht.
Ich spürte das feste stolze Schulterklopfen, als ich Sie mir später
zum Weibe nahm und das zögerliche, zitternde Händeschütteln, als
die Pest sie dahinraffte. Und mein ungeborenes Kind mit sich zog.
Ich spürte die feuchten salzigen Tränen meine Wangen
hinunterkullern und trocknen an dem Feuer, mit dem ich mich von
meinem Hab und Gut verabschiedete.
Ich roch die Meerluft, als ich auf die bewaldeten Hügel und die
Klippen dahinter zulief um mich von meinem Leid zu erlösen und
die plötzliche Angst, die sich in meinem Nacken festbiss und mir
mein heutiges Schicksal bescherte.
Dann eine lange Zeit nur wie in einem Wachtraum, in dem ich auf
dem Steinboden irgendeines Kellers lag. Jemand, der mir von
seinem Blut zu trinken gibt und dieses tierhafte Grinsen mit den
fürchterlichen Reißzähnen und den glühenden Augen. Dann mein
Erwachen in diesem fürchterlichen Alptraum.
Mein erstes Opfer. Ein Seemann, der zuviel gefeiert hatte und sich
einen Schlafplatz in einer Gosse suchte.
Von da an sah ich nur noch die ewige Sinnlosigkeit an Opfern, Blutbädern und Dahinsiechen.
Ich sah mich herumziehen durch viele Landstriche und Städte. Doch schließlich sah ich mich
in mein Heimatdorf zurückkehren. Nach vielen Jahrzehnten.
Ich sah sie alle. Alle meine Opfer für einen kurzen Moment, aber
doch ein wenig länger, als das ich sie nicht genau hätte sehen
können. Und es erschreckte mich bis ins tiefste Innerste. Mein Gott,
es waren so viele. Ein Meer von entsetzten und schmerzverzerrten
Gesichtern. Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, so verschieden
und doch alle mit dem gleichen Gesichtsausdruck in den starrenden
Augen. Pure nackte Todesangst und die Frage: Warum ich?
Und ich schrie. Ich schrie mir einfach alles von der Seele. Ich schrie
ohne etwas zu hören, doch die Wände schienen von meinem Schrei
zu beben. Kleine Kiesel und Erde lösten sich aus Wänden und Decke
und fielen hinunter. Ich weis nicht wie lang ich geschrieen habe, für
mich eine Ewigkeit, aber schließlich schloss sich mein Mund und
der Schrei verklang zwischen den alten Steinblöcken, die die Wände
meiner Gruft schmückten.
Dann war alles still. Kein Laut war mehr zu vernehmen. Kein Vogel
draußen ließ sein fröhliches Morgengezwitschern vernehmen, selbst
die Würmer in der Erde schienen mit ihrer Arbeit inne zu halten.
Alles wartete, was als nächstes passieren würde. Welcher Schrecken
aus den Tiefen aufsteigen und alles Leben verschlingen würde.
All die Erinnerungen waren aus meinem Gedächtnis verbannt.
Ausgelöscht. Zu Staub verbrannt. Verpufft. Nur Eine schwebte in
ihrer unerreichbaren Schönheit über der kargen Leere meiner Seele.
Die Sonne. Ich wollte sie sehen, umarmen und berühren. Ich wollte
meine kalte Haut von ihren gleißenden Strahlen wärmen lassen und
mich in ihrem Antlitz baden. Ihre Wärme mit Leib und Seele in mir
aufnehmen und es voll und ganz auskosten.
Ein endloser Moment verging, dann stand ich von meinem Lager
auf. Jahrhundertealter Staub schien von meinem Körper abzufallen,
als sich meine steifen Glieder streckten. Mit an die Dunkelheit
gewohnten Augen sah ich durch die gammelige Kammer mit ihren
moosbewachsenen Wänden zur Treppe meiner Gruft, die zur Sonne
führte und setzte meinen Körper langsam in Bewegung.
Ich spürte, wie das Monster in mir Hunger bekam und nach Blut
verlangte. Dem Blut von Menschen. Sofort zwang es mich in die
Knie und warf mich zu Boden. Verzehrte mich wie Feuer. Ließ mich
auf dem Boden wälzen und die scharfen Klauen in die verfaulten
Eingeweide rammen, um dem Schmerz zu entgehen. Immer wieder,
von Wand zu Wand.
Dann war es vorbei. Ich hatte meinen Hunger besiegt. Mit einem viel
größeren Hunger. Dem nach der Wärme der Sonne.
Ein zweites mal rappelte sich mein Körper auf. Wieder der Sonne
entgegen. Ich sah mich ein letztes mal in meiner langwährenden
Unterkunft um. Der staubige dreckige Boden mit den vielen toten
Ratten- und Insektenleibern. Die klammen Wände mit den zwei
Meter messenden Nischen, in denen sich spinnwebenüberzogene
Skelette mit verfaulten Stofffetzen räkelten. Die reichverzierten und
bemeißelten Steingräber, die die Mitte der Gruft füllten – auf einem
von ihnen hatte ich mich an den Tagen niedergelassen. Zuletzt fiel
mein Blick auf die Eisenständer an den Wänden, an denen rostige
Schwerter, Äxte, Speere und Rüstungen standen. An einer lehnte ein
verstaubter Rundschild ohne Wappen. Das blanke Metall schien
stumpf und irgendwie nicht real.
Mir fiel auf, das ich mich in den ganzen Jahrhunderten niemals
selbst im Spiegel gesehen hatte. Ich hatte immer Angst davor, zu
sehen, was ich war. Doch jetzt ging ich darauf zu und streckte meine
Hand nach dem alten Schild aus. Ich sah die etwas rostige, aber
dennoch glatte Oberfläche unter meinen wischenden Fingern zum
Vorschein kommen. Dann hob ich ihn auf und hielt ihn in
Gesichtshöhe vor mich. Und ich sah im Spiegel vor mir...Nichts. Der
Schild fiel polternd zu Boden, als ich keuchend gegen die Wand
taumelte. Darauf hätte mich nichts auf der Welt vorbereiten können.
Ich hätte ein Monster mit Augen, glühend wie Kohlen und langen
spitzen Reißzähnen erwartet. Eine bleiche Leiche mit teuflischen
Gesichtszügen. Aber Das?
Es zeigte mir nur ein weiteres Mal, das ich viel weniger als ein
Mensch und noch weniger als ein Tier war. Nur ein unheiliges Ding,
das sich an sein grausames Dasein klammert ohne Hoffnung auf
Frieden.
Jetzt wusste ich, das mich die Sonne wie einen Schatten
durchdringen und zerfetzen würde, aber um so besser. Dann war es
wenigstens vorbei. Mit erneutem Selbstvertrauen stieg ich über den
Schild auf die Treppe zur Tür zu.
Ich erreichte die unterste Stufe. Sie war mit Dreck und Staub bedeckt
und in einer Ecke lag eine tote Ratte so groß wie eine
ausgewachsene Katze. Ich fegte sie mit meinen nackten Füssen zur
Seite und betrat die erste Stufe. Die eiserne Tür mit ihren verrosteten
Angeln am Ende der Treppe schien keinen Lichtschimmer zu mir
hinunterzulassen. Es war nicht mehr weit. Nur sechs Stufen, bis ich
zum Treppenabsatz.
Noch vier.
Ich zögerte. Wie wenn man sich nicht sicher ist, ob man das Richtige tat.
Noch drei.
Ich hob meinen Fuß, dann kam die Stimme.
„Nein, tu es nicht.! Das Licht ist grausam! Es wird dich verzehren und dir den Tod bringen!“
‚Ja,‘ dachte ich, ‚das soll es tun. Mich verzehren und mein elendiges
Dasein endlich beenden. Ich hab ja noch nicht mal ein Spiegelbild.‘
Noch zwei.
„Bitte! Kehr um. Wer braucht denn schon ein Spiegelbild. Es kann
dich nur verraten! Ist die Jagd denn nicht gut? Hat es dir nicht viel
Freude bereitet, in den Nächten durch den Wald zu jagen und dich
frei zu fühlen?“
‚Zu lange bin ich schon durch den Wald gelaufen, als dass mir die Jagd noch etwas bedeutet.
Ich bin es Leid! Nacht für Nacht jage ich entsetzte Menschen und trinke ihr Blut! Zulange
friste ich nun schon dieses elende Dasein! Zulange habe ich die Sonne nicht mehr gesehen!‘
Noch eine.
Als würde ich mich gegen eine Wand stemmen.
„Aber die, deren Blut du trinkst, haben den Tod verdient. Du selbst
hast gesagt, das niemand unschuldig ist. Die Sonne geht immer
wieder auf und unter. Du kannst sie dir morgen ansehen. Oder
übermorgen. Bitte geh nicht. Es ist so hell draußen. Die Sonne ist so
hässlich.......“
Die Stimme redete weiter mit ihren Argumenten, die meine Meinung
alle nicht ändern konnten, sondern mich nur noch in meiner Tatkraft
bestärkten. Ich wischte die Wand aus Überlebenstrieb weg und etwas
in mir schrie auf. Dann war die Stimme zu einem leisen kaum
hörbarem Wimmern verkommen.
Ich betrat den Treppenabsatz. Zwei Schritte, dann stand ich vor der
Tür meines eigenen kleinen Himmels.
Ein letztes Mal zögernd hob ich meine Hand und legte sie auf den
Türgriff. Er war kalt, wie alles in mir seit Jahren.
Ich drückte den Griff nach unten.
Es kam mir unendlich langsam vor, als sich die Tür öffnete.
Knarrend öffnete ich Sie zuerst einen kleinen Spalt. In all der Stille
kam mir dieses Knarren wirklich unheimlich vor.
Doch keine erlösenden Sonnenstrahlen drangen hinein in meine Kammer.
Entsetzt, den falschen Zeitpunkt getroffen zu haben riss ich die Tür
schließlich ganz auf. Hatte ich mir das Vogelgezwitscher nur
eingebildet? Ja, rief die Stimme in meinem Inneren, geh wieder
hinein.
Aber dann sah ich den Hauch von Dämmerung über den
wiesenbedeckten Hügeln im Osten. Das hieß ich würde mir sogar
einen Sonnenaufgang ansehen können. Bei klarstem Himmel. Dabei
musste ich schmunzeln, und als ob das eine Barriere gebrochen
hätte, überzog sich mein Mund mit einem breiten Grinsen und ich
konnte es mir nicht mehr verkneifen. Ich freute mich auf die Sonne
wie ein Kind sich an seinem Geburtstag auf die Geschenke freute.
Voller Erwartung, voller Hoffnung nicht enttäuscht zu werden.
Natürlich wollte ich einen möglichst guten Ausblick auf meinen
letzten Sonnenaufgang, also sondierte ich die Umgebung.
Vor mir der Friedhof und dahinter sanft abfallend das Dorf der
Menschen mit dem weißen Kirchturm in ihrer Mitte aufragen. Zu
meiner Rechten erhoben sich brachliegende Felder so weit das Auge
reichte. Zu meiner Linken ein leicht abfallender Hang. Eine große
Wiese und dahinter ein dunkler Tannenwald. Hinter mir im Westen
flachte der Hügel ab und wurde zu einem tiefeingeschnittenen Tal
mit weiteren kleinen Dörfern. Vor mir der Osten mit seinen Hügeln
und dem Sonnenaufgang. Dahinter begann irgendwo das Meer.
Also kam ich zu dem Schluss, das es wahrscheinlich keinen besseren
Ort zum Sterben gab, als hier, auf dem Friedhof vor meiner Gruft.
Ich setzte mich auf einen nahe gelegenen Grabstein, der vom Tau
bedeckt in einer schön geordneten Reihe mit den anderen
Grabsteinen stand. Rund und eckig, in allen Größen, Formen und
Variationen standen sie da. Wie die glorreichen Schlachtreihen, die
felsenfest gegen alle Armeen der Welt stehen und siegreich bleiben.
Denn eigentlich ist der einzige Sieger in einem Krieg immer nur der
Tod. Manche seiner Gegner ereilt er früher, manche später. Aber er
kriegt immer, was er will. Denn die Zeit ist sein Verbündeter. Auch
mich hat er zu seinem Verbündeten und seinem Vollstrecker
gemacht, darum sterbe ich nicht. Nur die Sonne kann mich
vernichten. Denn sie bedeutet Leben.
Auch ich werde jetzt zu seinem Opfer, denn im Osten ist die Sonne
schon fast über dem Hügel zu sehen.
Seit einer halben Ewigkeit sitze ich jetzt schon da und warte auf
mein Ende. Noch immer singt kein Vogel und keine der Bäuerinnen
wagt sich vor die Tür, um Wasser vom Brunnen zu holen. Ich sehe
mir die Aufschrift des hohen Grabsteins an, auf dem ich sitze und
ich muss unwillkürlich lächeln. Es passte irgendwie. Da stand lieblos
und schäbig eingemeißelt:
Hier liegt das leere Grab von
Nathaniel Murdock
Totengräber und Unheiliger
Möge Gott seiner armen Seele gnädig sein
1599 - 1621
Der Stein ist schon ziemlich alt und verwittert. Irgendjemand hat etwa s in die
untere rechte Ecke des Grabsteins geritzt. Ich muss mich nach unten ganz nah
ranbücke n, um die schiefen, verwitterten Lettern erkenn en zu können. Da steht in
Großbuchstaben: SCHMORE IN DER HÖLLE, NATHANIEL! MÖGEST DU
FÜR ALLE ZEITEN VERFLUCHT SEIN!
Dahinter e in kompliziertes Zeichen mit vielen Linien, d as mich irgendwie an de n Sternenhimmel erinnert.
Eine zeitlang starre ich dieses Gekritzel an und ein kühler Hauch von Erinnerung
blitzt durch mein wurmzerfressenes Gedächtnis, aber als ich versuche, danach zu
greifen ist es schon wieder verschwunden.
Als ich mich wieder aufrichte, spüre ich das leichte Kribbeln von Wärme auf
meinem Kopf, Rücken und den Armen. Plötzlich aufgeregt drehe ich mich um.
Und was ich sehe lässt me in verfaultes Herz höher schlagen.
Da geht sie auf, knapp über den sanften Hügeln, aber schon eine volle Scheibe.
So prächtig!
So schön!
So vollkommen!
Ohne jede Arg und Falschheit!
Eine einzelne salzige Träne rinnt mir die Wange hinunter. Doch bevor sie meinen
Mund erreicht, löst sie sich mit einem Zischen in Dampf auf. Und auch mich
beginnt es schon zu verzehren. Meine Haut, mein Fleisch und die Knochen
darunter verbrennen unter grausamsten Schmerzen zu Asche. Während ich meine
Augen noch auf die Sonne gerichtet halte, verdampfen diese und ich sehe nichts
mehr. Denn die Sonne ist schon lange zu meinem Feind geworden. Der Schmerz
läutert meine grausame Seele und lässt mich mit einem Lächeln auf den Lippen
sterben.
Doch kein Laut entweicht meinen Lippen außer ein leises Seufzen des Bedauerns,
dass ich sie nicht länger betrachten darf.


ENDE

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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