Alexander Petrovic

Latinum Maximum 1

Nachdem ein paar Pendler ausgestiegen waren, enterte ich den Nahverkehrszug in Richtung Neustadt und war froh, dass ich nicht in der Schlange am Fahrkartenschalter anstehen musste. Vorausschauenderweise hatte ich mir am Tag vorher im Nienburger Bahnhof eine neue Wochenfahrkarte gekauft. An diesem Montagmorgen im Frühjahr stand nämlich in den ersten 4 Schulstunden eine Lateinarbeit an, die nicht ganz unwichtig für mein Abi war. So hatte ich ausnahmsweise einmal im Voraus geplant.
Der nächste freie Sitzplatz war meiner. Mit dem entspannten Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, sank ich auf dem Fensterplatz in mich zusammen, um mich ganz der sprichwörtlichen Montagmorgen-Stimmung hinzugeben. Das heißt, ich hatte müde Knochen und dicke Augen, die ich besonders bei regelmäßigen Zugfahrten, wenn überhaupt, nur mit allergrößter Anstrengung offen halten konnte.
Meine Gedanken schlichen sich leise davon wohl wissend, dass bis Neustadt eine gute Viertelstunde Zeit zum Dösen war. Das tat ich schon, als der Zug anruckte.
Zwischen Schlafen und Wachen registrierte ich wenig später, dass der Schaffner das Abteil betrat. „Die Fahrkarten bitte!“ Ohne mich aus meinem Dämmerzustand zu lösen, fuhr meine Hand reflexartig in die Jackentasche und ich hielt meine nagelneue Wochenkarte zur Sichtkontrolle hin.
„Da haben wir ja wieder einen erwischt!“ tönte es unheilschwanger am Rande meines Bewusstseins und die Karte wurde mir aus der Hand gerissen. Das war eine Abweichung von der Routine. Ohne meine bis dahin entspannten Gedanken und Gefühle sachte beiseite packen zu können, erklomm ich mehrere Stufen auf einmal nehmend einen hohen Adrenalinspiegel.
So manches Mal hatte ich mit meinen Fahrkarten getrickst und war dann entsprechend auf der Hut bzw. rechnete damit, dass es mit einem Schaffner Schwierigkeiten geben könnte. Aber diesmal hatte ich ein ruhiges Gewissen und war der Meinung, nichts falsch gemacht zu haben. Der konnte mich doch nicht meinen.
„Was gibt’s denn, irgendwas nicht in Ordnung, Chef?“ Vor mir stand eine viel zu große Schaffnermütze mit einem kleinen, aufgeregten Hutzelmännchen mit Glatze darunter, und sie meinte mich, da gab es kein Vertun.
„Ha, auch noch frech werden, was? Ham wir vielleicht noch‘ne andere Karte dabei?“ bekam ich jetzt eine Spur lauter zu hören.
Ich hatte nur eine Karte und wand ein, sie am Tage vorher gekauft zu haben und dass man mir am DB-Schalter doch sicher nicht ein Billett der abgelaufenen Woche verkaufen würde; jedoch meine Beteuerungen verhallten irgendwo zwischen der Wut und dem übertriebenem Diensteifer meines Gegenübers. Für Argumente gleich welcher Art war dieser Giftzwerg nicht mehr empfänglich.
Seine fremdartige Erscheinung lenkte mich ein wenig von den Geschehnissen ab. Der Möchtegern-Napoleon war offensichtlich vor vielen Jahren einmal in diese Uniform gestiegen, weil er sich dadurch den Respekt seiner Mitmenschen erhoffte. Sicherlich werden die meisten ihm diesen auch entgegengebracht haben, aber bei mir wollte er sich einfach nicht einstellen.
Er schien mit fortschreitendem Alter geschrumpft zu sein, ohne seine Respekthülle dieser Entwicklung entsprechend angepasst zu haben. Das wirkte auf mich in erster Linie komisch. Ich konnte mir diese Figur am ehesten als Bauern vorstellen, vielleicht Schweinezüchter, wenngleich er dazu etwas zu klein und zierlich war. Weiterhin wies sein Körper eine leicht gebückte Haltung auf, die ihm anscheinend die Last seines Alters aufzwang.
„Du bist nicht der erste heute mit einer ungültigen Fahrkarte! Nächste Station fliegste raus!“ In sein Gesicht war die Zornesröte gestiegen und seine Stimme war jetzt nur noch aggressiv, was mir in meiner Montagmorgen-Verfassung regelrecht wehtat.
Der Mann nahm meinen vermeintlichen Betrugsversuch persönlich und zitterte vor Wut. Das Lächerliche seiner Erscheinung war schnell dem Ernst der Lage gewichen, in der ich mich plötzlich befand. Das DB-Rumpelstilzchen war auf einem Einbahn-Gleis, das keine Weichen hatte, und schickte sich an, für mich zum Prellbock zu werden.
Wochenkarten waren wohl auf meiner Strecke eher selten, denn auf meine an die mitreisenden DB-Kunden gerichtete Frage nach der aktuellen Kalenderwoche erntete ich lediglich Schulterzucken.
Sollte dem Schalterbeamten, der mir die Karte verkauft hatte, ein Fehler unterlaufen sein? Während ich noch daran arbeitete, die Situation in ihrer Gesamtheit zu realisieren, hielt der Zug und man entfernte mich daraus. Ehe ich mich versah, stand ich schlaftrunken in der Morgensonne auf einem Bahnsteig in Linsburg und fühlte mich ziemlich entgleist. (Fortsetzung folgt)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Es wurde sehr viel geschrieben über jene Jahre der unseligen Diktatur eines wahnwitzigen Politikers, der glaubte, den Menschen das Heil zu bringen. Das meiste davon beschreibt diese Zeit aus zweiter Hand! Ich war dabei, ungeschminkt und nicht vorher »gecasted«. Es ist ein Lebensabschnitt eines grünen Jahzehnts aus zeitlicher Entfernung gesehen, ein kritischer Rückblick, naturgemäß nicht immer objektiv. Dabei gab es Begegnungen mit Menschen, die mein Leben beeinflussten, positiv wie auch negativ. All das zusammen ist ein Konglomerat von Gefühlen, die mein frühes Jugendleben ausmachten. Ich will versuchen, diese Erlebnisse in verschiedenen Episoden wiederzugeben.

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