Klaus-Peter Behrens

Das Tor zwischen den Welten Teil 6

“Hey, kommt gefälligst zurück und laßt uns hier raus, ihr Hippies. Wer glaubt ihr, wer ihr seid. Ihr könnt nicht einfach amerikanische Staatsbürger einsperren“, brüllte Tom und trommelte gegen die schwere Tür, doch nichts geschah. Nach einer Weile gab er es auf und drehte sich wütend zu Dean um. Dieser stand in der Mitte des Raums, sah relativ bleich aus und schien sich mit ihrem Quartier gar nicht anfreunden zu können. Das maß ungefähr acht mal drei Meter, hatte eine Höhe von vier Metern und schien aus dem massiven Fels herausgehauen worden zu sein. Der Fußboden war mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt. Vermutlich handelte es sich um einen seit langer Zeit nicht mehr genutzten Lagerraum, für den die pragmatisch veranlagten Zwerge nun eine neue Verwendung gefunden hatten. An den Wänden befanden sich leere Regale. Eine Öffnung war, mit Ausnahme der Tür und einiger schmaler Schlitze, die wahrscheinlich der Belüftung dienten, nicht vorhanden. Licht spendeten lediglich zwei rußende Fackeln, die die Zwerge, kurz bevor die beiden in den Raum geworfen wurden, angezündet hatten. Dean sah seinen wütenden Freund ängstlich an.
„Ich fürchte“, sagte er mit zitternder Stimme, „hier kannst du noch so viel schreien und trommeln, die reagieren doch nicht und von Amerika haben die auch noch nie etwas gehört.“
„Was soll das denn heißen?“ Tom kochte vor Wut. „Das sind doch nichts weiter als abgedrehte Späthippies, die, den Bärten nach zu urteilen, für ZZ-Top schwärmen und hier eine abgefahrene WG gegründet haben, um illegalen Bergbau zu betreiben“, antwortete er verächtlich und begann, den Raum zu untersuchen.
„Das glaube ich nicht. Wo immer wir auch gelandet sind, nach Amerika sieht mir das irgendwie nicht aus“, erwiderte Dean und ließ sich seufzend auf dem Boden nieder. „Denk an das Ausmaß dieser Anlage. Ich wette mit dir, wir haben gerade mal einen kleinen Teil davon gesehen. Und dann die unzähligen Arbeiter. Es müssen hunderte sein und alle von der gleichen kleinwüchsigen Statur. Wenn es so etwas bei uns geben würde, wäre es mit Sicherheit allgemein bekannt. Aber selbst im Reiseführer steht darüber nichts. Das ist doch höchst merkwürdig, oder? Und dann dieser unheimliche Fall durch dieses schwarze Loch.“
Schaudernd dachte Dean an ihr Erlebnis zurück.
„Gut, ich gebe ja zu, dass das alles hier etwas seltsam ist“, räumte Tom widerwillig ein. Mit gesträubten Haaren erinnerte er sich nur zu gut an ihre Reise hierher. „Aber für alles gibt es mit Sicherheit eine simple Erklärung. Es muß sie einfach geben.“ Die letzten Worte sprach er im Brustton der Überzeugung aus, allerdings mehr, um sich selbst zu beruhigen.
„Sicherlich gibt es eine Erklärung hierfür, aber simpel wird sie nicht sein.“ Dean begann nachzudenken. Die wissenschaftliche Herangehensweise gewann langsam wieder die Oberhand und verdrängte die Panik, die ihn eben noch zu überwältigen gedroht hatte. Es war gut, wenn man in schwierigen Situationen in der Lage war, an Probleme abstrakt heranzugehen. Das half, die Schrecken zu verdrängen. Tom untersuchte unterdessen die leeren Regale an der Wand um herauszubekommen, ob sie in irgendeiner Weise zum Aufbrechen der Tür geeignet waren.
„Weißt du“, fuhr Dean nach einer Weile des Nachdenkens fort, „das Ganze hier erinnert mich an einen interessanten Artikel, den ich vor einiger Zeit gelesen habe.“
„Freut mich, dass du dich in einer derartigen Situation noch an irgendwelche Artikel erinnern kannst“, erwiderte Tom giftig, während er sich bemühte, ein riesiges Steinregal von seinem Platz zu bewegen. Dies sah sich leider nicht genötigt, von seinen Bemühungen Notiz zu nehmen.
„Bißchen Hilfe könnte nicht schaden“, murrte Tom und sah Dean auffordernd an. Dieser betrachtete amüsiert das Regal.
„Mein lieber Tom. Das Regal dort besteht aus massivem Stein. Um das zu bewegen, brauchst du schon einen Kran oder einen leistungsstarken Gabelstapler, mit Sicherheit aber keinen Biologen“, erklärte er mitleidig. Mißmutig stellte Tom daraufhin seine Bemühungen ein, nicht ohne dem Regal vorher noch einen wütenden Fußtritt zu verpassen. Dean erzählte weiter.
„Um auf den Artikel zurückzukommen. Wenn ich mich recht erinnere, befasste sich dieser mit der Quantenmechanik.“
„Quanten.... was?“ Tom sah seinen Freund entgeistert an.
„Quantenmechanik.“ Dean war jetzt wieder ganz in seinem Element, und seine Stimme nahm den von Tom so gefürchteten Professorenstil an. Tom fragte sich, warum er bei diesen Gelegenheiten immer das Gefühl hatte, ein kleiner Junge zu sein, der sich auf eine Klassenarbeit im Bruchrechnen vorbereitet hatte und stattdessen mit der Relativitätstheorie konfrontiert wurde. Er schüttelte den Kopf, um den unerfreulichen Gedanken loszuwerden und versuchte, sich auf Dean zu konzentrieren, der schon mitten in seinen Erklärungen war.
„.....und das versteht man daher gemeinhin unter der Quantenmechanik“ führte er gerade aus. „Der Artikel beschäftigte sich im wesentlichen mit den Interferenzen von Photonen zueinander und bezog in diesem Zusammenhang eine Theorie aus den fünfziger Jahren mit ein. Ich glaube, sie hieß die Theorie des multiplen Universums oder so ähnlich.“
Tom sah seinen Freund an, als wäre dieser gerade zu einem Banjo spielenden Werwolf mutiert. Dann platzte es aus ihm heraus: „Wir sitzen hier irgendwo unter der Erde in einem Kellerloch fest. Draußen tobt eine Bande axtschwingender, zu kurz geratender Weihnachtsmänner durch die Gegend und du hältst mir hier einen wissenschaftlichen Vortrag über Protonen und irgendwelche Theorien aus den Fünfzigern!“ Tom konnte es einfach nicht fassen, wissenschaftliche Begeisterung hin oder her, das war zuviel!
„Nicht Protonen, Photonen“, erwiderte Dean ungerührt.
„Ich glaube das einfach nicht. Hauptsache, Herr Professor kann ein wenig philosophieren. Na schön, was soll’s, wir haben ja jede Menge Zeit für wissenschaftliche Vorträge. Es ist ja nicht so, als ob irgendetwas Dringenderes anstehen würde“, rief Tom und reckte die Hände zur Decke, als würde er von höherer Seite Unterstützung erwarten. Die blieb natürlich aus. Nur ein wenig Kalk rieselte mitfühlend von der Decke und so ließ er nach ein paar Sekunden resigniert die Arme wieder sinken. Dean sah ihn mißbilligend an. Als Wissenschaftler mit Leib und Seele schätzte er es gar nicht, wenn man seinen Ausführungen nicht voller Wissensdurst lauschte, sondern sich stattdessen über ihn lustig machte. Aber das Verhalten seines Freundes war ihm ja nicht neu und so fuhr er unbeeindruckt fort.
„Also, dieser Theorie zufolge sollen außer dem uns bekannten Universum, noch weitere, parallele Universen sozusagen nur einen Steinwurf weit weg existieren. Kannst du mir folgen?“
Tom hatte sich inzwischen damit abgefunden, von Dean mit wissenschaftlichen Erklärungen gequält zu werden. Er wußte aus Erfahrung, dass es praktisch nichts gab, mit dem man Dean von etwas abbringen konnte, für das er sich erst einmal erwärmt hatte. Ausgenommen vielleicht ein Schlag mit einer soliden Keule auf den Kopf. Da Tom aber gerade keine griffbereit hatte, seufzte er ergeben und antwortete: „Selbstverständlich.“ In so einem Fall wußte Tom, war es das Beste, einfach nur zuzustimmen, es sei denn, man hatte für den Rest des Tages nichts anderes mehr geplant und Zeit für endlose Debatten. Deans Mundwinkel verzogen sich nach unten. Er kannte dieses Verhalten seines Freundes nur zu gut, hakte aber nicht nach.
„Wenn man dieser Theorie also Glauben schenkt, ist von einem multiplen Universum auszugehen. Dieser Denkansatz ist immer noch aktuell, weil es ein Experiment gibt, das sich mit der Interferenz von Photonen beschäftigt und indirekt in die gleiche Richtung zielt.“ Tom stöhnte. „Einfach ausgedrückt, das Experiment läßt den Schluß zu, dass Photonen unter anderem auch durch Interferenzen aus anderen Dimensionen beeinflußt werden, also diese durchdringen. Dimensionen, die sich von den uns bekannten unterscheiden. Die Einzelheiten dieses Experiments erspare ich dir, es sei denn, du möchtest sie gerne hören.“ Dean sah Tom hoffnungsvoll an. Der trug einen Gesichtsausdruck wie ein Neandertaler zur Schau, der gerade einen Crashkurs über die elementaren Grundkenntnisse der Kernspaltung hinter sich gebracht hatte und nun aufgefordert wurde, eine kurze Zusammenfassung zu liefern. Dean hielt es daher für besser, Tom mit weiteren Einzelheiten nicht auch noch den restlichen Verstand zu vernebeln.
„Du hast immer noch keine Ahnung, was ich damit sagen will, oder?“, fragte er vorsichtig. Tom schüttelte stumm den Kopf. Diesmal warf Dean die Arme verzweifelt in die Luft. Manchmal hatte er das Gefühl, jeder Getränkeautomat würde ihn besser verstehen.
„Aber das ist doch ganz einfach“, rief er ungehalten. „Wenn man die Behauptung des multiplen Universums als wahr unterstellt, existieren parallel zu unserem Universum diverse Dimensionen, die quasi nur einen Schritt entfernt sind. Soweit klar? Gut! Bisher hat nur noch keiner den letzten Beweis hierfür erbringen können, weil keiner weiß, wie man sie betreten kann – doch jetzt sieht das anders aus.“
Er schwieg bedeutungsvoll und sah Tom an. Bei dem begann sich allmählich, träge, wie zäh fließender Honig, die Erkenntnis ihre Bahn zu brechen.
„Du meinst...“, sagte er nach einer Weile zögernd.
„Genau, wir haben den Zugang gefunden. Ich weiß nicht, wo wir uns befinden, aber eins weiß ich mittlerweile ganz sicher..“, sagte Dean überzeugt und schwieg ein paar Sekunden, bevor er weitersprach, „wir sind nicht mehr in Amerika, sondern im wahrsten Sinne des Wortes verschollen in einer anderen Dimension.“ Dann zog er die Beine heran und verschränkte die Arme auf den Knien. Diese Stellung, nahm er immer dann ein, wenn er vor einem Problem stand, welches sich nur mit ausgiebigem Nachdenken lösen ließ. Tom starrte den so ruhig vor ihm sitzenden Freund fassungslos an.
„Oh verfluchter Mist“, brüllte er dann los, als ihm allmählich das Ausmaß ihrer Situation klar wurde. „Ich glaube das einfach nicht. Du und dein verfluchter Forscherdrang.“ Verzweifelt fuhr er sich mit den Händen durch die Haare und begann, wie ein Tiger im Käfig vor Dean auf und ab zu laufen. „Und wie gedenken der Herr Professor uns hier wieder herauszubringen? Sollen wir vielleicht ein Taxi rufen oder eine Email schicken? SOS, benötigen neues Wurmloch für Rückreise.“
„Hey, das ist vielleicht gar nicht mal so schlecht“, rief Dean, dem eine Idee gekommen war. „Du fängst an, wie ein Wissenschaftler zu denken.“
„Klar, ich arbeite an meiner Abhandlung über interstellare Verbindungen und Raumkrümmungen. Sag bloß, das wußtest du noch nicht?“, fauchte Tom zurück.
„Nein, nein, ich meine das ernst. Die Bemerkung mit dem Wurmloch war gar nicht so verkehrt. Erinnere dich doch mal daran, wie wir hierher gekommen sind. Dieses Loch war so dunkel, dass es sogar Licht verschluckte; und dann die Sache mit deiner Hand. Verschwunden, wie in einem schwarzen Loch.“ Tom sah seine Hand an und bewegte vorsichtig die Finger, wenigstens die funktionierten noch.
„Vielleicht ist das so eine Art Wurmloch“, erklärte Dean weiter, „mit dem man von unserer Dimension in die nächste Dimension reisen kann. Und es muß noch weitere Ausgänge und vielleicht sogar Eingänge geben, wie bei den Stationen einer Untergrundbahn.“ Tom stellte die Überprüfung seiner Gliedmaßen ein und sah seinen Freund spöttisch an.
„Und was bringt dich zu dieser glorreichen Erkenntnis?“
„Überlege doch mal, die Zigarettenschachtel. Jemand hat schon vor uns diesen Weg genommen.“ Tom nickte mitleidig und verzog die Mundwinkel.
„Ja, und wahrscheinlich ist dieser jemand schon mit Steineklopfen hier in der Mine beschäftigt, trägt einen langen Bart und hat ein Verhältnis mit Schneewittchen.“
„Nein, das kann nicht sein“, hielt Dean dagegen.
„Wieso nicht? Ist Schneewittchen schon anderweitig vergeben?“
„Sehr komisch, nein, dieser Zwerg hat doch gesagt, dass noch kein Mensch die Mine betreten hat. Wer immer vor uns diesen Weg genommen hat, ist woanders gelandet. Falls also wider Erwarten der Rückweg von hier aus nicht möglich sein sollte, immerhin war der Tunnel ja verschwunden, wie du dich vielleicht erinnern magst, gibt es möglicherweise an anderer Stelle Übergänge in unsere Welt.“
„Möglich wäre es“, räumte Tom bereitwillig ein, „aber nicht wahrscheinlich. Woher willst du wissen, wo sich der nächste Übergang befindet? Willst du die Auskunft anrufen? Nein, nein mein Freund. Wahrscheinlicher ist es da schon, dass uns die kleinen grünen Männchen hier rausbeamen und uns an der nächsten Bushaltestelle absetzen.“
Dean schwieg eine Weile, dann gab er ernüchtert zu: „Na schön, ich weiß ja auch nicht, wie wir zurückfinden sollen, aber irgendwo müssen wir anfangen. Vielleicht können uns die Bewohner hier helfen, wenn wir sie erst mal davon überzeugt haben, dass wir keine Eindringlinge sind.“
„Helfen, ha, die drücken uns höchstens eine Spitzhacke in die Hand, und dann kannst du in einem staubigen Stollen für den Rest deines Lebens Steine zerkleinern“, erwiderte Tom zynisch. Gleichwohl mußte er sich eingestehen, dass er wieder Zuversicht verspürte, wenn auch nur sehr wenig. Eine Weile diskutierten sie noch weiter, bis Tom schließlich müde wurde und einfach da, wo er saß, einschlief. Dean, der seinen Freund schon immer um diese Fähigkeit beneidet hatte, blieb noch eine Weile wach und überdachte ihre Lage. Doch schließlich übermannten auch ihn die Strapazen des Tages und er fiel in einen unruhigen Schlaf.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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