Alexander Petrovic

Latinum Maximum 3

Werners Kollege ergriff den Telefonhörer. Er veranlasste schleunigst, dass man in Neustadt – mein Zug müsste in den nächsten Minuten dort eintreffen – den übertrieben behüteten Giftzwerg aus dem Zug holte, ihn über die aktuelle Wochennummer aufklärte und ihm meine arme, konfiszierte, aber absolut und ohne Einschränkung gültige DB-Wochenfahrkarte wieder abnahm, um sie ihrem rechtmäßigen Eigentümer baldmöglichst aushändigen zu können. Sie wurde schließlich am Fahrkartenschalter in Neustadt für mich hinterlegt.
Im Nachhinein bedauere ich unendlich, nicht dabei gewesen zu sein, als dem Giftzwerg der Groschen fiel. Ich hätte einiges dafür gegeben, die Ausdrucksveränderung in seinem Gesicht während des Erkenntnisprozesses zu verfolgen.
Die Lateinarbeit: Werner meinte, dass in Kürze ein Eilzug aus Bremen ohne Halt durchfahren würde, der nächste Nahverkehrszug käme dann in etwa 1 und einer halben Stunde. „Das ist zu spät.“
Werner und sein Kollege sahen sich an. „Dann gibt es nur eine Möglichkeit. Würdest Du auf der Rangierlok mitfahren?“ „Ja klar!“ „Dann bringen wir Dich nach Neustadt.“ Da war die große Hand wieder. „Wenn der Eilzug durch ist, fahren wir. Es muss dann auch zügig gehen, damit wir da sind, bevor der D-Zug kommt.“
Sein Kollege hatte noch kurz mit dem Stellwerk und dem Neustädter Bahnhof telefoniert. In der Zwischenzeit donnerte der Eilzug durch Linsburg. Wir kletterten auf die damals schon ziemlich betagte Maschine, Werner ließ sie an und wir rollten los.
Es ging zügig, obwohl das die kleinste Rangierlok war, die ich je gesehen habe. Eine kleine rote Diesellok, bei der das gerade 3 Personen fassende Führerhaus fast größer als der Rest von ihr war. Auf freier Strecke ohne Anhängelast lief sie 60 Sachen – meinte Werner. Ich erfuhr während der Fahrt noch viele weitere technische Details über unser Gefährt und die Streckenorganisation. Und auch über Werners Vater. Nach allem, was ich zu hören bekam, ging er nicht nur seinem Sohn auf den Wecker.
Es waren keine Scheiben in den Fenstern, sodass uns ein frischer Wind um die Nase wehte. Einerseits war ich unter Zeitdruck, andererseits ging die Fahrt viel zu schnell vorbei. Schon oft in meinem Leben habe ich diesen Zwiespalt erlebt. Manchmal gelang es mir, mich davon zu lösen und einen eher einzigartigen Moment auch als solchen zu genießen. Immerhin, einmal im Leben Individualverkehr auf dem staatlichen Schienennetz.
Ich war zwar spät dran, aber ich fing an, mir Chancen auszurechnen, dass ich die Lateinarbeit bis zum Abgabetermin Ende der 4. Stunde zumindest soweit fertig bekommen könnte, dass eine Zensur dabei herausspringen würde, die mir von Nutzen sein würde.
Das Gymnasium in Neustadt liegt gut 1 Kilometer hinter dem Bahnhof in der Nähe der Bahnlinie. Um mir Zeit zu sparen, brachten meine Schienen-Chauffeure mich deshalb bis zu dem beschrankten Bahnübergang auf der viel befahrenen Landstraße nach Poggenhagen, der auf der Höhe der Schule liegt. Was für ein Service für einen 2. Klasse-Passagier. Da kommt auch eine 1. Klasse-ICE-Fahrt, für die man heutzutage ein kleines Vermögen aufbringen muss, nicht heran.
Die kleine Lok rollte mitten auf dem Bahnübergang aus. Ich sprang vom Trittbrett, ging schnellen Schrittes zur Schranke und flankte über die rotweiße Absperrung. Ich drehte mich noch kurz um und winkte Werner und seinem Kollegen zu. Die Lok setzte sich langsam wieder in Bewegung – in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Den vor den Schranken haltenden Autofahrern konnte man ihr Erstaunen ansehen. Alle, wirklich alle verfolgten in diesem Augenblick jede meiner Bewegungen. Es war ein Moment, für den man auf einer Bühne oft genug kämpfen muss, ich hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit.
Meine Fantasie geht mit mir durch, wenn ich heute daran denke, wie man diese Situation hätte ausbauen können. Aber damals war ich mehr als zufrieden mit dem bisherigen Verlauf und freute mich darüber, wie eine anfängliche eigene starke Verwunderung im Laufe der Geschehnisse nach und nach auf weitere Personen übergriff, sich kuriose Zusammenhänge offenbarten und überraschende Folgen eintraten. Da ist es wieder, das wirkliche Leben, das Unerwartete, dem man sich nicht entziehen kann. Da kommt Bewegung in den Alltag der Beteiligten, da fügen sich Dinge zusammen, die mehr oder weniger bedeutsame Veränderungen in ihrem Leben bewirken.
So reichte es mir, – wie ich das derzeit oft getan habe, wenn ich in der Öffentlichkeit genügend Blicke auf mir spürte – beim Gehen einen kleinen Stolperer einzubauen, der zumindest einigen meiner Zuschauer ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
Die letzten 200 Meter zur Schule schritt ich ein paar Zentimeter über dem Boden. Mit Leichtigkeit ließ ich das große Foyer, die Treppen und Gänge hinter mir.
Ich kam zu der Lateinarbeit gar nicht soviel zu spät und begann sofort mit der Übersetzung des Tacitus. Meine Seele war in Bewegung. Sie war einmal kurz durchgerüttelt worden und in dem hellen und wärmenden Licht der Frühlingssonne gingen ihr jetzt die passenden Formulierungen so leicht von der Hand, dass ich als einer der ersten meine Arbeit abgegeben habe. Es war erstaunlich, wie gut ich drauf war. Ich hatte mein Elaborat mehrmals nach Fehlern durchgesehen, aber keine gefunden.
Als ich nach der Schule die Halle des Neustädter Bahnhofs betrat und am Schalter die Vorkommnisse dieses Morgens ansprach, brach dort allgemeiner Frohsinn aus und man sah nur noch schmunzelnde Gesichter. Der Vorsteher persönlich überreichte mir meine Wochenkarte und entschuldigte sich für den Giftzwerg. Die Vorgeschichte und Erklärung meines Rausschmisses war wie folgt:
Der Zug, mit dem ich am Morgen losfuhr, war vorher mitsamt dem Giftzwerg aus Wunstorf gekommen. In Wunstorf hatte am Wochenende ein Bahnbeamter seinen Stempel, mit dem er die Wochenzahl auf die Wochenfahrkarten druckt, eine Raste zu weit gestellt, sodass anstatt der 12 die 13 gedruckt wurde. Am Montagmorgen im Zug hatte der Giftzwerg natürlich nur die 13 gesehen, wenn er eine Wochenkarte kontrollierte. Ab Neustadt hatte er dann offensichtlich den einen oder anderen „Schwarzfahrer“ erwischt.
Gern wüsste ich heute, wer noch so „erwischt“ worden war. Vielleicht hatte ja einer der Wochenfahrkarten-Inhaber etwas Interessantes oder gar Lustiges erlebt?
Im Prinzip war also nichts weiter geschehen, als dass ein Bahnbeamter seinen Stempel eine Raste oder 1 Millimeter zu weit gedreht hatte. Allerdings mit dem Ergebnis, dass ich morgens ungewollt frische Landluft schnuppern konnte, sich ein Vater-Sohn-Verhältnis relativiert hat, sich mir die einmalige Gelegenheit bot, mit einer DB-Lok chauffiert zu werden und ich schließlich soviel Oberwasser hatte, dass ich eine gute Lateinarbeit aus dem Ärmel schüttelte.
Nicht zu vergessen, dass man an diesem Vormittag beim DB-Personal eines ganzen Streckenabschnitts auf heitere Mienen traf. Im Hinblick auf den Charakter des Giftzwergs dürfte dabei auch ein gerüttelt Maß an Schadenfreude eine Rolle gespielt haben. So oder so sicherlich eine willkommene Abwechslung in der Welt der Fahr- und Dienstpläne.
Als Erfolgserlebnis für mich wurde die ganze Angelegenheit schließlich abgerundet, als die Ergebnisse der Lateinarbeit bekannt gegeben wurden und meine eine der besten war.
Werners Vater ist mir nie wieder begegnet. Offenbar ist für ihn eine Welt zusammengebrochen und er hat seine Riesenmütze an einen großen Nagel gehängt.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Alexander Petrovic).
Der Beitrag wurde von Alexander Petrovic auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Alexander Petrovic als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Nacht der Gefühle – Tag voll Leben von Karin Keutel



Gefühlvolle Gedichte und spannende Geschichten, Gedankenspiele aus dem Leben, der Natur, Liebe, Leidenschaft und Vergänglichkeit, facettenreich eingefangen.

Ein Lesevergnügen, das Herz und Seele berührt in Text und Bildern.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wie das Leben so spielt" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Alexander Petrovic

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Latinum Maximum 1 von Alexander Petrovic (Wie das Leben so spielt)
Socken von Christiane Mielck-Retzdorff (Wie das Leben so spielt)
Der Engel meines Lebens von Elke Gudehus (Liebesgeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen