Monika Wilhelm

Der ältere Mann und seine Prinzessin

„Wieso kann ich dich fuehlen, warum kann ich dich spüren, wenn du traurig bist, es dir schlecht geht und deine Seele weint? Du bist so viele Kilometer von mir entfernt und doch weiss ich dich . Es erfuellt mich jedesmal mit innerer Unruhe und es lässt mich nicht schlafen, wenn du nicht schläfst.
Deine Seele ruft nach mir und ich kann dir die Uhrzeit sagen, wenn du weinst, du wieder in deinem Dunkel bist. Kannst du es mir erklären? Ich finde keine Erklärung dafuer . Eines Tages wirst du es mir erklären muessen, meine Prinzessin“, schreibt der ältere Mann der jüngeren Frau.

Beide hatten sich vor acht Jahren in einem Chatprogramm kennengelernt. Es war ein EIN-maliges Chat, nicht nur einmalig, auch EIN-malig. Die junge Frau schrieb damals in ihrer Verzweiflung all ihre Gefuehle und Gedanken, ohne auch nur ein Blatt vor dem Mund zu nehmen, diesem ihr Unbekannten. Eigentlich hatte der ältere Mann nicht viel geschrieben. Er hörte nur zu, oder er las und sie spuerte, dass er ganz...ganz nah mit ihr war.
Die junge Frau war so verzweifelt, dass der ältere Mann bat, mit ihr sprechen zu duerfen, damit sie seine Stimme hören konnte. Diese Stimme, am anderen Ende der Welt, klang sehr ruhig und sehr stark. Sie war dunkel und warm. Er versuchte die Frau zum Sprechen zu bewegen, doch sie war stimm- und wortlos. Sie konnte nicht mehr sprechen. Ihre Worte waren alle verschluckt, tief in der Seele verschluckt und fest eingeschlossen. Ihr einziger Weg sich auszudruecken war zu schreiben. Ihre Finger flogen nur so ueber die Tastatur, während der ältere Mann beruhigend auf sie einsprach.

Es vergingen viele Stunden, bis ins Morgengrauen. Die junge Frau konnte ihre Tränen und ihre Verzweiflung, wie auch alle Wunden ueber die Tastatur hinausschreien, und der ältere Mann „hörte“ zu, auf einem Stuhl sitzend, vor seinem Computer in Virginia.
Über diese Zeit beruhigte sich die jüngere Frau und es war ihr möglich wieder zu atmen. Sie konnte wieder ein wenig Wärme spüren. Sie konnte wieder ein wenig sich selbst empfinden.
Er bat sie um ein paar Worte, nur um ein bisschen von ihr zu hören. Sie versuchte zu sprechen, doch ihre Stimme gab keinen Laut von sich. Sie öffnete die Lippen, formte die Worte, die Kehle schien so zugeschnuert, so unendlich fest zugeschnuert. Tränen liefen ueber ihre Wangen, ihr Atem wurde wieder schneller, der Schweiss rann ihr den Bauch hinunter und das Herz trommelte im Kopf .
Der ältere Mann streichelte ihr Haar mit seinen Worten und plötzlich vernahm er ein sehr leises “Good Night“. Nur diese zwei Worte.
Er bat sie, ihr schreiben zu duerfen, einfach so, nur schreiben.

Am nächsten Morgen fand die jüngere Frau ein Mail in ihrem Programm und es begann eine sehr innige Freundschaft. Die jüngere Frau schrieb ihm täglich mehrmals und der ältere Mann beantwortete jedes Mail. Er schrieb am Morgen, zu Mittag, abends, und dann noch zur „Guten Nacht“. Sie fuehlte sich geborgen und geliebt. Es gab keinen Tag an dem er sie nicht begleitete und ihr Mut zusprach. Er begann ihre Gedanken zu verstehen und die Schwingungen zu erkennen. Bald wusste er soviel, dass er sie mehr kannte als sie sich selbst.
Er wusste oft schon lange Zeit bevor sie zusammenbrach, dass sie zusammenbrechen wuerde und warum.
Die jüngere Frau hatte eine eigene Art zu denken und zu fuehlen, die vielen fremd war. So war es fuer sie sehr schwierig, sich verstanden und geborgen zu fuehlen. Egal wie sie sich im Leben entschied oder was auch passierte, der ältere Mann hatte nie tadelnde Worte oder auch wertende Gedanken. Er ließ sie sich kostbar fuehlen und geliebt. 
Es war eine innige Vater-Tochter-Beziehung zweier Menschen, die sich niemals gesehen, niemals in den Arm genommen und doch täglich beruehrten.

Es gab in diesen Jahren auch Zeiten wo sie nicht kommunizierten, da die jüngere Frau einen neuen Partner hatte und der ältere Mann den Fluß nicht behindern wollte. Er versicherte ihr, dass er froh sei, dass sie jemanden gefunden hatte, der sie liebte und sie hier unterstuetzte.
Doch beider Gedanken und Seelen blieben verbunden. Die jüngere Frau wusste, dass sie sich immer wieder ihm öffnen durfte und er wuerde seine Arme um sie legen und sie in Gedanken wiegen, als seine Tochter. Sie wusste, sie durfte weinen und sie durfte auch mit ihm lachen, sie durfte wüetend sein und sie durfte auch mal unbewusst verletzend sein, doch seine Liebe würde sie immer tragen.

So schwingt seine Seele mit ihrer Seele und das Vertrauen baute sich auf zu einem großen unbesiegbaren Berg, der mit gruenen Wäldern und Wiesen bepflanzt ist, und auf dem ein wunderbar klarer Fluß fließt, der ganz oben an der Spitze des Berges entspringt.




© monika wilhelm





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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.01.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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