Cathy Hansel

Die Biegung des Flusses

Wie jeden Morgen, der schwach von der noch aufgehenden Sonne erhellt wurde, ging Kaoru Iwaka, ein alter Fischer, den Shika-Fluss entlang. Vorsichtig trat er immer wieder auf das dunkelgrüne Gras, sah kurz zum stilltreibenden Wasser hinüber und dann wieder nach vor, um nicht niederzufallen. Vor drei Jahren, dachte er, hatte ich hier Gesellschaft. Miyuki... Warum hast du mich verlassen? An dem Gedanken an seine tote Frau begannen seine Augen zu tränen. Sofort strich er mit dem Handrücken darüber und hielt seine Hand so in die Höhe, dass er durch die rötlichen Sonnenstrahlen eine Träne sehen konnte. Ein trauriges Lächeln huschte ihm übers Gesicht und er atmete tief durch, versuchte wieder den Schmerz in seinem Herzen zu verdrängen. Doch als er eine weiße Gestalt in einem hellen Seidenkleid mit dem Rücken zu ihm am Boden sitzend erblickte, blieb er ruckartig stehen und näherte sich dieser mit zögernden und doch festen Schritten.
Der Ort, an dem die Frau kniete und sich zu dem kalten Wasser hinunterbeugte, um es zu berühren, war Kaoru sehr vertraut. Genau an dieser Flussbiegung hatte er seine bereits verstorbene Geliebte kennen gelernt, ihr seine unendliche Liebe gestanden und ihr einen Heiratsantrag gemacht.
Die weiße Gestalt auf dem Boden erhob sich langsam, breitete die Arme wie ein Falke zur Seite aus und hielt ihre Gesicht gegen die warmen Strahlen der Sonne. Leise flüsterte sie: „Vom wahren, reinen Buddha geleitet, zurück an die Stelle, an der ich mein Herz verlor, warte ich nun auf den, der mich hier auf der Erde verwahrt ... mich noch in seinem Herzen existieren lässt ...“ Gebannt horchte Kaoru der lieblichen Stimme der Frau zu. Seine Hände begannen zu zittern, als er ihre soeben gesprochenen Worte erst verstand und dann das Gesicht seiner toten Frau Miyukis wiedersah, als sich die weiße Gestalt lächelnd zu ihm drehte. Das Lächeln so warm, so barmherzig. Das Herz des alten Fischers begann wie wild zu schlagen. Er streckte die Arme nach ihr aus, erfasste ihre weißen, leblosen Hände und betrachtete ihr farbloses Gesicht mit den tiefroten Lippen.
„Haben Aya und Aki, das Ergebnis unserer Liebe, ein wohlhabendes, glückliches Leben?“, der Geist von Miyuki sang fast die ausgesprochenen Worte. Nur ein Nicken bekam sie zur Antwort. „Nach meinem scheinbar endlosen Aufenthalt ohne dich im Jenseits, wollte ich dich wiedersehen ... dich noch einmal in den Armen halten und deine Stimme hören...“, murmelte sie und legte die Arme um ihn. Innerlich zuckte der Fischer zusammen. Seine Frau war so eisig wie gefrorener Schnee, ohne jegliche Wärme, die Leben ausstrahlt. Kalt wie der Tod. Dennoch schlang auch er seine Arme um sie. Tränen liefen ihm über sein Gesicht. Auch wenn er sie nun nie wieder sehen sollte, war er glücklich, sie noch ein letztes Mal umarmen zu dürfen.
Seine und ihre Tränen vermischten sich, fielen lautlos auf das vom Morgentau feuchte Gras. Ein Windstoß kam auf und der Geist Miyukis löste sich wie ein Schleier in den Armen des Fischers auf.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.03.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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