Lothar Krist

Ficken und gefickt werden

(Ein Zynikum aus dem sozialen Hinterland einer Aktenlage)

Rainer Irgendeiner, zu Hause kennt man ihn unter dem Spitznamen „Speedy“, sitzt mir an der Seite seiner Frau gegenüber und erzählt mir einen Teil seines Lebens, den wohl wichtigsten auch noch dazu, ohne dass ich ihn danach gefragt habe. Er bricht einfach aus ihm heraus.

Sie nannten ihn Speedy, weil er früher die schnellste Vespa der ganzen Gegend sein Eigen genannt und er damit jedes Rennen gewonnen hat, bis auf einmal, da hat er eine Kurve falsch berechnet und ist glatt im die Straße begrenzenden Maisfeld gelandet. Ein schon fast ausgereifter Kolben hat ihm einen Schneidezahn leicht lädiert, ein Eckerl fehlt, aber äußerlich ist davon heute Nichts mehr zu sehen. Später ist ihm dann sein geliebter „Spitz“ geblieben, weil sich die Mädels bei ihm meist sofort hingelegt haben, sobald er nur seinem linken Gesichtsmuskel ein zartes Befehlchen anbefohlen hatte, für sein deshalb ein wenig schief wirkendes Alligatorgrinsen ein wenig mehr zu ziehen. Er kannte sein Gegrinse gut genug von seinen Übungen aus dem Spiegel und er liebte es ebenso sehr, wie er seinen Namen liebte, deshalb setzte er es immer auf, wenn er am „Anmachen“ war. (Nun versuchte er gerade mich „anzumachen“!) Er sah ein wenig aus, wie der junge Mickey Rourke, bloß seine leicht vorstehenden Zähne störten diesen ersten Eindruck ein wenig, aber nicht im negativen Sinn. Er wirkte sogar auf mich, der ich nicht gerade ein Männerfreund bin, nicht unsympathisch.

Ja, Speedy war stolz auf sein Nämchen, und seine Gemahlin war es auch. Und so schnell, wie Speedy hieß, so schnell zerlief ihm wohl auch sein ganzes, noch gar nicht so langes Leben aus den Fingern. Speedy fickte nämlich saugern und das wohl auch, ohne die nötigen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Das wurde mir schon klar, als ich erstmals den gut acht Zentimeter dicken Akt seiner Frau aufgeschlagen und ein wenig studiert hatte. Und während er erzählte, meist erzählte er, nickte sie dauernd bestätigend zu dem dazu, was er gerade sagte und sie sagte auch dauernd: „Ja, genau so war’s!“

Sandy Genausowars war zweiunddreißig Jahre alt, hatte drei Kinder, die alle schon aus dem allerallerärgsten Alter heraus waren: die ältere Tochter fast sechzehn, die zweite über vierzehn und der Junge so um die zwölf Jahre alt. Aus dem Akt konnte ich ersehen, dass sie wegen der ersten Tochter im fünften Monat schwanger, also verdammt jung noch, ihren ersten Mann geheiratet hatte. Doch der hatte vor etwas über zwei Jahren den berühmten Abgang gemacht. Der falsche Fuffziger hat doch glatt eine Jüngere gefunden, ohne Kinder und figurlich deshalb wohl noch voll in Schuss, obwohl Sandy trotz ihrer drei Kinder und nun wieder schwanger auch nicht gerade „ohne“ aussah. Sie hatte sich ganz gut gehalten. (Das mit dem „falschen Fuffziger“ konnte ich an der Scheidungsurkunde ersehen, die dem Akt beilag. Er hat nämlich alle Schuld für die Scheidung auf sich genommen und deshalb bis zur Heirat mit Speedy nicht nur für die drei Kinder einen schönen Batzen Alimente gezahlt.)

Verdammt! Wie hat der Ex doch voriges Jahr beim Feuerwehrball blöd geschaut, als sie dort in ihrem neuen rosa Ballkleid aufgetaucht ist. Ihre riesigen Dinger quollen dabei wirkungsvoll in alle Richtungen davon, so dass dort sämtliche Feuerwehrschläuche aus allen Hosennähten platzten, wow, wow, wow, und das auch noch mit Speedy, dem wildesten Hund aus der ganzen Gegend, und damals erst zwanzig Jahre jung, und Hand in Hand. Speedy war sogar zwei Jahre jünger, als die blonde Tussi mit ihren kaum sehbaren Knabentutterln an der Seite ihres Ex. Wow, wow, wow, so einen Ball hatte sie noch nie erlebt. Ihr Ex ist dann bald mit seiner Tussi abgerauscht. Sie hat ihnen den schönen Ball versaut, Mensch Frau, war das nett!

Speedy war erst ihr zweiter Mann, so und so, und der erste ist ja schon immer, also eigentlich von Anfang an, ein echter Langeweiler gewesen. Keine Ahnung, wieso sie überhaupt auf diesen Ödling herein gefallen ist.

Mensch Frau, war dieser Ball geil, und dann auch noch ein paar andere. Sandy fing endlich an zu leben. Auch für Speedy war Alles in Butter. Er raste auf einmal nicht mehr mit seinem roten BMW durch die Gegend. Er hielt die vorschriftsmäßige Geschwindigkeit ein, und das Eigenartige dabei war, er musste nicht einmal daran denken. Der Geschwindigkeitsrausch ging ihm nicht ab, kein bisschen. Und es störte ihn auch gar nicht, wenn ihn seine alten Freunde wegen seiner „neuen Mama“ hänselten. Scheiß drauf! Aber er hörte mit dem Fußball spielen auf und ließ sich am Stammtisch nicht mehr so oft blicken. Er hatte Sandy gefunden und somit wohl auch sich selbst. Er war rundum glücklich.

Doch verdammt! Damals wusste er noch Nichts von der absoluten Supersuperscheiße, die nun bald über sie hereinschwappen würde. Auch Sandy wusste das noch nicht, Sandy schon gar nicht. Denn ein paar Wochen, bevor sie sich auf dem immer wieder geilsten Sommerfest des Jahres in ihrer Gegend kennen gelernt hatten, da war Speedy wieder einmal auf Montage, und zwar in Lech am Arlberg. Der Einsatz dauerte durchgehend drei lange Wochen, also zwei kurze Wochenenden inklusive. Sie durften nicht nach Hause fahren, sie mussten auch am Samstag arbeiten, denn die Firma war ihren Auftraggebern gegenüber leicht in Verzug. Aber egal, es gab dafür einen schönen Bonus, der mehr als nur angemessen war, und den er neben ein paar anderen für die baldige Hungerzeit beim Bundesheer auf die Seite legen wollte. Und das Wetter spielte auch toll mit. Der Sommer 2003 war ja nicht umsonst ein Jahrhundertsommer.

Die Wochenenden hatten es jedenfalls in sich. Big Saufing war angesagt. In ihrem Vier-Sterne-Hotel - seine Firma ließ sich da nie lumpen - war ein ganzer Haufen Urlauber und natürlich auch Urlauberinnen aus aller Herren Länder einquartiert. Selbst ein paar ganz wichtige Cowboy-Hüte aus Texas stolzierten dort herum. In den Revolvergürteln hatten sie aber nur ihre Wasserpistolen, made in China by little children, eingesteckt, mit denen sie dauernd wild in der von der Höhensonne aufgeheizten Gegend herum spritzten, während sie dazu laut Bumm-Bumm machten, so als wären ihre Wasserstrahlen lauter laut detonierende Hellfire-Raketen und der ganze Arlberg ihr eroberter Irak. Auch Speedy und seine drei Kollegen wurden mehrmals beschossen, was aber nicht weiter gestört hat, sie lagen ja mit der Badehose auf den Liegestühlen vor dem schönen, großen Pool in Herzerlform herum.

Na ja, jedenfalls hat Speedy gleich am ersten Freitag eine hungrige dreißigjährige Deutsche aus Plattland angemacht, die im Gegensatz zu ihrer Gegend gar nicht platt war. Bei der war echt Alles dran und auch noch echt. Diese Supermama hat nach ein paar eisgekühlten Spritzern auf der Hotelterrasse auch gleich ganz, ganz weit aufgemacht für Speedy. Den halben Samstag und den ganzen Sonntag lang lag er dann mit ihr irgendwo weit oben in der schönen Berglandschaft auf einem einsam hohen Felsen. Die Aussicht war grandios, so und so. Einmal lag er oben, dann sie, dann wieder er, dann wieder sie, und seitlich hintereinander lagen sie natürlich auch. Sie haben Alles ausprobiert, was es so zum Ausprobieren gab, und sie hat ihm dabei auch ein paar gefinkelte Sacherln beigebracht, die er noch gar nicht gekannt hatte. Und das über zwei Tage und zwei Nächte lang, denn es hat ja schon im Hotelzimmer am Freitag angefangen. Alles tat ihnen dann schon weh – am Sonntag Nachmittag.

Egal. Und trotzdem war das Wochenende irreirre schnell vorbei. Er hielt sie am Bahnhof fast eine ganze Stunde lang in den Armen. Sie hat geheult, wie eine Hündin, deren Herrchen gerade verstorben ist, und auch sein Herz schmerzte fürchterlich. Sie hat dauernd gemeint, dass sie so Etwas noch nie erlebt hätte. Wow, er ehrlich gesagt auch noch nicht. Und dann war sie weg.

Sie haben dann zu viert die ganze Woche wieder schwer geschuftet, in der Früh aus den Federn um halb sieben, jedes Mal ein Mörder-Gaudi-Frühstück mit Bahöö an einem gar nicht zivilisierten, weil unter anderem auch texanisch lärmend okkupierten, jedoch mehr als nur reichhaltigen Vier-Sterne-Buffet. Dann Robotnik von acht bis meist zweiundzwanzig Uhr, und das auch noch bei der mörderischsten Hitze, die Speedy je erlebt hatte. Dafür würden sie dem Chef auch noch den ganzen Samstag in Rechnung stellen, dabei an diesem Tag aber mit Sicherheit außer Rohre verlegen Nichts mehr tun.

Verdammt! Und genau so kam es dann auch. Es wurde wieder ein irreirre geiles Wochenende. Sie hatten sich schnell geduscht und saßen im Raucherabteil des Hotel-Restaurants. Sie speisten natürlich a la carte. Es war schon nach zweiundzwanzig Uhr. Da kam sie alleine ins Lokal. Gina Lollobrigida war wieder auferstanden, und das auch noch in edel ausgeformten zwanzig Jahren. Sie war megaheiß, und hieß auch so: Gina Maserati! Wow! Kein Schmäh, sie hieß tatsächlich so (siehe Blatt des Aktes soundso, hihihi). Und genau so geil, wie dieser italienische Rennschlitten, fuhr sie auch mit ihnen allen weg. Eben Maserati-mäßig. Kaum war Einer mit ihr fertig, da hat sie schon nach dem Nächsten verlangt. Immer und immer wieder, das ganze Wochenende lang, von Freitag bis Sonntag. Ob sie zwischendurch geduscht haben, das weiß er heute nicht mehr. Sie waren ja vom Big Saufing alle Fünfe den-Deppen-ohne-Gummi-einistecking-dicht.

Na ja, egal. Wie schon gesagt, kurz darauf hat er dann seine Sandy kennen gelernt, die so einsam war, und dieses Lech am Arlberg hat er dann bald vergessen. Sie haben dann schnell geheiratet, natürlich nur, weil sie sich so sehr geliebt haben, und dann kam Speedy zum Bundesheer. Eine verlorene Zeit. Na ja, so verloren auch wieder nicht. Es war ja ganz lustig dort, und doch verloren irgendwie. Wenn die nur besser zahlen würden, verdammt! Sie haben von Sandys gar nicht mal so schlechter Notstandshilfe (in Deutschland Arbeitslosenhilfe), von ihrem schönen Unterhalt, der Kinderbeihilfe mal drei, und von seinen Ersparnissen gelebt. Und das Bundesheer hat natürlich auch noch zu ihrer aller gemeinsamen Wohlergehen ein wenig beigetragen. Für Verheiratete gibt es da ja einen schönen Zuschlag. Das war ja auch einer der Gründe, weshalb sie sich so schnell zu diesem Schritt entschlossen haben. Man sieht: dieser Schritt war mehr als nur gut überlegt. Dumm sind Speedy und Sandy also nicht.

Speedy und Sandy waren glücklich, und das sogar, obwohl sie sich nur zu den Wochenenden sehen durften. Ein neuer Sommer zog ins Land. Er ließ sich saugut an, und das sogar, obwohl er nicht so heiß war, wie der letzte.

Da kam Ende Juni der Hammer Nummer Eins. Eine Unterhaltsklage flatterte ins Haus. Speedy kam am Freitag Abend müde nach einem zweitägigen Manöver nach Hause. Er roch es schon im Vorhaus: Verdammt! Im Stiegenhaus kochte eine unheimliche Stille voller Wut. Er sperrte die Wohnungstüre auf. Verdammt! Da brach das pure Leben über ihn herein in der verheulten Gestalt von seiner Frau.

„Du Drecksau, du! Du hast ein anderes Weib gefickt! Du Schwein hast mich betrogen!“ Und und und …. und so fort. Man kennt das ja! Das Leben spielt ja oft genug verrückt. Speedy kannte sich nicht aus, überhaupt nicht, er hatte ja keine Ahnung von Nichts. Doch irgendwann hat sie ihm dann die gelbe Verständigung der Post vom Blauen Brief gezeigt. Der Briefträger hat zu ihr gemeint: Es könne sich bei dieser Behörde nur um eine Unterhaltsforderung handeln. „Und erzähl’ mir ja nicht irgendeinen Schmäh, du Sau. Die Briefträger kennen sich da aus.“

Und verdammt! Der Briefträger hatte Recht. Wochenende Nummer Eins am Arlberg hat zwar nur seinen Vornamen gekannt, doch sie hat ihn ganz leicht über seine Firma ausgeforscht. Nein, nein und noch mal nein! Das kann nicht sein! Dieses geile Luder hat doch zu ihm gesagt, er bräuchte sich keine Sorgen zu machen, sie nehme eh die Pille. Shit! Und irgendwann kam dann der ominöse Vollstreckungsbefehl, weil er sich nicht gerührt hat. Er dachte ja, das kann nicht sein und der Albtraum wird mit Sicherheit vorübergehen. Er ging nicht: satte hundert Euros. Das Bundesheer hat sogar die ersten zwei Monate davon bezahlt, wir leben ja in Gutmenschenland. (Inzwischen wurde der Unterhalt dem Gehalt angepasst und auf einhundertachtzig Euros erhöht.)

Gerade mal vom Schock erfangt, Sandy heulte nicht mehr stundenlang, da kam ein zweiter Blauer Brief. Der sah genau so wie der erste aus, war auch von derselben Behörde, und schlug bei ihm zu Hause wie eine von diesen irreirre geilen DU-Bomben ein (von denen Sandy und Speedy nicht einmal wussten, dass es diese neue Art von Atomwaffen schon seit gut einem Vierteljahrhundert gab. Na ja, egal. Die Menschen zur Nazizeit haben ja auch Nichts von den KZ’s und vom Gas gewusst. Also was soll’s?).

Das saugeile zweite Blaue Bömbchen verstrahlte ab nun ihren ganzen Alltag. Einhundertdreißig Euros. Man sieht: Italien ist eindeutig billiger, als unsere deutsche Verwandtschaft. Natürlich hat Speedy sofort einen Einspruch gemacht, schließlich hat er den neuen Erdenbürger ja nicht alleine gemacht. Aber einstweilen pfändet man mal sicherheitshalber seinen Gehalt. Die Wochenenden gerieten für Speedy zur unendlich langen Qual. Er rüstete dann Anfang September still und leise ab. Zum Feiern mit seinen Kameraden fehlte ihm aber jede Lust auf Spaß. Und zu Hause ließ sich Sandy von ihm nicht mehr anfassen. Also bat er seinen alten Chef um einen sofortigen mehrwöchigen Arbeitseinsatz im Ausland. Und siehe da: es gab noch immer Unmengen von Funktürmen und Handymasten zu bauen. Er baute also einen, floh schon am ersten Montag in die Schweiz auf einen Berg und versuchte dabei, nicht allzu oft an Sandy und seinen unerhofften Nachwuchs zu denken.

Und siehe da: als er den ersten Gehalt nach Hause brachte, da hatte sich seine Sandy wieder etwas beruhigt. An diesem Wochenende ließ sie ihn erstmals wieder nach ix Wochen an sich ran. Sie waren danach beide so k.o. und sooo glücklich, na ja fast, fast so, wie beim ersten Mal. Und ein paar Wochen darauf hatte sie sich wieder völlig eingerenkt. Sie glaubte Speedy seine Geschichten von Lech am Arlberg, denn von den Geburtstagen der Kinder kam es ungefähr hin. Er ist ihr also nicht untreu gewesen. Braver, braver Speedy. Und sie kannte ja das Leben, das auch zu ihr schon so oft so grauslich war. Da mussten sie nun gemeinsam durch.

Speedy fuhr also einige Wochen wieder voll Vorfreude auf das nächste Wochenende auf Montage. Doch gefickt hat er dabei nicht mehr, er hat sich zurückgehalten. Er wusste ja inzwischen: so ein dreiwöchiger Funkturmbau reicht manchmal für ein ganzes Leben.

Da kam wieder einmal ein Wochenende heran. Er öffnete die Haustüre. Verdammt! Im Vorhaus brandelte die Luft, obwohl nirgendwo in der Nähe ein Feuer war und auch keines gewesen ist. Es roch wie die beiden ersten Male. Ja, es stank geradezu danach. Am Liebsten hätte er gleich auf seinem Absatz kehrt gemacht. Ab in die Firma, ab zum Chef, ein Kniefall, ein tränenreiches Flehen: „Hey du, Chef, hab’ Erbarmen mit mir und gib mir, bitte, sofort deinen beschissensten Auslandeinsatz, den du hast.“ „Irak!“ „Irak? Shit! Wieso Irak?“ „Na, dort gibt es wieder Funktürme und Handymasten zu bauen en masse!“ „Okay!“

Aber Speedy kehrte nicht auf seinem Absatz um. Er überredete sich zur heldenhaften Tapferkeit. Er wollte seine Sandy sehen. Verdammt! Er liebte sie ja sooo sehr, verdammt! Und vielleicht irrte er sich ja auch? Vielleicht hat es ja wirklich wo gebrannt? Also gab er sich einen doch irgendwie speedlosen Schubs und trat ein.

Totenstille! Die Küche leer. Wohnzimmer leer. Keine Sandy weit und breit. Doch Grönemeier, die einzige Leidenschaft seiner Sandy, die er hasste – er stand auf Rap und Techno, heulte gerade sehnsuchtsvoll in deutschem Schmalz ganz leise aus den Boxen. Die Schlafzimmertüre stand offen. Er schlich sich auf leisen Sohlen an. Aus dem Schlafgemach leiste gerade noch hörbar ein zittriges und so erbärmlich erbärmliches Schluchzen.

Ein tapferer Schritt zur Tür hinein: „Hey, Liebes! Was ist denn los?“ Und dann brach wieder einmal die Hölle über unseren armen Speedy herein. Speedy verstand kein arabisch. Ihre Worte ertranken im tränenreichen Schluchzen. Er verstand nur ein Wort: Geld, dann wieder: Geld. Er dachte: nein, nein, nein, das kann nicht sein. Nicht schon wieder eine neue Unterhaltsforderung. Er dachte nach. Er dachte hin, er dachte her. Verdammt! Ihm fielen keine Möglichkeiten ein. Wenn, dann mussten sie ganz, ganz weit zurückliegen. Nein, das muss ein Irrtum sein.

Da zeigte sie ihm endlich den Bescheid vom AMS (Arbeitsmarktservice – in Deutschland: Arbeitsamt). Darauf stand geschrieben: „Sie bekommen ab ersten Oktober keine Notstandshilfe mehr.“ Begründung: „Auf Grund des hohen Einkommens des Ehegatten im September besteht keine Notlage mehr. Notlage ist eine unbedingte Voraussetzung für den Bezug von Notstandshilfe.“

Verdammt! Speedy hatte im September zu viel verdient. Sein Gehalt wird auf die Notstandshilfe seiner nun wirklich armen Sandy angerechnet. Shit! Und doch: irgendwie fiel ihm ein Stein vom Herzen. Puuuuuhhhh! Das war eng! Und doch: Verdammt! Dieses Österreich ist nun wirklich kein Sozialstaat mehr.


Und ich, ich armer und von unseren noch viel, viel ärmeren Kunden und Kundinnen schon so oft aufs Gröbste beschimpfter, ja bespuckter, ja sogar schon des Öfteren tätlich angegriffener Angestellter von diesem AMS, oh, ich habe wirklich Alles versucht, um zu helfen. Ich bin ja sozial eingestellt. Aber so einen irreirren Akt hatte ich echt noch nie auf dem Tisch. Eine Freigrenze für Speedy, den Ehegatten, sechs Freigrenzen für die Kinder, eine Freigrenzenerhöhung für die erhöhte Kinderzahl, eine Freigrenzenerhöhung für die Schwangerschaft – Sandy bekommt ja im Frühling wieder ein Kind, natürlich von Speedy, so viel ist bei so viel klar ersichtlicher Liebe klar. Und trotzdem ging sich keine „Notlage“ aus.

Sechs Freigrenzen für die Kinder? Ach ja, etwas ganz, ganz Wichtiges hätte ich jetzt fast noch vergessen, bei diesem Kuddelmuddel-Fall! Speedy hat noch ein Kind. Das ist ihm schon im Alter von siebzehn Jahren passiert. Echtes Pech halt, wie er ganz offen zu mir gemeint hat. Einmal auf einer Party da war halt nicht kein Mal. Na ja, was soll’s? Schicksal! Für eine Tochter, die er noch nie gesehen hat, zahlt er auch noch hundertvierzig Teuros.

Sie kamen dann eines Tages urplötzlich, also ihrem Chaosleben entsprechend völlig unangemeldet am späten Nachmittag in mein meist völlig ruhiges Büro hereingeschneit, ich wollte eigentlich schon nach Hause gehen, es war schon weit nach sechzehn Uhr, und haben mir dann im Laufe der Einvernahme und Aufnahme der Niederschrift brühwarm und ohne Aufforderung meinerseits Alles erzählt. (So ergeht es mir allemal, so als wüssten die Leute, wie sehr ich armer Dichterling diese Geschichten aus dem puren Leben liebe.)

Sie hatten Gott sei Dank (oder auch nicht) einen hohen Kredit. Laut Bank leider nur aufgenommen für eine „Kontoabdeckung“. Nein, diese Begründung geht nicht. Eine weitere Freigrenzenerhöhung gibt es nur für Wohnraumbeschaffung. Doch halt: ich bin ja ein heller Kopf! „Habt Ihr vielleicht eure neue Wohnung einrichten müssen? Kommt daher die Kontoabdeckung? Habt Ihr vielleicht noch die Rechnungen vom Möbelkauf und so?“ „Ja, ja, ja, haben wir!“ schossen beide unisono wie aus einem doppelläufigen Jagdgewehr.

Ich war glücklich. „Okay, schickt mir diese Rechnungen in Kopie vorbei. Ich werde sehen, was ich machen kann.“ Ein Haufen Rechnungen kamen dann bald an. Schlafzimmer, Wohnzimmer, zwei Kinderzimmer, Küche, Vorzimmer, Bad, Regale und eine Kommode und wer weiß, was noch. Doch verdammt! Die dreitausendsechshundert Euros netto von seinem Gehalt im September brachte ich nicht weg. Der Gesetzgeber sagt dazu: das ist keine Notlage mehr. Und so blieb der Anspruch auf Notstandshilfe eingestellt.

Na ja, wenn es der Gesetzgeber sagt! Ich bin ja ein braver Gutmenschenbehördenbürokrat. Ich muss also verstehen. Das Leben kann manchmal echt beschissen sein. Du fickst es, fühlst dich auch noch sauwohl dabei, denkst an nichts Schlechtes und: Peng! Peng! Peng!

Ficken und gefickt werden liegen eben oft enger beisammen, als uns das manchmal lieb ist.

© Copyright by Lothar Krist (2./3.2.2005 von 22.30 – 2.10 Uhr im Smaragd)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.02.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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