Trixi
Ich möchte euch erzählen, die Geschichte von Gudrun und Stephan, wie sie sich verliebten, verlobten und verheirateten, Kinder zeugten und gemeinsam glücklich alt wurden. Mein Name ist Mark, Chronist am Hofe Baldurs des Dritten.
Meine Frau Birgit, Köchin für unseren Herrn, lernte Gudrun bereits in der Schule kennen. Immer wieder erwischte man sie beim Spielen in den königlichen Stallungen. Eines Tages hatte Gudrun mal wieder das Pony Trixi gesattelt und wollte gerade durchs Burgtor traben, welches Birgit ihr geöffnet hatte. Da entdeckte eine der Wachen die Beiden und brüllte lauthals: „Halt!“ Das war zuviel für das arme Pony. Es stieg und galoppierte in die entgegengesetzte Richtung die königliche Freitreppe hinauf und hinein in die Burggemächer.
Es gab einen schrecklichen Tumult. Birgits Mutter, die gerade dass Tablett voll mit dem kostbaren königlichen Teeservice hatte, stürzte zu Boden und das laute Scheppern scheuchte Trixi bis in die Bibliothek. Direkt in die Arme Baldurs. Er ergriff die Zügel von Trixi und brachte sie zur Raison. „Jungfer Harto, was hat das zu bedeuten?“
Gudrun war völlig irritiert. Nicht nur wegen Trixi, sondern man hatte sie, Tochter des Hofschlachters Harto, noch nie eine Jungfer geheißen. „Ich, ... äh... die Wach...“ Und nach einem kurzen Blick in Baldurs Augen nuschelte sie: „schuldigung!“, und senkte den Blick. „Das schlägt dem Fass nun aber doch den Boden aus, wertes Fräulein. Hättest du die Güte abzusteigen?“ Gudrun tat wie ihr geheißen und blickte verschämt zu Boden.
Inzwischen standen auch Birgit und ihre Mutter in der Tür, Birgit mit hochrotem Kopf und einer glühenden linken Wange und Tränen, die ihr in den Augen standen. „Wie gedenkst du für den Schaden aufzukommen? Nicht nur, dass du mein Familienporzellan zerschlägst, nein, außerdem hat sich Trixi verletzt.“ Gudrun riss die Augen auf und tatsächlich, Trixi lahmte. Auf der Treppe muss sie wohl abgerutscht sein.
Besorgt kniete sie nieder und befühlte den Knöchel des Ponys. So sah sie nicht, wie der König lächelte. Als sie wieder aufstand, blickte sie in die versteinerte Miene des Königs. „Nun?“ Wie ein einziges Wort einem doch den Magen umdrehen kann. Birgit wurde schon ganz schlecht und das, wo sie doch gerade noch gesehen hatte, wie der König lächelte. Wie mochte es da erst Gudrun gehen.
„Trixi... das Pony... es ist nicht schwer verletzt. Ein paar Tage Ruhe und Pflege und sie ist wieder gesund.“ „Soso“, brummelte der König, „und wer bitte soll das Pferd pflegen? Der Hofstallmeister ist ja offensichtlich bereits jetzt schon überlastet, sonst hätte er dich ja aufhalten können.“ „Ich... ähm...“, fing Gudrun an, als der König sie auch schon wieder unterbrach: „Du? Eine glänzende Idee. Du wirst Dich um Trixi kümmern.“
„Aber...“ Gudrun stockte, als sie das Blitzen in des Königs Augen sah. Birgits Mutter ergriff sie bei der Hand und machte einen Knicks. „Ganz wie sie befehlen, Majestät!“, sagte sie und warf Gudrun und Birgit einen scharfen Blick zu. Hastig knicksten auch Gudrun und Birgit und sagten wie aus einem Mund: „Ganz wie sie befehlen, Majestät!“ Rückwärts schreitend verließen sie die Bibliothek gefolgt vom Hofstallmeister, der inzwischen gekommen war und Trixi hinausführte.
Gemeinsam gingen sie zum Stall. Gudrun nahm Trixi Zaumzeug und Sattel ab, während der Hofstallmeister in einem Eimer einen Kräutersud vorbereitete. Birgit wurde von ihrer Mutter mit zur Küche geschleift, wo sie zwei Pfund Zwiebeln schälen und kleinschneiden musste.
Derweil striegelte Gudrun Trixi und legte dann einen Verband mit im Kräutersud vorbereiteten Binden an. Abends, als Birgit Gudrun eine Zwiebelsuppe brachte, fragte Gudrun den Hofstallmeister, ob sie über Nacht bleiben könne. Er lächelte und stimmte zu. Ein Diener wurde zu Gudruns Eltern ins Dorf geschickt, um ihnen Bescheid zu geben.
Auch Birgit durfte bei Trixi bleiben und so verbrachten Gudrun und sie eine Nacht im Stall und wechselten ständig die Umschläge für Trixi. Mit Erfolg. Bereits am nächsten 'Tag konnte Trixi sich wieder im Schritt bewegen, ohne nennenswert zu lahmen. Selbst der Hofstallmeister war erstaunt und gratulierte den beiden Mädchen.
Nach einer Woche, Gudrun kam jeden Tag zur Burg, war Trixi die Verletzung nicht mehr anzumerken. Zum Training für die Gelenke hatte Gudrun Trixi sogar ein paar Tricks beigebracht. So sah Baldur am Ende der Woche, als er Gudruns Erfolge sehen wollte, wie Trixi ohne zu scheuen über eine Wippe ging oder mit den Vorderhufen auf einer Schubkarre diese vorwärts schob. Baldur applaudierte und zu seinem erneuten Erstaunen machte Trixi einen Knicks. Baldur lachte, bis ihm die Tränen in den Augen standen.
Fast väterlich legte er die Hand auf Gudruns Schulter. „Toll, Gudrun, einfach toll. – Heinrich?“, wandte er sich an den Hofstallmeister, „Heinrich, was hältst Du davon, wenn wir die Kleine in Lohn und Brot nehmen?“ Seinem Strahlen musste Heinrich nichts mehr hinzufügen und so wandte sich Baldur wieder an Gudrun: „Gudrun, hättest du Lust ab heute als Stallbursche für Heinrich zu arbeiten? Ich würde Dir 60 Heller pro Tag bezahlen.“ Gudrun strahlte vor Freude und brachte keinen Ton heraus. Ihr Mund öffnete und schloss sich, aber letztendlich nickte sie eifrig und bekam gerade noch ein ‚Danke‘ über die Lippen.
So begann für Gudrun eine wundervolle Zeit. Von Heinrich, sie dufte ihn inzwischen so nennen, lernte sie alle Tricks im Sattel und zu ihrem sechzehnten Geburtstag bekam sie von Baldur ein Pferd geschenkt. Es war eine rassige Stute namens Lunewunder. Heinrich hatte sie so getauft, weil ihre Mutter sie gebar, als die Herde gerade durch den nahen Fluss, die Lune getrieben wurde. Wie durch ein Wunder schaffte es Lunewunder nicht zu ertrinken und Heinrich war damals um so erstaunter, als anstatt der sieben Pferde plötzlich acht Pferde aus der Lune wieder heraus kamen.
Gudrun lernte von Heinrich das Ring- und das Springreiten. Gerade beim Ringreiten entwickelte sie so viel Talent, dass sie die Dorfjugend bald meilenweit hinter sich ließ. Zu Ausflügen mit Birgit hatte sie schon lange keine Zeit mehr. Aber abends blieb immer noch etwas Zeit, dass sie sich oben auf dem Heuboden an die Luke setzten und ihre Beine im Wind baumeln ließen. Birgit brachte immer ein paar Leckereien aus der Küche mit und immer auch für jeden eine Tasse Kakao mit Sahnehaube.
Und dann sprachen beide über Gott und die Welt. Oder auch eher über Jungs und die Welt. – Vielleicht auch aber eher nur über Jungs. Sie diskutierten darüber, wie ihr Traummann aussehen solle: „... muskelbepackt, dass jedes Leibchen beim Muskelspannen zerreißt...“ „Hach, ja“, warf dann eine von beiden meist als Diskussionsargument ein. Oder sie lästerten, was das Zeug hielt. Auch hier am liebsten über die Jungs aus dem Dorf. Kein gutes Haar ließen sie an ihnen und es war klar, dass ihre Traummänner definitiv nicht in diesem Dorf zu finden waren.
Ringreiten
Es war kurz vor Gudruns zwanzigsten Geburtstag, als ihr erstes überregionales Ringreiterturnier stattfand. Zu diesem Anlass bekam sie von Baldur Kleidung in den Wappenfarben seines Hauses geschenkt: Grün und Weiß. Auf dem grünen Umhang war ein weißes Pferd über zwei Wellen, umrahmt von 21 weißen Punkten, die im ursprünglichen Wappen Nägel darstellen sollten. Hose und Bluse waren weiß mit grünen Streifen längsseits.
Sogar ein Turnierzelt erhielt Gudrun, ganz wie die Ritter. Heinrich und Birgit standen ihr zur Seite. Birgit brachte die silbernen Knöpfe an Gudruns Bluse zum Glänzen, während Heinrich jede Schnalle am Sattel und am Zaumzeug zum Blitzen brachte. Gudrun striegelte Lunewunder bis ihr Fell nur so glänzte und flocht kleine Schleifchen in Mähne und Schweif.
Und dann spielten die Trompeter auf. Baldur hieß alle Gäste herzlich willkommen. Gudrun saß auf, und Birgit kontrollierte den Sitz von Gudruns Kleidung, während Heinrich ein letztes Mal alle Gurte straff zog. Lunewunder scharrte ungeduldig mit den Hufen. Dann wurden die ersten Reiter und Reiterinnen aufgerufen. Jeweils zu sechst trabten sie zur Tribüne und grüßten Baldur. Gudrun gehörte zur zweiten Gruppe, was ihr Gelegenheit gab, sich die ganze Prozedur erst einmal anzusehen.
Das beruhigte sie allerdings ganz und gar nicht, da sie sah, wie sich bei einem Reiter die Fahne von der Lanze löste und vom Wind direkt in Baldurs Gesicht geweht wurde. Baldur ergriff die Fahne und befahl mit schroffer Stimme: „Knappe Weiß, kommen sie vor!“ Birgit konnte ob des trefflichen Namens nur lächeln. Tatsächlich war das Gesicht des jungen Reiters nun kreideweiß. Das Lächeln verging ihr aber, als sie das Entsetzen in Gudruns Augen sah. Hastig, um Gudrun zu beruhigen, kontrollierte sie die Befestigung der Fahne an Gudruns Lanze noch einmal. Jedoch nicht, ohne immer wieder einen Blick zur Tribüne zu werfen.
Knappe Weiß war inzwischen bis an die Tribüne heran getrabt, hielt den Blick jedoch beständig gesenkt. „Senkt die Lanze, Knappe Weiß!“, erklang Baldurs kräftige Stimme. Knappe Weiß hob den Blick und senkte wie befohlen die Lanze. Baldur ergriff sie. – Es war totenstill auf der Tribüne und auf den Rängen. Dann befestigte er die Fahne wieder an der Lanze und blickte schließlich Knappe Weiß an. Dieser hob die Lanze und die Fahne wehte fröhlich im Wind. Die Erstarrung wich aus dem Publikum und aus den Reitern. Ein tosender Applaus setzte ein und ein breites Lächeln verschaffte sich Platz auf Baldurs Miene. Knappe Weiß neigte den Kopf zum Gruß und ließ sein Pferd rückwärts wieder in die Reihe zurücktreten. Es mag schon hier gewesen sein, wo Gudrun ein nicht nur neugieriges Auge auf den Knappen Weiß geworfen hatte. Auf jeden Fall merkte man, wie sich ihre bewundernden Blicke auf ihn hefteten.
Das Ringreiten fand auf zwei Bahnen statt. An jeder Bahn standen sechs Ringbäume. Sie hatten die Form von Galgen: ein senkrechter Stamm, darüber gelegt ein waagerechter und diagonal einer zur Stabilisierung. Am Ende des waagerechten Balkens hing jeweils an einem dünnen Faden befestigt ein Ring. Gegen Ende der Bahn wurden die Ringe immer kleiner. Die ersten waren einen Spann groß, die letzten maßen im Durchmesser nicht einmal mehr als eines Daumen Länge. Die letzten Ringe waren aus Gold und waren ein zusätzliches Preisgeld, für alle, die sie stechen konnten. Der Hauptpreis indes war ein stattlicher Hengst aus Baldurs Stall. Attila war sein Name.
Während eines Ganges im Turnier ritten zwei Reiter gegeneinander. Es galt im Galopp mit Lanzen so groß wie in den Ritterturnieren die Ringe zu stechen, so dass sie auf der Lanze blieben. Die Ringe hatten jeweils einen Wert von 1 bis 12: 1, 2, 3, 5, 8, 12. Mathematisch Interessierte werden feststellen, dass Baldur ein wenig abergläubisch war.
Um den ganzen Ablauf noch spannender zu machen, gab es am Ende der Bahnen eine Ziellinie. Der Reiter, der sie zuerst überquerte, beendete damit den Gang, so dass gegebenenfalls der zweite Reiter keine Chance mehr hatte alle Ringe zu stechen. Welcher der beiden Reiter die meisten Punkte hatte, war eine Runde weiter.
Zunächst ritten die vier Sechsergruppen untereinander. In der ersten Runde schieden drei Reiter aus. Von den übrigen drei war der Punktführende bereits weiter. Die beiden anderen mussten noch gegeneinander antreten. Nur falls es zwei Führende gab, standen damit auch automatisch die Sieger der Gruppe fest. Ansonsten führte Punktgleichheit zu einem Gang mit einem einzigen goldenen Ring. Wer von den beiden Reitern ihn zuerst stechen konnte, war weiter. Da es hierbei oft zu unschönen Szenen kam, erhielten beide Gegner jeweils einen Schild. Schließlich starteten im Achtelfinale acht Reiter. Die Paarungen waren so ausgeklügelt, dass zwei aus einer Gruppe erst wieder im Finale aufeinander treffen konnten.
Gudrun hatte eine Chance, Knappe Weiß entweder im Achtelfinale oder im Finale zu begegnen. Diese Gedanken machte sich Birgit. Aber auch hinter Gudruns Stirn schien es heftig zu arbeiten. Tatsächlich schaffte Knappe Weiß den ersten Gang, allerdings nur knapp. So musste er auch im zweiten Gang antreten. Er verließ sich auf die Geschwindigkeit seines Pferdes und seine Treffsicherheit. Er ignorierte alle Ringe und fixierte den einen goldenen Ring am Ende der Bahn. Und tatsächlich klappte es. Er stach den goldenen Ring und überquerte die Ziellinie, als sein Kontrahent gerade den Fünf-Punkte-Ring stach. Damit stand es 11:12 und Knappe Weiß war eine Runde weiter.
Dann war Gudrun an der Reihe. Sie biss sich auf die Lippen, bis Baldurs Taschentuch, welches er als Zeichen zum Start hatte fallen lassen, den Boden berührte. Danach verschmolz sie mit Lunewunder zu einer Einheit und stach die ersten fünf Ringe. Den goldenen Ring verfehlte sie. Trotzdem reichte es zum Sieg, ja sie war sogar damit gleich im Achtelfinale, da kein weiterer neunzehn Punkte erreichte.
Im nächsten Gang trat sie gegen den Sohn eines Pferdezüchters an. Sie stellte gleich fest, was für ein gut gewachsenes Tier sein Pferd war. Der Junge hingegen beeindruckte sie nicht im Mindesten. Höchstens negativ. Er kaute auf seinen Nägeln, was wohl daran lag, dass sein Vater ihn mehr als scharf beobachtete. Und er liebte es mit seiner Gerte wie wild in der Gegend herum zu schlagen. Das Taschentuch fiel und Gudrun preschte los. Wie sie erwartet hatte, war das andere Pferd schneller. Dafür traf der Junge die Ringe mehr schlecht als recht. Doch Gudrun holte auf und so knallte der Junge seinem Pferd die Gerte auf die Flanke, dass es nur so knallte. Das Pferd machte einen Satz und die Lanze des Jungen verfing sich im Dreieck eines Galgens. Es knackte fürchterlich, als das Pferd weiter preschte und als erstes im Ziel ankam. Allerdings ohne seinen Reiter. Der lag am Boden mit mindestens einmal gebrochenem und auf jeden Fall ausgekugelten Arm. Sein Vater sprang über die Balustrade, rannte zu seinem Jungen und scheuerte ihm eine ins Gesicht, dass der Junge fast ohnmächtig wurde. Derweil war der Leibarzt von Baldur zur Stelle, hielt den Vater zurück und kümmerte sich um den Jungen. Auf einer Trage wurde er in sein Zelt getragen. Gudrun war somit im Halbfinale, wenn sie auch nicht gerade sonderlich glücklich über die Umstände ihres Sieges war.
Mit ziemlich gedrückter Stimmung kam sie zurück ins Zelt und bekam so nichts von Knappe Weiß' Sieg mit. Birgit holte drei Hefeschnecken aus ihrem Korb und einen Krug mit Milch. So stärkten sich die drei und tatsächlich zeigte die Hefeschnecke die von Birgit erhoffte Wirkung bei Gudrun. Schon beim zweiten Bissen biss sie herzhaft in die Schnecke und ein lang gezogenes ‚Mmmmh‘ unterstrich das Lächeln, welches auf ihr Gesicht zurück gekehrt war.
Im Halbfinale ritt Gudrun gegen ein Mädchen, das bereits auf dem Anreitplatz seine Talente eindrucksvoll zur Schau gestellt hatte. So konnte sie ihr Pferd reiten, während sie auf dem Rücken des Pferdes stand und anschließend noch einen Handstand machen. In Gudruns Augen leuchtete der Ehrgeiz. Nachdem nun alle vielleicht glaubten, sie sei nur durch pures Glück ins Halbfinale gekommen, wollte sie nun ihr Können unter Beweis stellen.
Lunewunder hob stolz den Kopf, als sie am Start standen und auf Baldurs Taschentuch warteten. Die Sonne ließ die Schnallen Lunewunders und Gudruns Knöpfe strahlen und blinken. Als Baldur sich erhob und das Taschentuch hervor holte, beugte sich Gudrun vor und flüsterte Lunewunder etwas ins Ohr. Was, haben wir bis heute nicht erfahren, aber man sah förmlich, wie sich daraufhin jeder Muskel in Lunewunder spannte.
Und dann explodierte Lunewunder wie ein Pfeil auf straff gespannter Sehne. Drei Ringe stach Gudrun ohne Probleme, der Vierte rutschte beinahe wieder von der Lanze, so dass Gudrun die Lanze kurz anheben musste, um ihn nicht zu verlieren. Jeder hatte daraufhin den fünften Ring für sie schon als verloren betrachtet. Doch Gudrun traf und der goldene Ring überlegte es sich nicht erst lange und ließ sich bereitwillig von Gudruns Lanze durchbohren. Erst auf den letzten Metern stellte Gudrun fest, dass das andere Mädchen gleichauf war. Umgekehrt schien es genauso zu sein und so trieben beide ihre Pferde nochmals an. Doch es half nichts: Beide kamen zugleich ins Ziel. Gudrun wirkte schon ganz deprimiert, als sie merkte, wie alle sie anstarrten. Und dann jubelte das Publikum. Gudrun hatte als bisher einzige im Rennen alle Ringe gestochen und somit natürlich auch das Halbfinale gewonnen.
Aus der Menge löste sich Knappe Weiß, schritt auf Gudrun zu und reichte ihr die Hand. Gudrun stieg ab, wirkte noch ein wenig benebelt und er gratulierte ihr: „Dann bis zum Finale!“ Knappe Weiß hatte es nämlich ebenfalls bis ins Finale geschafft, wenn auch nicht ganz so glanzvoll wie Gudrun.
Ein paar Schausteller sorgten für eine kleine Pause. Neben ein paar Tierdressuren zeigten sie Jonglage und einen Hochseiltanz. Gudrun, Birgit und Heinrich sahen nichts von alledem. Sie waren mit den Vorbereitungen für das Finale beschäftigt. Unaufgefordert sprach Gudrun die ganze Zeit kein Wort. Und wenn sie antwortete, dann meist nur einsilbig. Heinrich schob es auf das anstehende Finale. Doch Birgit wusste es besser. Gudrun war verliebt. Daher lästerte sie auch nicht über den Knappen Weiß, auch wenn ihr auf Anhieb mehr als ein Thema eingefallen wäre. Allein schon seine Lache... Birgit biss sich auf die Zunge.
Dann spielten die Fanfaren auf zum Finale. Gudrun und Knappe Weiß ritten erneut mit ihren Fahnen ein. Zunächst zu Baldur, dem sie nochmals einen Gruß entbrachten. Dann ritten sie einmal Seite an Seite um die ganze Ringbahn und präsentierten ihre Fahnen. Am Start angekommen entfernten die Gehilfen die Fahnen. Gudrun wandte sich zum Knappen Weiß: „Möge der oder die Bessere gewinnen.“ Knappe Weiß lächelte und nickte Gudrun zu. Dann erhob Baldur auch schon das Taschentuch. Und es fiel...
Gudrun und Knappe Weiß preschten los, als wenn der Teufel hinter ihnen her wäre. Ein Raunen ging durch das Publikum. Es wurde immer lauter, bis Gudrun und wohl auch dem Knappen Weiß auffiel, dass einer der Schiedsrichter die rote Fahne gehoben hatte: Fehlstart. Birgit selbst hatte es sehen können: Kurz bevor das Taschentuch auf dem Boden aufkam, erfasste es eine Windböe und trug es ein paar Meter mit sich fort. Und damit hatte es natürlich auch nicht zum Startzeitpunkt den Boden berührt.
Gudrun und Knappe Weiß mussten wieder an den Start. Man merkte, wie nervös beide waren. Spätestens daran, wie die Pferde reagierten. Nervös scharrten sie mit den Hufen und blähten die Nüstern.
Das Taschentuch fiel und schon erbebte die Erde unter den Galoppsprüngen der Pferde. Die Ringe schienen förmlich auf die Lanzen zu fliegen. Dann, beim vierten Baum nahm Gudrun wieder ein knackendes Geräusch war und Knappe Weiß war plötzlich nicht mehr neben ihr. Gudrun drehte sich besorgt um, doch Knappe Weiß schloss schon wieder zu ihr auf. Rasch konzentrierte sich Gudrun wieder auf den fünften Ring... und verfehlte ihn. Gudrun fluchte und trieb Lunewunder erneut an. Den goldenen Ring stach sie ohne Probleme und kam mit einer Nasenlänge Vorsprung ins Ziel.
Lunewunder und Gudrun schnauften. Gudrun hatte Seitenstechen und nur langsam realisierte sie die Menschen um sie herum. Birgit hatte ihr schon die Lanze abgenommen und Heinrich reichte Gudrun etwas zu trinken. Ganz in der Nähe wurden auch Knappe Weiß und sein Pferd versorgt. Als er merkte, wie Gudrun ihn anblickte, lächelte er erschöpft und zuckte mit den Schultern. Gudrun begriff erst, als sie seine Lanze sah: fünf Ringe. Und Punktgleichstand. Also würde es zum Stechen kommen.
Inzwischen verkündete Baldur, dass sich das Stechen wegen den Aufräumarbeiten um eine kurze Zeit verzögern werde. Derweil bat er die Schausteller noch ein paar von ihren Künsten zu zeigen. Gudrun runzelte die Stirn beim Wort ‚Aufräumarbeiten‘. Wieder zuckte Knappe Weiß mit den Schultern und wies mit einem verschämten Blick auf die Ringbahn. Am vierten Baum, oder besser da, wo er mal war, hatten sich ein paar Leute versammelt. Gudrun sah, wie sie den Baum weg trugen. Ein paar Zimmerleute reparierten die Eingrenzung der Bahn, während ein paar weitere den Unrat von der Bahn entfernten.
Als Birgit Gudruns Verwunderung sah, erklärte sie ihr, was passiert war: Der vierte Ring des Knappen Weiß wollte sich nicht lösen. Doch mit aller Gewalt hatte Knappe Weiß die Lanze festgehalten und so brach der Baum entzwei und gab schließlich den Ring doch noch frei. Nur verfehlte Knappe Weiß durch diese Aktion den fünften Ring.
Inzwischen war alles bereit zum Stechen. Knappe Weiß und Gudrun nahmen ihre Lanzen und Schilde und ritten zum Start. Wieder standen beide voller Anspannung da. Birgit zerquetschte sich fast beide Daumen. Auch Heinrich war die Anspannung anzusehen. Beständig kaute er auf seiner Unterlippe herum.
Das Taschentuch fiel und gleich bei den ersten Galoppsprüngen prallten die Schilde aneinander. Gudrun wurde fast vom Pferd gestoßen. Kurz vor dem goldenen Ring riss Gudrun plötzlich die Lanze hoch. Für einen kurzen Augenblick war Knappe Weiß irritiert. Kurz aber lang genug für Gudrun. Mit dem ganzen Körper legte sie sich in ihr Schild und rammte damit Knappe Weiß. Er geriet aus der Bahn und verfehlte den Ringbaum um mehr als zwei Ellen. Gudrun hingegen hatte ihre Lanze schnell genug wieder unter Kontrolle und traf.
Voll des Glücks streckte sie ihre Lanze empor, erhob sich aus dem Sattel und ritt ins Ziel. Der Applaus war ohrenbetäubend. Gudrun ritt zur Tribüne, entbrachte Baldur ihren Gruß und senkte die Lanze mit dem goldenen Ring. Baldur lächelte und Birgit meinte eine Träne in seinen Augen gesehen zu haben. Er hängte einen goldenen Lorbeerkranz über die Lanze. Gudrun hob die Lanze und der Kranz rutschte am goldenen Ring vorbei bis zu ihrer Hand. Sie nahm den Lorbeerkranz und setzte ihn sich auf den Kopf.
Dann wurde der Hengst Attila vorgeführt. Wahrlich, ihm steckte Feuer im Blut. Er war noch ganz jung und entsprechend unruhig reagierte er auf die Menschenmasse. Gudrun sprang von Lunewunder herunter und schritt auf Attila zu. Sie griff ihm ins Zaumzeug und streichelte sanft über seine weiße Blesse. Wie durch Zauberhand berührt, würde Attila ganz sanft und still. Sie führte Attila zur Tribüne, wo Lunewunder und Baldur sie bereits erwarteten.
Baldur gratulierte Gudrun und dankte allen Teilnehmern für ein spannendes Turnier. Wie ihm sein Leibarzt berichtet hätte, ginge es dem Knappen von Halster den Umständen entsprechend gut und werde morgen auf dem Ball bereits wieder dabei sein. Und in diesem Zuge möchte er alle Teilnehmer, Teilnehmerinnen und Gäste herzlich zum Ball morgen Abend einladen, wie bereits auf den Einladungen angekündigt.
See
Nur leider hatte Gudrun keine Einladung erhalten. Sie nahm an dem Turnier ganz automatisch und selbstverständlich teil, als Baldurs Schützling. Von einem Ball hatte sie bislang noch nichts gehört. Doch jetzt erklärte sich so einiges. Die Burg war noch nie so sauber gewesen und die Lager in der Küche noch nie so voll.
Und dann fiel ihr Birgits neues Kleid ein. Birgits Mutter hatte es letzte Woche fertig gestellt gehabt. Nach Baldurs Rede schwang sich Gudrun auf Lunewunder, riss sie herum und preschte zu ihrem Zelt, Attila brav hinterdrein. Sie sprang vom Pferd und wollte Birgit eine scheuern, doch Heinrich hielt ihren Arm fest: „Wir durften nichts sagen, Gudrun. Baldur hätte uns die Zungen herausgeschnitten.“ „Aber ich hasse Bälle, ich hasse Kleider... hätte ich das gewusst, hätte ich lieber verloren. Aber wie soll ich mich jetzt noch davor drücken?“ „Genau das war der Grund für Baldurs Verbot. Er wollte, dass Du alles gibst, um zu siegen.“
Beleidigt machte Gudrun kehrt und auch Birgit kochte vor Zorn und so schritten beide energischen Schrittes in entgegengesetzte Richtungen davon, während Heinrich sich kopfschüttelnd um Attila und Lunewunder kümmerte. Erst am Teich hielt Birgit an. Sie war wütend. Wütend auf Gudrun, die sie tatsächlich hatte schlagen wollen und wütend auf sich, weil sie ihre beste Freundin hintergangen hatte. Aber sie wusste auch, dass sie richtig gehandelt hatte, beziehungsweise sie redete es sich zumindest permanent ein. Schließlich hätte Gudrun sonst wirklich das Turnier mit Absicht verloren.
Gudrun stapfte derweil wutentbrannt durchs Zeltlager. Sie erntete einige missbilligende Blicke, da sie sprichwörtlich die Pferde scheu machte. Andere blickten ihr aber auch mit Bewunderung hinterher, wegen ihres eindrucksvollen Sieges. Und vielleicht ließ gerade das Gudrun noch wütender werden. So liebte sie es zwar zu siegen. Sie hasste es aber, im Rampenlicht zu stehen.
Plötzlich kam jemand aus einem Zelt heraus, das Gudrun passierte. Zu eng passierte, so dass sie mit voller Wucht diesen Jemand über den Haufen rannte. „He, he, nicht nötig mich immer noch anzurempeln.“, schimpfte Jemand. Gudruns Gefühle schwankten zwischen Zorn, Bedauern und noch etwas anderem, dass sie sich noch nicht eingestehen wollte.
Sie sammelte sich kurz und sagte: „Entschuldigen sie, Knappe Weiß. Ich bin etwas in Eile.“ „Stephan.“ „Wie?“ „Du kannst mich Stephan nennen, Gudrun. Was treibt dich denn so?“ Gudrun entging völlig, dass Stephan ihren Namen kannte. Aber das Duzen war ihr mehr als recht. Beim Siezen fühlte sie sich immer schon so alt. „Ach, mich treibt gar nichts. Ich muss nur raus hier.“ „Darf ich mitkommen?“, fragte Stephan. „Wenn du unbedingt willst.“ Stephan ignorierte das lang gestreckte und gequälte ‚unbedingt‘ und meinte nur: „Prima!“, und schmiss noch sein Schild und seine Handschuhe ins Zelt.
So gingen sie eine ganz Zeit lang wortlos nebeneinander her. Als sie einen Wald erreichten, fing Stephan beschwingt an zu pfeifen. „Bitte“, schimpfte Gudrun, „das kann man sich ja nicht mit anhören.“ Stephan grinste: „Mir war nur ein wenig fad. Woher kannst du so gut reiten?“ „Heinrich, unser Hofstallmeister hat es mich gelehrt.“ „Aber bestimmt nicht den gewitzten Trick mit der Lanze.“ Gudrun musste ungewollt grinsen: „Das war eine plötzliche Eingebung. Gut nicht?“ „Perfekt. Ich ärgere mich immer noch, dass ich darauf hereingefallen bin.“ Gudrun lächelte. Das Lob schmeichelte ihr, und es erfrischte sie wie ein kühles Bad in dem See, den sie gerade erreichten. Oft war sie hier hinaus geritten, hatte alle Hüllen fallen lassen und das kühle Nass genossen, wie es über ihren Körper strich. Sie zogen die Schuhe aus und setzten sich auf einen kleinen Steg. Ihre Füße genossen die Kühle des Sees. „Es ist wunderschön hier, nicht?“ Stephan pflichtete Gudrun bei.
So saßen sie wohl eine ganze Weile schweigend beieinander. Stephan ließ Steine übers Wasser springen und Gudrun betrachtete ganz vertieft die Kreise im Wasser, die sich um ihren großen Zeh bildeten, wenn sie ihn ins Wasser tauchte.
„Kannst du tanzen?“ Es war, als wenn Gudrun gerade einen Kulisse zerrissen hätte. Gerade noch im friedlichen Wald, die Blätter raschelten im Wind, kleine Wellen plätscherten sachte an den Steg, die Vögel zwitscherten besinnlich in den Wipfeln der Bäume und plötzlich Grabesstille. Stephan guckte Gudrun lange an, bis es ihr die Röte auf die Wangen trieb. „Du nicht?“, fragte er. „Nein. – Ich habe mich nie dafür interessiert.“ „Dabei ist Tanzen so etwas schönes, wie sonst kann man Musik mit dem ganzen Körper erfahren?“, meinte Stephan. „Ich... ich mag keine Musik.“ „Oh, erzähl mir doch nichts. Jeder mag Musik.“ „Lieder schon, oder die Weisen der Bänkelsänger. Aber nicht dieses Gequietsche und Gequäke, welches sie auf den Bällen spielen.“ „Vielleicht hast Du noch nicht die richtigen Lieder gehört. Kennst Du das Lieblingslied von Baldur?“, frage Stephan. Gudrun schüttelte den Kopf. „Den Branle de Chevaux, den Pferdetanz. Dazu werden wir morgen sicherlich auch tanzen. Pass mal auf, ich spiele ihn dir mal vor.“
Stephan holte eine Flöte aus seiner Brusttasche, spitzte die Lippen und spielte eine flotte Weise. Gudruns großer Zeh wippte auf und nieder und lauter kleine Wellenberge zogen sich über den See. Stephan stand auf während er spielte und verneigte sich vor Gudrun. Als wenn sie es nicht gesehen hätte, blickte sie wieder zu den kleinen Wellen. Stephan spielte energischer auf, und Gudrun musste grinsen. Es war ein sehr schönes Lied, dass musste sie zugeben, wollte es jedoch noch nicht.
Stephan spielte wie der Leibhaftige, da konnte Gudrun einfach nicht mehr. Sie sprang auf und machte einen Knicks. Stephan verneigte sich und fasste Gudrun bei der Hand. Gemeinsam gingen sie zuerst vier Schritte nach links, dann vier Schritte nach rechts. Dann ließ Stephan Gudrun los und sprang auf dem rechten Bein viermal nach rechts, während das linke kreiste und dann viermal nach links, während das rechte kreiste. Gudrun lachte bei diesem Anblick. Dann nickte Stephan Gudrun zu.
Vor lauter Lachen schaffte Gudrun kaum den ersten Sprung und beim zweiten lag sie vollends auf dem Boden. Stephan half ihr auf und nickte ihr erneut zu. Um es ihr leichter zu machen, spielte er ein wenig langsamer. Nach ein paar Anläufen hatte Gudrun den Dreh endlich raus. Dann tanzten Stephan und Gudrun die ersten beiden Teile des Branle gemeinsam.
Schließlich stellte sich Stephan vor Gudrun und scharrte mit seinem rechten Fuss im Sand und neigte seinen Kopf fast so, wie es Pferde tun. Gudrun bedeutete er, sich im Uhrzeigersinn zu drehen und so tat sie es. Dann bedeutete Stephan ihr, sich auch vor ihn zu stellen und deutete auf ihren Fuss. Gudrun schüttelte den Kopf. „Neeee“, lachte sie und tat es dann doch. Während sie mit ihrem Fuß scharrte, drehte sich Stephan vor ihr im Uhrzeigersinn.
Schließlich hielt er inne und verneigte sich. Gudrun machte einen Knicks und das Lied verstummte. Gudrun war ganz heiß geworden und fiel Stephan lachend um den Hals. „Toll, das war so schön. Noch einmal!“ Stephan schnaufte, grinste, schüttelte den Kopf und hielt sich am Baum fest. „Du kannst einen richtig fertig machen. Lass mich doch erst einmal Luft holen.“ „Moment, ich geb dir etwas von meiner Luft ab.“ Und Gudrun drückte Stephan einen langen Kuss auf den Mund. Dieser erst überrascht und steif wie ein Brett schmolz doch schnell dahin. Das Vogelgezwitscher wurde lauter und hier verbietet es mir meine Diskretion weiterzugeben, was meine Frau über diesen Abend am See noch alles erfahren hat.
Ball
Gudrun war spät nach Hause gekommen. Ihre Eltern hatten sich schon Sorgen gemacht. Außerdem war Gudruns Mutter enttäuscht, da sie extra einen Kuchen gebacken hatte, damit alle zusammen Gudruns Sieg feiern konnten. So wurde Gudrun noch vor dem Zubettgehen genötigt ein Stück Kuchen und ein Käsebrot zu essen. Sie sollte wenigstens nicht mit knurrendem Magen ins Bett gehen. Dabei hatte Gudrun so gar keinen Hunger. Die Welt war schön, einfach nur schön. Wer bedarf da noch fester Nahrung. Das permanente Lächeln auf ihrem Gesicht irritierte ihre Eltern. Sie schienen es allerdings auf den Sieg beim Turnier zu schieben.
„Mama? – Mama, hast du eventuell ein Kleid, welches ich morgen zum Ball tragen kann?“ Ihr Vater verschluckte sich an einem Krümel und seine Augen quollen förmlich hervor. „Gru...“, röchelte er, „...drun?“ Man sah seine Verwirrung. Die Begriffe Kleid und Gudrun passten einfach nicht zusammen. Gudruns Mutter lächelte nur: „Ich kann mal schauen, ob ich etwas für dich habe. Wie wäre es damit?“
Zu dem ersten Paar hervorgequollenen Augen gesellte sich ein zweites Paar unterstrichen von einem erstaunten hervor gestoßenem ‚Oh!‘. Gudruns Mutter hielt ein zart hellblaues Ballkleid in den Händen. Die Nähte waren mit silber glänzenden Fäden abgesetzt und auch die Knöpfe auf dem Rücken waren silbern und vereinten sich mit den eingestickten Sternen zu einem wunderschönen Firmament. Am Dekolleté war eine goldene Brosche in Form einer Sonne befestigt und ein silbern durchwirktes hauchdünnes Tuch konnte man sich über die Schultern legen. Den krönenden Abschluss bildete ein silbrig glänzendes Diadem in dessen Mitte ebenfalls eine Sonne war und links und rechts zwei steigende Pferde. Gudrun fasste sich zuerst wieder, während der Ausdruck im Gesicht ihres Vaters von einem erstaunten Ausdruck zu einem Ausdruck wechselte, der vielmehr sagte: „Euch geht es wohl noch zu gut.“
„Woher...“, Gudrun stutzte, „Du wusstest also auch von dem Ball?“ Es war mehr eine resignierte Feststellung denn eine Frage. „Aber woher hast du das Kleid und das Diadem?“ „Das möchte ich nun aber auch gerne wissen“, meinte Gudruns Vater. Gudruns Mutter legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter: „Das Kleid haben Birgits Mutter und ich genäht. Stoff, Fäden und Knöpfe hast du bezahlt, Gerhard. Das wirst du ja wohl noch für unser Kind übrig haben.“ Gudruns Vater atmete tief ein und biss sich anschließend anscheinend lieber auf die Zunge als noch ein Wort darüber zu verlieren. „Und das Diadem“, fuhr Gudruns Mutter fort, „ist ein Geschenk von Baldur an dich.“ Gudrun war sprachlos. Ihr Vater schaffte es dafür aber, wieder normal zu atmen. Gudrun fiel ihrer Mutter um den Hals: „Danke, danke, danke, ganz vielen lieben Dank!“ Nun war selbst Gudruns Mutter sprachlos, da sie solche Ausbrüche von Gudrun gar nicht kannte.
Inzwischen war es spät in der Nacht und alle waren müde, so dass kurze Zeit später alle in ihren Betten lagen. Gudrun hörte noch, dass ihre Eltern lange miteinander redeten. Aber irgendwann bekam sie nichts mehr mit und war sanft entschlummert.
Ihre Träume überschlugen sich diese Nacht. Erst träumte sie, wie sie mit Stephan quer durch den See schwamm, sie in der Mitte des Sees auf der Stelle schwammen und dann dort miteinander im Wasser tanzten. Kurz darauf fand sie sich im Ballsaal der Burg wieder. Diesmal statt im Eva-Kostüm in ihrem Kleid. Sie war allein, als Stephan auf einem weißen Schimmel in den Saal geritten kam. Er stieg schwungvoll vom Pferd und in der Ferne setzte die Musik ein zu spielen. Sie tanzten, bis Gudrun schwindelig wurde und sie hinfiel. Ihr Kleid rutschte hoch und darunter kamen ihre Hosen zum Vorschein. Plötzlich war der ganze Saal gefüllt mit Gästen und alle deuteten auf Gudrun, tuschelten und lachten. Stephan drehte sich verschämt von ihr weg und Gudrun wachte schweißgebadet auf. Es dauerte lange, bis sich Gudrun erfolgreich eingeredet hatte, dass dies nur ein Traum gewesen war. Danach schlief sie einen traumlosen Schlaf, bis der Hahn sie am frühen Morgen weckte.
Gudruns Bruder und ihre Schwester kamen vorbei, um Gudrun zu gratulieren. Und natürlich, um das Kleid zu bewundern. Natürlich noch vor dem Frühstück, so dass Gudrun letztendlich mit vernehmlich knurrendem Magen am Tisch saß. Der Tag wollte und wollte einfach nicht enden. In ihrem Zimmer übte Gudrun noch einmal die Tanzschritte, welche ihr Stephan beigebracht hatte. Zum Mittag gab es Gudruns Leibgericht: Swattsuer. Zur Feier des Tages. Gudruns Vater hatte sogar einen Krug Wein besorgt.
Dann musste Gudrun auf Anweisung ihrer Mutter noch einmal in den Waschzuber. Gerlind, ihre Schwester, flocht ihr anschließend kunstvoll das Haar. Dann kam das Kleid. Vor lauter Stoff wusste Gudrun gar nicht, wie sie es anfangen sollte es anzuziehen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie mit Hilfe ihrer Schwester und ihrer Mutter das Kleid anhatte, alle Knöpfe geschlossen und alle Falten geglättet worden waren.
Dann wollte Gudrun schon zu ihren Sonntagsschuhen greifen, doch ihre Mutter hielt sie zurück. Kurze Zeit später hielt sie ein Paar silberne Schnabelschuhe in den Händen. „Von deinem Vater“, sagte sie, kniete nieder und zog Gudrun die Schuhe an. Für Gudrun war es völlig ungewohnt solche Schuhe zu tragen. Und entsprechend stolperte sie mehr durch die Tür, als dass sie ging. In der Diele empfingen sie Jürgen, ihr Bruder und ihr Vater. Jürgen applaudierte und verbeugte sich. Gudrun machte einen Knicks und nun musste auch ihr Vater lächeln. Erst dachte Gudrun, er belächelte sie, doch dann sah sie seine Tränen in den Augen. Erst viel später begriff sie, dass er damals schon wusste, dass nun auch bald sein letztes Kind das Haus verlassen wird.
Vor dem Haus stand eine Kutsche, die Baldur gesandt hatte. Heinrich saß auf dem Kutschbock, was Gudrun unglaublich froh machte. Am liebsten hätte sie sich zu ihm vorne auf den Kutschbock gesetzt. Aber wie es einer Dame geziemt, stieg sie in die Kutsche. Ihre Eltern und ihre Geschwister standen in der Tür ihres Hauses und der Schlachterei und winkten Gudrun hinterher. Heinrich trieb die Pferde an und so waren sie bald in der Burg. Birgit und ihre Mutter rotierten zusammen mit den anderen Bediensteten, um die Tafel zu bereiten. Nichtsdestotrotz blieben alle stehen, als Gudrun aus der Kutsche stieg. Dem Küchenjungen fiel die Kinnlade hinunter, bis ihn Birgits Mutter zurechtwies und er sich verbeugte, wie alle anderen auch. Gudrun bekam einen hochroten Kopf und war Birgit mehr als dankbar, als sie es nicht mehr aushalten konnte und auf Gudrun zugerannt kam: „Du siehst ja richtig schick aus. Kannst du denn überhaupt tanzen? Wirst du mit Baldur tanzen? Ob wohl ein junger Prinz dabei ist, der dich heiraten wird? Kann man in diesen Schuhen überhaupt gehen?“ Birgit schluckte die restlichen zwei Dutzend Fragen hinunter, als sie Gudruns Blick sah: „Danke. Ja, vielleicht, bestimmt nicht, es geht so.“ Mehr war Gudrun nicht bereit zu sagen. Dann umarmte sie Birgit und sagte nur: „Wünsch' mir Glück!“ „Tu ich doch immer... Ach und iss bloß nichts vom Schokoladenpudding. Unser Küchenjunge hat das Salz mit dem Zucker verwechselt... Ich konnte zwar noch das schlimmste verhindern, aber essen würde ich ihn trotzdem nicht.“ Gudrun grinste. Sie kannte Alexander schon, als er gerade das Laufen lernte. Und nun diente er inzwischen in der Küche Baldurs als Küchenjunge. Er hatte sich nie sonderlich geschickt angestellt und Baldur regte sich regelmäßig über ihn auf. Trotzdem entließ er ihn nicht. Meist mit dem Kommentar: „Was soll bloß aus dem Jungen werden? So können wir ihn ja nicht auf die Welt loslassen.“ „Was soll bloß aus dir werden, Jungfer Harto?“, drang eine Stimme durch ihre Gedanken, „das Tagträumen hast du wohl immer noch nicht verlernt?“ Baldur grinste. Gudrun, gerade wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgefallen, machte einen Knicks. Baldur verbeugte sich und reichte Gudrun seine Hand. Gudrun zögerte, doch dann legte sie ihre auf seine Hand und gemeinsam schritten sie die Freitreppe hinauf zum Ballsaal, der gleich neben der schicksalhaften Bibliothek lag. Im Ballsaal wurden bereits die Kerzen entzündet. Eine Kapelle übte auf einem kleinen Podest und im Nebenraum war bereits die festliche Tafel gedeckt. Auch der Schokoladenpudding stand schon da. Schon wurden die ersten Gäste angekündigt. Baldur setzte sich auf seinen Thron und bat Gudrun in seiner Nähe zu bleiben, was ihr etwas die Beklommenheit nahm, als erste und einzige neben Baldur hier in diesem großen Saal zu sein. Doch jetzt ging es Schlag auf Schlag. Binnen kurzer Zeit waren mehr als hundert Gäste eingetroffen. Viele verwickelten Gudrun in Gespräche über ihren grandiosen Sieg und Gudrun verstand es sich geschickt in Szene zu setzen, so dass, wie Birgit mitbekam, während sie auf das Buffet achtete, Gudrun immer wieder als mögliche Heiratskandidaten von den Müttern an ihre Söhne empfohlen wurde und der Junge solle sich doch um den ersten Tanz bemühen. Gudrun trug alle Anträge brav auf ihrer Tanzkarte ein, aber keiner erhielt den Platz Nummer Eins. Und schließlich kam der Langersehnte. Für Gudrun ging die Sonne auf. So fühlte es sich auch für sie an. Erst war die Sommersonne noch wolkenverhangen, doch als sich ihre Blicke trafen, fühlte sie sich, als wenn die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut brannten. Eine wohltuende Wärme stieg in ihr auf und sie schloss die Augen, um dieses intensive Gefühl in vollen Zügen zu genießen. Als sie die Augen wieder öffnete, stand Stephan vor ihr. Er verbeugte sich so tief, als es einer Königin gebührt, so dass es selbst den Umstehenden auffiel. Gudrun machte artig einen Knicks und Stephan reichte ihr die Hand, um sie auf die Tanzfläche zu geleiten. Panik wollte sich in Gudrun breit machen. Stephan schien dies zu merken und flüsterte zu ihr: „Nur Mut!“ Die Musik spielte auf. Der Barle de Chevaux, wie es Stephan prophezeit hatte. Stephan strahlte eine ungeheure Sicherheit aus, die auch Gudrun einfing. Die ersten Schritte gelangen ihr wunderbar, selbst bei den Sprüngen kam sie nur einmal etwas ins Straucheln, dass sie mit einem entschuldigenden Lächeln wieder wett machte. Selbst beim Scharren konnte sich Gudrun das Grinsen verkneifen indem sie sich auf die Zunge biss, fast bis das es weh tat. Birgit war stehen geblieben und staunte nur. Sie erkannte ihre Freundin kaum noch wieder. Auch Baldurs Aufmerksamkeit ruhte ganz auf Gudrun. Selbst einige der Tanzenden warfen immer wieder Blicke auf sie und als Gudrun am Ende zwar leise aber dennoch vernehmlich wieherte, taten es ihr alle gleich, im Glauben, dies sei der dernier cri vom Pariser Hof. Am liebsten hätte Gudrun mit Stephan den ganzen Abend getanzt, aber ihre Tanzkarte war leider schon gut gefüllt. Am Beginn der Tänze passierte Gudrun immer etwas. Mal war ein Stein im Schuh, mal musste sie sich erst noch pudern. Ihre Tanzpartner ließen sich meist nichts anmerken. Aber der eine oder andere wurde schon mal ungeduldig und machte entsprechende wohl formulierte Kommentare. Gudrun gab es aber die Gelegenheit, die Tänzer eine Weile zu beobachten und zu lernen. Meist war außerdem Stephan in der Nähe, der ihr noch etwas zuflüsterte oder seine Schritte besonders betont setzte, damit Gudrun es sehen konnte. Nach ihrem Gefühl galt sie am Ende zwar nicht als begabte Tänzerin, aber zumindest schien keiner gemerkt zu haben, dass sie vor zwei Tagen nicht einmal einen einzigen taktvollen Schritt auf der Tanzfläche hätte machen können. Beim Essen verabredeten sich Gudrun und Stephan für den nächsten Tag am See. Stephan meinte, er müsse unbedingt mit Gudrun reden. Mehr wollte er nicht sagen und bevor Gudrun nachhaken konnte, waren auch schon jeweils ihre Tanzpartner zugegen und baten sie zum Tanz.Abschied
Noch am nächsten Tag brannten Gudrun die Füße und zur Erholung von den gräßlichen Schnabelschuhen ging sie barfüßig zum See. Sie hörte Stephan bereits aus einiger Entfernung. Er spielte auf einer Laute ein sehr traurig klingendes Lied. Genauso sah Stephan auch aus, als Gudrun am See ankam. Als er jedoch aufsah und Gudrun erblickte, zwang sich ein trauriges Lächeln auf sein Gesicht.
„Hallo Stephan, was ist mit dir?“, fragte Gudrun mit Worten und zuvor schon mit den Augen. Stephan seufzte: „Erahnst du es nicht?“ „Nein“, antwortete Gudrun, „absolut nicht. Ist gestern irgend etwas passiert?“ „Es wird etwas passieren. Ich muss zurück nach Hause.“ Gudrun blieben die Worte im Halse stecken. Ihr Gesicht kopierte den Ausdruck auf Stephans Gesicht und beide blickten gedankenverloren auf den See. „Werde ich dich wiedersehen?“, fragte Gudrun Stephan ohne ihren Blick vom See zu nehmen. „Ich weiß es nicht. Mein Vater möchte, dass ich ein Ritter werde und gegen die Heiden kämpfe.“ Stephan stockte: „Aber ich will das nicht. Jetzt noch viel weniger als noch vor ein paar Tagen.“ „Warum?“ Es war mehr ein laut ausgesprochener Gedanke. Ein Gedanke, den sich Gudrun selbst längst beantwortete hatte, noch bevor das Wort ihrem Mund entfleuchte. Stephan wusste das und antwortete trotzdem: „Weil ich dich liebe!“ Gudrun blickte Stephan lange an. Dann schlang sie ihre Arme um ihn und gab ihm einen langen Kuss. Sie merkten nicht, wie ein Eichhörnchen unmittelbar neben ihnen vorbei sprang oder wie ein junger Spatz mit seinem ersten Regenwurm einen Kampf auf Leben und Tod ausfocht. Die ganze Welt um sie herum ward vergessen. „Was wollen wir tun?“, fragte Gudrun. „Ich werde mit meinen Eltern reden. Meine Mutter wird kein Problem sein. Sie wünscht sich schon lange, dass ich ein nettes Mädchen kennen lerne und sie dann bald Großmutter wird. Dann kann sie sich um ein weiteres Kind kümmern. Mein Vater ist das größere Problem. Jahrelang hat er in seiner Alchemie-Küche nach dem Stein der Weisen gesucht, unsere ganze Habe dafür geopfert. Nun hat er die Weisheit erlangt, dass es den Stein der Weisen nicht gibt. Als Folge dessen, entschloss er in seiner nun endlosen Weisheit, dass sein Junge etwas vernünftiges werden solle. Zumal meine Schwester im Siechenhaus auch nicht viel verdient. Aber ich werde ihn schon zu überzeugen wissen.“ Zum Abschied sang Stephan Gudrun noch ein Lied:Wenn ein Knappe wie ich einer Jungfer wie dir begegnet,
Dann glaube ich, dass es Sternschnuppen regnet.
Meine Augen werden deiner nur gewahr,
Und schon ist das Land des Lächelns für mich da.Schon manch Jungfer überquerte meinen Pfad,
Doch ich ritt vorbei, denn ich wusste,
Dass eine Fee mir auf zauberhafte Weise helfen wird,
Die eine zu finden, die mein Leben dann segnet,
Wenn ein Knappe wie ich einer Jungfer wie dir begegnet.
Während Stephan an einen Baum gelehnt die Laute spielte und sang, hatte Gudrun ihren Kopf in seinen Schoß gelegt. Sie war glücklich und genoss den wohligen Schauer, den das Lied ihr über den Rücken laufen ließ. Am Ende des Liedes legte Stephan die Laute beiseite und streichelte Gudrun sanft das Haar, so dass sie bald in des Land der Träume entglitt.
Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte oder ob Stephan auch geschlafen hatte. Aber als sie aufwachte, zog Stephan gerade den Sattelgurt an seinem Pferd straff. Stephan half ihr auf und diesmal war er es, der ihr einen Kuss gab. „Ich muss los. Ich möchte noch vor Einbruch der Nacht den Drachenhain hinter mich gebracht haben. Der Räuber Athos und seine Bande sollen da ihr Unwesen treiben. Und kurz vor Sonnenuntergang fährt dort die letzte Postkutsche für heute und in diesen Zeiten wird sie gut bewacht von einer Eskorte. Ich will mich ihr anschließen, um nicht allein durch den Hain reiten zu müssen.“ „Gib auf dich Acht und nimm dies Tuch als Glücksbringer.“ Gudrun reichte Stephan ihr Schultertuch vom gestrigen Abend und fügte hinzu: „Und bitte schreibe mir bald, wie sich deine Eltern entschieden haben.“ Zum Abschied gaben sie sich noch einen Kuss. Dann schwang sich Stephan auf sein Pferd und ritt nach Süden davon. Plötzlich schrie Gudrun: „Stephan!“ Stephan parierte sein Pferd und drehte sich um und Gudrun schrie: „Ich liebe dich!“ Stephan lächelte und setzte seinen Weg fort. Und Gudrun ging mit klopfendem Herzen heim.
Überfall
Ein ganzer Monat verging, ohne dass Gudrun von Stephan etwas hörte. Inzwischen hatte sie eine Kammer in der Burg bezogen, um sich besser um ihre Pferde kümmern zu können. So bekam sie als eine der ersten mit, was im Drachenhain geschehen war.
Die Postkutsche kam wie gewohnt streng bewacht am frühen Vormittag im Burghof an. Gudrun hätte die Ankunft gar nicht mitbekommen, hätte es nicht plötzlich einen riesigen Tumult gegeben. Ein Soldat rannte an ihrer Kammer vorbei und Gudrun hielt ihn gerade noch fest: „Was ist passiert?“ „Die Postkutsche – von letzter Woche – überfallen – tot“, japste der Soldat noch völlig außer Atem und rannte schon wieder weiter.
Gudrun eilte hinterher. Unten im Hof stand die Kutsche. Die zwei Pferde waren sehr unruhig, doch um sie schien sich niemand zu kümmern. Am Ende der Kutsche sammelten sich die Soldaten und Bediensteten. Birgits Mutter schlug mit entsetztem Gesichtsausdruck die Hände vor den Mund. Birgit kam gemeinsam mit Gudrun an und als sie sahen, was alle anderen sahen, packte auch sie das blanke Entsetzen.
An der Kutsche angebunden war ein drittes Pferd mit deutlichen Blessuren. Auf dem Rücken des Pferdes lagen zwei mannsgroße Bündel und aus einem hing eine Hand mit einem Siegelring. Dem Siegel Baldurs. Es war der Steuereintreiber Baldurs und kurze Zeit später stand auch die Identität des zweiten Bündels fest: Baldurs Buchhalter.
Bis zum Mittag klärte sich so langsam auf, was geschehen war. Die heutige Postkutsche passierte gerade den Drachenhain, als der Kutscher in der Böschung des Weges ein Wagenrad liegen sah. Kurz hinter der Böschung entdeckte die Eskorte dann das Unfassbare: Die Postkutsche von letzter Woche lag in Trümmern kurz hinter der Böschung. Die Überreste des einen Pferdes lagen davor. Das andere war an einen Baum gebunden und hatte tiefe Wunden. Nahe bei lag ein toter Wolf, den Kopf von einem Huftritt zertrümmert. Weiter entfernt fanden sie dann weitere Kadaver von Pferden... und von Menschen. Alle bereits teils bis zur Unkenntlichkeit von Wölfen verstümmelt. Darunter auch der Steuereintreiber und der Buchhalter Baldurs.
Wäre das Pferd nicht angebunden gewesen und hätte nicht die gesamte Steuerkasse gefehlt, hätte man an einen Unfall glauben können. Aber so hielt man es für sicher, dass Athos die Postkutsche überfallen habe.
Den Sack mit Briefen und selbst jeglichen Schmuck hatten die Räuber dort gelassen. Man vermutete, sie wollten verhindern, durch den Verkauf dieser Schmuckstücke identifiziert werden zu können. Ein Mann von der Poststation nahm sich der Briefe an. Zunächst überprüfte er das Siegel am Postsack. Alles schien in Ordnung. Dann nahm er die Post mit zur Poststation. Gudrun war etwas erstaunt über seine Kaltschnäuzigkeit. „Andererseits“, dachte sie, „es ist nun einmal seine Pflicht.“
Baldur rief seine Truppen und ließ die Bürgerwehr mobil machen. Gegen diesen Athos müsse endlich etwas unternommen werden. Gudrun und Birgit gingen zu ihrem alten Platz im Stall. Die Stimmung war gedrückt und sie unterhielten sich mehr über ihr Schweigen, als dass sie miteinander sprachen.
„Schrecklich, nicht?“, meinte Birgit. „Ja“, sagte Gudrun. Schweigend unterhielten sie sich weiter. „Ich hoffe, sie schnappen Athos und seine Bande“, sagte Gudrun tonlos. „Ich glaube nicht dran“, erwiderte Birgit, „schon so viele haben versucht, ihn zu schnappen. Meist brachte es nicht mehr als zusätzliche Tote. Auf beiden Seiten zwar, aber Athos haben sie nie erwischt. Inzwischen glauben einige sogar, es sei der Geist des vor 200 Jahren verstorbenen Räuberhauptmanns Drache, dessen Namen der Wald auch trägt. Seine Taktik war es, seine Opfer durch Feuer zu umzingeln. So reichten ihm fünf Mann für seine Überfälle. Er soll damals in einem von ihm selbst gelegten Feuer umgekommen sein. Aber seine Leiche ist nie gefunden worden.“ Birgit hob die Hände über den Kopf, zog eine Grimasse und machte: „Buuh!“ Gudrun und Birgit lachten und ließen sich rückwärts ins Stroh plumpsen.
Die Beklemmung hatte nachgelassen und als sie so da lagen und das Dach des Stalls betrachteten, fragte Birgit: „Hast du etwas von Stephan gehört?“ „Nein“, seufzte Gudrun, „ich wette, er hat mich längst vergessen, oder sein Vater hat ihn doch gezwungen Ritter zu werden.“ „Schade, ich fand ihn nett. Wusstest Du, dass er auch häufig auf Festen als Musikant auftritt?“ Gudrun schaute erstaunt. Fast mit beleidigtem Unterton fragte sie: „Wie kommst du denn darauf?“ Wobei der Unterton weniger Birgit galt als Stephan, der nichts dergleichen erwähnt hatte. „Entschuldigung“, brachte Birgit betont genervt hervor. „Ich habe nur auf dem Ball mitbekommen, wie Baron von Brook meinte, dass Knappe Weiß ein begabter Musiker sei und er ihn auch gerne beim Geburtstagsfest seiner Tochter dabei hätte. Aber es sei wohl schwer, ihn zu engagieren, weil so viele seine Kunst zu schätzen wüssten.“ „Oh ja, spielen kann er wundervoll. Und er hat eine zauberhafte Stimme“, schwärmte Gudrun um dann wieder mit beleidigter Miene fortzufahren: „Aber das hätte er mir doch nun wirklich sagen müssen.“ „Männer halt. Mit den Fingern den tiefsten Popel aus der Nase holen, aber mal tiefer Gehendes von sich preiszugeben, dazu sind sie nicht in der Lage.“ Gudrun nickte nur zustimmend: „Na, der kriegt vielleicht etwas zu hören, wenn ich ihn wiedersehe... wenn.“ Birgit und Gudrun lagen noch eine Weile so da. Dann musste Birgit in die Küche und Gudrun ging auf ihre Kammer, um ihr Reitzeug zu holen.
Schatzkammer
Auf ihrem Nachttisch lag ein Brief. Gudrun blieb wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen. Ein paar Sonnenstrahlen kamen durch die Fensterluke und strahlten genau auf diesen Brief. Gudrun hörte die Glocke der Kirche im Dorf läuten. Ein Luftzug kam durch die Tür und der Brief rutschte Richtung Fensterluke. Gudrun stürzte zum Nachttisch und wäre beinahe mitsamt dem Tisch zu Boden gestürzt. Doch sie hatte den Brief.
Sie kannte das Symbol auf dem Siegel. Es war auf Stephans Schild drauf gewesen. Hastig brach sie das Siegel und las:
Liebste Gudrun,
Dir zu schreiben, wie sehr ich Deine Nähe misse, ist nicht Platz genug auf allem Papier dieser Welt. Darum hoffe ich einfach, Du weißt es bereits, so dass ich gleich in medias res gehen kann:
Wie ich mutmaßte, war meine Mutter völlig begeistert, als ich ihr von Dir erzählte. Und ebenso reagierte mein Vater wie erwartet. Es gab ein regelrechtes Donnerwetter und er sperrte mich für eine Woche in mein Zimmer, damit ich meine Meinung ändere.
Zum Glück redete meine Mutter die ganze Zeit auf ihn ein. Am Ende der Woche, ich hatte natürlich noch den gleichen Standpunkt, dank Deines betörenden Zaubers, stellte mich mein Vater vor eine Alternative: Würde ich innerhalb eines Monats eine gut bezahlte Anstellung finde, entbinde er mich von der Verpflichtung ein Ritter zu werden. Wenn nicht, dann müsse ich ihm hoch und heilig versprechen ohne weitere Widersprüche die Ausbildung zum Ritter fortzusetzen.
Leichtsinnigerweise versprach ich es ihm. Seither suche ich verzweifelt eine Anstellung. Doch wenn sich eine fand, so war sie nicht gut bezahlt. Ich werde weiter suchen. Gott mag es fügen, dass wir uns wiedersehen.
In ewiger Liebe
Dein Stephan
Gudrun hatte Tränen in den Augen vor Freude und sie dankte Gott für diesen Brief, der dem Datum zufolge genau in jener Kutsche transportiert worden war, die Athos überfallen hatte.
Und dann hatte Gudrun eine Idee, die, so hoffte sie, alles zum Guten wenden würde. Sie eilte aus ihrer Kammer hinunter zum Thronsaal, dann in die Bibliothek, in den Stall und schließlich in die Küche. Dort gab Baldur gerade Anweisungen, Lebensmittel für den Jagdtrupp, wie er ihn nannte, zusammenzustellen.
Gudrun wartete zwar, bis Baldur fertig war, aber ihr Gehabe zog immer wieder Baldurs Aufmerksamkeit auf sich, was er stets mit missbilligenden Blicken kommentierte. Nach einer übertrieben langen Verabschiedung von Birgits Mutter wandte er sich schließlich Gudrun zu: „Was wünschen Sie, Jungfer Ungeduld?“ Gudrun lief rot an. „Nun?“, drängte Baldur, der schnell wieder zu seiner Truppe wollte, um Athos zu erledigen. „Sie brauchen doch jetzt einen neuen Steuereintreiber und da dachte ich“, Gudrun räusperte sich, „da dachte ich, ob eventuell Knappe Weiß die Stelle übernehmen könne.“ Beim Namen Weiß hob Baldur die Augenbrauen: „Du meinst den Jungen mit der Fahne, den du in Grund und Boden geritten hast?“ „Ähm, ja.“ „Kann er denn rechnen?“, fragte Baldur. „Da bin ich mir sicher. Und wenn nicht, so kann ich es ihm beibringen. Ich habe es in der Schule gelernt und meinem Vater schon häufiger beim Monatsabschluss geholfen“, erwiderte Gudrun voll des Eifers. „So, so. Na, dann hätte ich noch eine Bedingung: Wie du weißt, fehlt mir ja nun auch noch ein Buchhalter. Wenn du die Stelle übernimmst, dein jetziges Gehalt verdoppelt sich natürlich, und wenn Knappe Weiß mich zu überzeugen vermag, dann hat er die Stelle.“
„Oh, danke, danke, danke“, fiel Gudrun Baldur um den Hals. Dieser, erst ziemlich überrascht, lächelte schließlich. „Schon gut und...“, Baldur kramte einen großen Schlüssel aus seiner Tasche, „hier ist der Schlüssel zur Schatzkammer. Du bürgst für ihn mit deinem Leben. Alles weitere zeige ich dir, sobald ich von der Jagd zurück bin.“ Ehrfurchtsvoll nahm Gudrun den Schlüssel entgegen. Er hing an einer Kette, die sich Gudrun um den Hals legte. Dann steckte sie sich den Schlüssel unter ihre Kleidung. Sie schüttelte sich, als sie das kalte Metall auf ihrer Haut spürte.
Baldur konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen: „Nun, dort ist der Schlüssel wohl sicher. So und nun nimm eine der Brieftauben und benachrichtige deinen Geliebten. Ich möchte ihn in drei Tagen sehen.“ Gudrun lächelte, machte einen Knicks und ging mit klopfendem Herzen auf ihr Zimmer, um den Brief für Stephan zu schreiben.
Unten im Hof hatte sich derweil die Jagdtruppe versammelt. Zehn aus Baldurs Gefolge und achtzehn Mann von der Bürgerwehr. Als Baldur zu ihnen kam und der Proviant von den Küchenbediensteten verteilt war, befahl Baldur den Aufbruch. Sie marschierten, statt zu reiten, da Großteile des Drachenhains für Reiter unzugänglich war. Als Gudrun den Brief fertig geschrieben hatte, mehr als ein paar Zeilen konnte sie eh nicht auf dem kleinen Blatt Papier unterbringen,. ging zum Taubenschlag und bat Max ihr eine Brieftaube zu geben. Am liebsten die, die dort so schön gurre. Max lachte. „Leider kann ich dir keine geben, die dir gefällt. Es sei denn, dir ist egal, wer den Brief erhält. Wohin soll der Brief denn gehen?“ „Ahlken.“ „Na, da hast Du aber Glück. Ich habe zwar keine Tauben aus Ahlken hier, aber aus Arsten, was nicht weit entfernt liegt. Zwei junge Felsentauben, vielleicht nicht die schnellsten, aber sehr zuverlässig. Welche soll es denn sein?“, grinste er, wohl wissend, dass Gudrun kaum eine Taube von der anderen unterscheiden konnte. „Ach egal, Hauptsache schnell. Die rechte sieht doch recht kräftig aus.“ Max nickte anerkennend: „Du hast ein gutes Auge, junge Dame. Gut, dann gib mal den Brief her.“ Gudrun gab Max den Brief, der ihn behutsam am Bein der Taube befestigte. Schließlich fragte er: „Möchtest du die Taube in die Freiheit entlassen?“ „Oh ja“, schwärmte Gudrun schon fast. Später war es ihr peinlich, wie ein junges Mädchen eine solche Begeisterung geäußert zu haben. Aber Max schien es zu freuen. Er zeigte Gudrun, wie sie die Taube halten musste und dann ging sie ein wenig abseits. Sie küsste die Taube auf den Kopf und warf sie hoch in die Luft und eh sie sich versah, war die Taube bereits mit wenigen Flügelschlägen über die Burgmauer gen Süden davon geflattert. Am Mittag des nächsten Tages kehrte Baldur mit seinen Männern zurück. Insbesondere die Bürgerwehr war gezeichnet von der Erschöpfung und dem Entsetzen. Fünf Tote, einer von Baldurs Soldaten, vier von der Bürgerwehr, trugen sie auf zusammengeflickten Bahren. Auch Baldur wirkte erschöpft und enttäuscht. Als Heinrich ihm das Pferd beim Absteigen hielt, fragte er: „Habt ihr ihn erwischt?“ „Nein, er selbst konnte entkommen“, seufzte Baldur, „aber immerhin haben wir seine ganze Bande ausgelöscht. Ich denke, der Drachenhain ist wieder sicher.“ Niemanden stimmte dieser Teiltriumph fröhlich. Dafür hatte es einfach zu viel gekostet. Baldur ließ die Toten in der Burgkapelle aufbahren und schickte einen Bediensteten ins Dorf, den Pfarrer und die Familien hierher zu bitten. Der Rest seines Jagdtrupps zerstreute sich nach einem kleinen Dankgebet in der Kapelle. Der Pfarrer und Baldur empfingen die Familien in der Kapelle. In dem bescheidenen Gottesdienst würdigte Baldur den Mut der Männer in einer kleinen Ansprache und versprach den Familien, so lange für sie finanziell und mit Naturalien zu sorgen, bis sich die Frauen wieder verheiratet hätten. Nach dem Gottesdienst bat Baldur Gudrun zu sich. Ihr erteilte er die Aufgabe, jeden Monat Geld und ein paar Lebensmittel zu den Familien zu bringen. Sechs Taler sollten die Familien schon heute jeweils erhalten. Baldur und Gudrun gingen gemeinsam zur Schatzkammer. Gudrun holte den Schlüssel hervor und schloss die gewaltige Tür auf. Ihr verschlug es den Atem, als ihr Blick in die Schatzkammer fiel. Sie hatte sich ja schon einiges vorgestellt: Kisten voller Gold, Schmuck, edle Perlen, vielleicht auch teure Stoffe. Aber dies hier war mehr als ihre Augen verkraften konnten. Sie blickte in einen riesigen Raum, den die Fackel gerade so eben ausleuchten konnte. Doch der Raum enthielt nichts. Nichts, bis auf ein vereinzeltes Glitzern an der hinteren Wand. Dort standen gerade mal zwei Kisten. Beide enthielten Gold. Aber die zweite war schon mehr als halb leer. Baldur deutete auf die erste, wo eines der Bücher aufgeschlagen lag. Gudrun überflog kurz die letzten Posten:17. Mai | Diadem | 102 Taler |
21. Mai | Handwerker Aufbau | 13 Taler |
22. Mai | Goldene Ringe | 135 Taler |
23. Mai | Handwerker Abbau | 13 Taler |
26. Mai | Unterstützung Siechenhaus | 200 Taler |
26. Mai | Lebensmittel | 1 Taler |
26. Mai | Bier | 30 Groschen |
27. Mai | Milch | 17 Groschen |
30. Mai | Löhne Gesamt | 103 Taler |
2. Juni | Schuhe für Armenhaus | 30 Taler |
3. Juni | Instandsetzung Abwassersystem | 11 Taler |
5. Juni | Brunnenbau | 43 Taler |
und Gudrun tauchte die Feder ins Tintenfass und schrieb:
8. Juni | Auszahlung an Hinterbliebene Bürgerwehr | 24 Taler |
Angesichts dieser Zahlen war Gudrun ziemlich schnell klar, warum es um die Schatzkammer so schlecht bestellt war. Sie hatte sich selbst nie Gedanken darüber gemacht, dass die Sauberkeit und der niedrige Krankenstand im Dorf auch seinen Preis hatte.
Gudrun nahm 24 Taler aus der fast leeren Truhe. Baldur lächelte: „Perfekt. Ich wusste, dass du das Zeug zur Buchhalterin hast. Dann bin ich ja mal gespannt auf den Knappen Weiß.“ Gudrun auch. Zwei Tage hatte Stephan noch Zeit. Aufbrechen musste er spätestens am folgenden Tag.
Rückkehr
Am nächsten Tag beschäftigte sich Gudrun mit einem Kassensturz und bezahlte ausstehende Rechnungen. Sie war erstaunt, dass die Bücher mehr als akkurat geführt worden waren. Es gab nicht einen Heller Differenz. Das war eine Hohe Messlatte für Gudruns Fähigkeiten, aber sie schwor sich, nicht einen Deut schlechter zu sein als ihr Vorgänger.
Die nächste Nacht konnte Gudrun nicht schlafen. Sie ging in ihrem Zimmer beständig auf und ab. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, ging nach unten und sattelte Attila. Sie genoss es, im vollen Galopp zu spüren, wie die Nachtluft über ihr Gesicht und ihre Schenkel strich. Bald erreichte sie den See, der im Mondlicht funkelte wie ein einziges großes Juwel. Attila ließ sie grasend am Ufer, während sie sich entkleidete und ins Wasser glitt. Das Kribbeln auf der Haut ließ nach und bald ließ sie sich entspannt auf dem See treiben und betrachtete gedankenverloren den klaren Sternenhimmel.
Ihre Sinne waren geschärft. Sie hörte das Flüstern des Windes in den Wipfeln der Bäume, das Platschen der seichten Wellen an den Steg. Und plötzlich hörte sie das Knacken eines Zweiges am Ufer. Gudrun drehte sich blitzschnell herum und starrte angestrengt in die Dunkelheit des Waldes. Sie hörte Attila unruhig schnauben und dann ging alles ganz schnell. Ein Schatten löste sich aus dem Gebüsch und sprang auf Attila zu. Gudrun blieb nicht einmal Zeit für einen Schrei und schon saß der Schatten auf Attila und Attila bäumte sich auf. Doch vergebens. Schnell hatte der Schatten Attila unter Kontrolle und galoppierte mit ihm davon.
Viel zu spät kam Gudrun am Ufer an. Ihr war zum Heulen zumute. Und sie war sauer. Sauer auf sich selbst, so leichtsinnig gewesen zu sein. Schließlich hatte sie gewusst, dass Athos noch auf freiem Fuß war. Und wer sonst sollte spät des Nachts Pferde stehlen.
Der Morgen graute bereits, als sie sich auf den Rückweg machte. Auf halber Strecke hörte sie, wie sich von hinten ein Pferd näherte. Vom Trab fiel es in den Schritt, bis es kurz hinter Gudrun war. Gudrun ging zur Seite, um Platz zu machen, als sie ihre Augen aufriss und erkannte, wer dort auf dem Pferd saß. Jetzt verlor sie ihre Beherrschung und brach weinend zusammen. Der Reiter sprang vom Pferd und nahm sie zärtlich in den Arm.
„Was ist mit dir, Gudrun?“ Gudrun konnte nicht antworten und umarmte Stephan, denn kein anderer war es. „Ist ja schon gut“, flüsterte Stephan ihr ins Ohr. Ganz fest umarmten beide einander und es mochten wohl bald einige Minuten vergangen sein, bevor sich Gudrun wieder fasste. „Es ist schön, dass du da bist, Stephan“, lächelte Gudrun ein wenig, „wenn nur Athos mir nicht Attila geraubt hätte.“ „Wie? – Wann?“, fragte Stephan mit einer eigenartigen Betonung auf ‚Wann‘. „Vor wenigen Stunden hier am See. Ich badete gerade, als er mir Attila stahl.“ „Verflucht!“, entfuhr es Stephan. „Und ich habe ihn vermutlich noch gesehen. Ein Reiter kam mir in der Nacht entgegen und hätte mich beinahe über den Haufen geritten. Es ging schnell, zu schnell, als das ich etwas hätte erkennen können.“
„Sei froh“, sagte Gudrun, „was ich dir nicht schreiben konnte ist nämlich, dass Athos und seine Bande Steuereintreiber, Buchhalter, Kutscher und alle Soldaten, welche die Postkutsche eskortierten, umgebracht haben.“ „Ich hörte davon. Gerüchte fliegen manchmal schneller als Brieftauben. Ich nehme an, die plötzlich freigewordene Stelle hat damit zu tun?“ Gudrun nickte, woraufhin Stephan grinsend fortfuhr: „Dann scheinst du mich ja nicht sehr zu mögen, wenn ich eine solch lebensgefährliche Anstellung annehmen soll.“ „Wenn dann sterben wir wenigstens gemeinsam. Ich bin nämlich Baldurs neue Buchhalterin“, antwortete Gudrun, was Stephan erst erstaunt, dann aber erfreut aufblicken ließ. „Dann wollen wir mal sehen, was wir der Staatskasse Gutes tun können“, sprach Stephan und schwang sich aufs Pferd. Gudrun murmelte noch: „Schaden können wir ihr auf keinen Fall“, und schwang sich hinter Stephan aufs Pferd. Sie umklammerte seine Taille ganz fest mit ihren Armen und genoß seine Nähe. Sie sog seinen Duft in sich auf, spürte seinen Atem und wäre am liebsten mit ihm zu einer Einheit verschmolzen.
Bald waren sie auf der Burg. Baldur begrüßte Stephan mit einem amüsierten Lächeln: „Schön, dass wir uns so schnell wiedersehen.“ Er bat Stephan und Gudrun in die Bibliothek und wies insbesondere Stephan in seine Aufgaben ein. Schließlich erhielt Stephan den königlichen Siegelring seines Vorgängers. Stephan war schon ein wenig komisch zumute in Anbetracht dessen, dass dieser Ring sich zuvor noch an der Hand eines Toten befunden hatte.Stephan erhielt eine Kammer gleich neben Gudrun. Als Baldur die beiden verlassen wollte, hielt Gudrun ihn zurück: „Ich muss euch noch etwas sagen. Attila wurde mir geraubt. Ich befürchte, Athos war es.“ Baldur fluchte, doch als er Gudruns entsetzten Gesichtsausdruck sah, fügte er schnell beschwichtigend hinzu: „Nein, ich verfluche nicht dich, sondern ich fluche über die Tatsache, dass Athos nun beritten ist. Damit haben wir wohl keine Chance mehr, ihn zu fassen.“ Gudruns Entsetzen wich jetzt einem deprimierten Ausdruck. Sie fühlte sich schuldig, dass Athos nun wohl für immer entkommen sei. Und sie machte sich Sorgen um Attila. Sie hatte ihn inzwischen sehr lieb gewonnen und sie fühlte sich, als hätte Athos ihr ein Messer in den Rücken gerammt.
Leila
Gudrun folgte Stephan auf sein Zimmer und erklärte ihm erst einmal im Detail, soweit sie es selbst von Baldur erfahren hatte, was sie zu tun hätten. Stephans Aufgabe bestand darin, in den Ländereien die Steuern einzutreiben, während Gudrun alles verbuchte. Normalerweise sah das so aus, dass beide in ein Dorf ritten und dort am Versammlungsort jeder Steuerzahler zu ihnen kommen musste, um seine Steuerschuld zu begleichen. Stephans Aufgabe war es weiterhin, gegebenenfalls Strafen für Säumige zu erteilen oder die Säumigen gar aufzusuchen. In normalen Zeiten unterstützten ihn dabei nur zwei Soldaten als Eskorte. Doch auf Grund der Lage, insbesondere, da Athos noch nicht gefasst war, begleiteten ihn sechs Soldaten. Gudrun und Stephan gingen bald ins Bett, denn morgen sollten sie das erste Mal aufbrechen.
Es folgte eine anstrengende Woche für beide. Kein Tag, wo sie im selben Bett schliefen. Und jeden Tag schwitzten sie in der Sonne, um die Steuerzahlungen entgegen zu nehmen. Für romantische Gefühle blieb keine Zeit und abends waren beide so erschlagen, dass sie wie tot ins Bett fielen.Gudrun freute sich schon auf das Wochenende, um endlich mal mit Stephan allein zu sein. Doch Stephan musste sie enttäuschen. Am Samstag war er zu einem Imitationswettbewerb gemeldet. Es ging darum, den bekannten Barden Steffen zu imitieren, der, weil beim Laute spielen immer sein ganzer Körper mitzuzittern schien, der zitternde Steffen genannt wurde. Stephan hatte ihn Gudrun mal vorgespielt. Sie konnte nur herzlich über die komischen Bewegungen lachen. Da sie Steffen nicht kannte, wusste sie nicht, ob Stephan so komisch aussah, weil Steffen sich auch so komisch verhielt oder ob einfach seine Imitation so schlecht war. Die Preise, die Stephan gewonnen hatte, sprachen allerdings eine andere Sprache. Am Sonntag hatte er dann einen Auftritt bei einer Hochzeitsgesellschaft, was ihm für ein paar Stunden immerhin einen ganzen Taler einbrachte.
Diesmal nahm Gudrun es noch achselzuckend hin, schon wieder nicht mit Stephan zusammen sein zu können. Dann konnte sie endlich mal mit Birgit losziehen. Doch die nächsten Wochen war es das gleiche Spiel, bis Gudrun Stephan schließlich zur Rede stellte. Stephan sagte geknickt: „Es tut mir leid, dass du dich vernachlässigt fühlst. Ich hatte bisher den Eindruck, es mache dir nichts aus. Wärst du damit einverstanden, wenn ich mir ein Wochenende im Monat frei halte?“ „Drei!“ „Zwei?“ „Zwei und ein Hund.“ Stephan war verwirrt: „... und ein Hund?“ „Ja“, antwortete Gudrun, „ein Hund, der mir in den einsamen Stunden Gesellschaft leistet.“ „In Ordnung, dann also ein Hund. Hast du irgendeine Vorstellung, was für einen Hund du haben möchtest?“ „Aber sicher“, grinste Gudrun, „die Bäckerin aus dem Dorf würde mir einen Welpen abgeben.“ Stephan grinste: „So, so, dieser Teil des Kompromisses stand also schon lange vorher fest.“ Gudrun drehte die Augen zur Decke, wippte auf den Füßen und grinste unverschämt. „Wann darf ich sie denn sehen?“, fragte Stephan. Gudruns Grinsen wurde noch breiter: „Nächstes Wochenende.“ „Oh, das tut mir leid, Gudrun, da muss ich...“, Gudruns Blicke sprachen Bände, „da muss ich erst noch einen Termin absagen.“ Nun grinste Gudrun von einem Ohr bis zum anderen und gab Stephan ein Küßchen.
Das darauf folgende Wochenende wurde richtig schön. Früh am Samstagmorgen machten sich Gudrun und Stephan auf zur Bäckerin. Ein Welpe war schnell ausgewählt. Ein Welpe versuchte nämlich Gudruns Fuß hinauf zu klettern, scheiterte jedoch kläglich und kugelte vom Fußrücken herunter und blieb auf dem Rücken liegen. So lag der Welpe dann etwas hilflos da, bis die Hündin ihn mit der Nase anstubste und er wieder auf die Beine kam. Allerdings nur, um es danach gleich wieder zu probieren. Auch Stephan musste herzhaft lachen, obgleich es ihm morgens schwer gefallen war, sein Versprechen einzuhalten. Am liebsten wäre er doch noch zu dem Dorffest hin geritten, wo er hätte auftreten sollen. Von der Bäckerin bekamen sie noch ein paar Brötchen mit. Und so beschlossen Gudrun und Stephan zum See zu reiten und dort ein Frühstückspicknick zu machen. Von Birgits Mutter bekamen sie noch Käse und Konfitüre, einen Nudelsalat und ein paar Würstchen. Stephan bekam gleich eines auf die Hand und lächelte als wie ein Kind so glücklich. Herzhaft biss er ins Würstchen, woraufhin Gudrun vorwurfsvoll seufzte. Stephan brach etwas vom Würstchen ab und gab es Leila, wie Gudrun den Welpen getauft hatte. So ritten beide los zum See. Am See angekommen kniete Gudrun an der Stelle nieder, wo Attila zuletzt friedlich graste. Stephan tat es ihr gleich und beide beteten zu Gott, Attila bald wieder gesund und munter zu sehen. Sie hatte gerade das ‚Amen‘ über die Lippen gebracht, als Stephan aufsprang und zum See hastete. Leila wollte gerade ausprobieren, ob sie schwimmen konnte. Aber Stephan war sich sicher, sie wäre wie ein Stein untergegangen. Das Frühstück wurde wunderschön. Es war noch so früh, dass die Sonne sich nicht vollständig den Weg durch den Morgennebel gebahnt hatte und über dem See schwebte der Nebel wie eine zarte, weiche Wolke. Die Vögel gaben ihr Konzert speziell für die beiden. Der Tag bestand nur aus Essen, Schwimmen und mit Leila spielen. Selbst Stephan musste zugeben, dass ihm diese Pause gut tat. Sie schmiedeten beide Pläne für die Zukunft. Ein Haus wollten sie sich bauen, ein Haus gleich hier am See. Stephan zeichnete schon einmal den Grundriss in den weichen Waldboden. Eine Küche, eine Wohnstube, ein Schlafzimmer und, Stephan mochte nicht darauf verzichten, ein Musikzimmer. Gudrun erweiterte den Grundriss noch um ein weiteres Zimmer. „Ein Zimmer für dich?“, fragte Stephan. „Nur, wenn du nicht bereit bist, dich des Nachts auch mal aus dem Bett zu erheben, um nach unserem Kleinen zu sehen“, antwortete Gudrun lächelnd. Stephans Augen glänzten vor Freude und er zeichnete noch ein weiteres Zimmer. „Oh nein, Herr von und zu Weiß“, empörte sich Gudrun übertrieben ärgerlich, „es bleibt bei einem Kind. Du musst ja nicht die ganzen Wehen aushalten oder das Geplärre den ganzen Tag über.“ Stephan lächelte: „Lass es uns erst einmal bauen. Später können wir immer noch entscheiden, was aus dem Zimmer wird.“ Gudrun lachte und Stephan nahm sie, eh sie es sich versah, auf den Arm, trug Gudrun über die Schwelle des Hauses und hinein ins Schlafzimmer, wo er sie auf ein weiches Moosbett niederlegte. Gudrun zog Stephan zu sich nach unten. Doch plötzlich sprang Stephan auf und hechtete zum Seeufer. Leila wollte schon wieder baden gehen. Schließlich musste Leila im Kleiderhaufen von Gudrun und Stephan liegen, von Stephan als kleiner Ringwall angehäuft. Leila freute sich über die Kleidungsstücke, die sie vollsabbern zu meinen durfte und das Liebespärchen zog sich für ein paar schöne Stunden ins Schlafzimmer zurück. Inzwischen war es Abend geworden und sie ritten zurück in die Burg. Schon auf dem Rückweg wurden sie immer wieder von kräftigen Windböen erfasst und wenige Zeit nach ihrer Ankunft in der Burg fing ein starkes Gewitter an. Leila verkroch sich vor Angst unter Gudruns Bett. Auch der nächste Tag war völlig verregnet und so setzten sich Gudrun und Stephan in die Bibliothek. In einer Ecke der Bibliothek stand ein Spinett. Stephan setzte sich daran und spielte ein paar wundervolle Melodien. Gudrun schloss die Augen und versank in Träumereien. Es knarrte ein wenig als die Tür aufging und Birgit herein kam. Gudrun schreckte auf und sah Birgit in der Tür stehen. Auf Birgits fragenden Blick hin nickte Gudrun ihr zu und Birgit setzte sich auf einen der Stühle und lauschte der Musik. Wenig später kam Alexander, Heinrich und auch Max. Es dauerte nicht lange und das halbe Personal und ein paar Soldaten saßen andächtig versammelt in der Bibliothek. Als die Tür wieder knarrte, winkte Gudrun nur müde. Baldur kam herein und schlich zu einem der wenigen freien Stühle. Heinrich machte Anstalten, von Baldurs Lieblingssessel aufzustehen. Doch Baldur winkte ab. Stephan lächelte weltentrückt und seine Finger schwebten in atemberaubender Geschwindigkeit über die Tasten. Extra für Baldur spielte er auch seine eigene Interpretation des Barle de Chevaux. Baldur und alle anderen klatschten Beifall. Ein Mädchen, das Stephan offensichtlich kannte, bat ihn, den zitternden Steffen nachzuahmen. Stephan verbeugte sich vor dem Mädchen und legte los. Und Stephan gelang es, den Zauber des zitternden Steffen zu verbreiten. Alle wippten begeistert auf ihren Stühlen mit. Baldur wippte gar so kräftig, dass sein Stuhl beinahe umgestürzt wäre. Als Stephan endete wollte der Applaus gar nicht enden. Baldur ging zum Spinett und dankte Stephan herzlich für diese kurzweilige Unterhaltung und fragte, ob Stephan demnächst auf Baldurs Fest auftreten wolle. Natürlich gegen gute Bezahlung. Hätte Stephan es Baldur gegenüber vielleicht noch ablehnen können, den vielen bittenden Augen in der Bibliothek konnte er diese Bitte nicht abschlagen. Und auch Gudrun war glücklich. Denn wenn Stephan hier spielte, musste sie zumindest nicht völlig auf ihn verzichten. So ging der Tag vorüber und endete noch mit ein paar versöhnlichen Sonnenstrahlen.Überraschung
Die nächste Woche begann so aufgabenreich wie auch die vorige. Gudrun blieb diesmal allerdings in der Burg, um dort die Bücher auf den aktuellen Stand zu bringen. Umso mehr hatte Stephan in den Dörfern zu tun, da er jetzt die Steuereinnahmen auch gleich in die Listen eintragen musste, die später in die Bücher zu übertragen waren.
Zudem stand gleich am Montag ein sehr großes Dorf an, dass bereits mehrmals Stadtrecht beantragt hatte. Entsprechend hatte es viele Einwohner und viele Geschäfte, die Stephan meist einzeln aufsuchte. Eines dieser Geschäfte war eine Spelunke, in welcher fragwürdige Personen verkehrten und man sagt, die Zimmer in der oberen Etage würden meist nur stundenweise vergeben. Stephan bat den Wirt um seine Bücher und setzte sich an einen der Tische, um sie zu überprüfen. Es gab einige Hinweise, dass die Bücher manipuliert worden waren. Jedoch konnte Stephan nichts konkretes finden.
Als Stephan gerade aufstehen wollte, um dem Wirt noch ein paar Fragen zu stellen, erstarrte er wie vom Donner gerührt. Durch die Fensterluke sah er Attila. Stephan bildete sich nicht ein, ein guter Pferdekenner zu sein, aber diese Blesse war unverkennbar. Attila war vor der Spelunke angebunden worden. Vom Reiter war nirgends etwas zu sehen.
Vorsichtig setzte sich Stephan wieder und schaute sich im Schankraum um. Niemand, der Athos auch nur ähnlich sähe. Bis eine Wand zur Seite glitt. Stephan hätte es gar nicht bemerkt, hätte der Wirt nicht plötzlich verärgert in diese Richtung gesehen.
Zwei Herren und eine Damen kamen durch den freigewordenen Durchgang. Die Dame sah aus, als wäre ihr der Leibhaftige erschienen. Und vielleicht ist es auch so gewesen, denn als vierte Person kam ein Mann mittleren Alters heraus, der mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht durch den Durchgang schlenderte und mit einem prall gefüllten Geldbeutel spielte.
Stephan wusste nicht viel über Athos. Aber seine Narbe unter dem Auge war bekannt und das Muttermal auf seiner Stirn legendär. Dort soll der Geist des Räuberhauptmanns Drache in ihn gefahren sein. Stephans Gedanken explodierten. Was sollte er tun? Athos jetzt und hier stellen? Er hatte Gudruns Beschreibung der Leichen des Überfalls noch gut in Erinnerung und ob es nun Vernunft oder Angst war: Er wollte nicht so enden wie sie. Er besann sich darauf, erst einmal Athos zu beobachten. Falls er hier unterkäme, würde er seinen Soldaten und dem Dorfwächter Bescheid geben und alle gemeinsam sollten wohl in der Lage sein, Athos zu überwältigen.
Als eine leicht bekleidete Dame an Athos vorüberging, hielt er sie am Arm zurück und drehte sie in seine Arme. Er gab ihr einen langen Kuss und steckte ihr einen Taler ins Dekolletee. Woraufhin sich die Miene der Dame, Stephan weigerte sich immer noch, einen anderen Ausdruck zu verwenden, gleich aufhellte. Sie nahm Athos bei der Hand, er rief dem Wirt noch etwas zu und beide entschwanden nach oben, gleich in den ersten Raum neben der Treppe.
Stephan sah seine Chance, legte ein paar Heller auf den Tisch für das Bier und ging raschen Fußes nach draußen. Er hatte Glück, denn er sah, dass die Soldaten inzwischen beim Dorfwächter im Haus waren.
Als er sich ein paar Schritte entfernt hatte, stockte Stephan im Schritt. Er drehte sich um, sah Attila und dann hatte er Gudruns Gesicht vor Augen. Er kam sich vor wie ein Pferdedieb bei den folgenden Gedanken, doch dann beruhigte er sein Gewissen damit, dass er auf diese Art Athos die Flucht erschweren würde.
Er ging zu Attila und streichelte ihm über die Blesse. Attila schien Stephan zu erkennen, auch wenn er ihn kaum kennen konnte und blieb ganz ruhig. Stephan löste Attilas Zügel und führte ihn hinter das Haus des Dorfwächters, wo er ihn an einem Baum festband.
Dann ging er hinein zum Dorfwächter, wo dieser wohl gerade den Soldaten beim Kartenspiel die Hosen auszog. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Soldaten dienstbeflissen aufsprangen, wohingegen der Dorfwächter eher enttäuscht wirkte. Stephan schilderte die Situation und dass er bereits Athos‘ Pferd sichergestellt habe. Der Dorfwächter gratulierte ihm für so viel Umsicht.
Der Plan Athos gefangen zu nehmen hatte nichts Aufsehen erregendes. Zwei Soldaten sollten den Hinterausgang bewachen, zwei den Haupteingang. Der Dorfwächter zusammen mit zwei weiteren Soldaten und Stephan im Gefolge, da er als einziger Athos identifizieren konnte, betraten die Kneipe. Ihr Auftritt erregte Aufsehen. Die Musik schwieg und jegliche Unterhaltung brach ab. Alles starrte auf die vier Personen, die gerade die Kneipe betreten hatten.
Oben fiel etwas um und die Tür öffnete sich einen kleinen Spalt weit. Als Stephan aufblickte, wurde sie sofort wieder geschlossen. Der Dorfwächter rannte allen voran die Treppe hinauf und mit aller Wucht gegen die Tür. Ohne Wirkung, außer dem schmerzverzerrten Gesicht des Dorfwächters. Athos musste die Tür verrammelt haben. Die Soldaten nahmen Anlauf und der Türrahmen krachte. Sie nahmen erneut Anlauf und diesmal brach der Türrahmen entzwei und beide Soldaten stolperten ins Zimmer, wo die Dame von vorhin die Arme vor ihrer Blöße verschränkte. Athos war nicht zu sehen.
Die Soldaten und der Dorfwächter fingen an, das Zimmer zu zerlegen, als Stephan etwas einfiel. Er ging einen Schritt durch die ehemalige Tür hinaus auf den Flur und sah sich Athos direkt gegenüber. Er war aus dem Nachbarzimmer gekommen. Eh Stephan sich versah, nahm Athos Anlauf und sprang über das Geländer in den Schankraum. Stephan rief: „Hinterher!“, und nahm die Verfolgung auf, wagte jedoch nicht den Sprung sondern sprang stattdessen in großen Schritten die Treppe hinunter.
Athos war gerade durch die Tür des Spielzimmers verschwunden. Stephan rannte hinterher und hörte hinter sich schon das Poltern der Schritte der Soldaten. Hinter der geöffneten Wand ging es eine lange Treppe hinunter. Unten brannte ein Licht, so dass Stephan grob die Stufen erkennen konnte. Als Stephan gerade auf halber Höhe war, erlosch das Licht. Stephan verfehlte die nächste Stufe und fiel die Treppe hinunter. Dann traf etwas Schweres seinen Kopf und er verlor das Bewusstsein. „Schlimme Wunde...“ — „... der Teufel ihn holen...“ — „... schlagen wir dir die Hand ab!“ — „Nein! Bitte, bitte nicht!“ Der Schrei des Gastwirts brachte Stephan wieder zu vollem Bewusstsein. Er lag auf einer Bank und auf dem Stuhl neben ihm saß ein Mann, der gerade etwas in einem Mörser zerdrückte, um es dann in ein Glas zu geben und es mit Wasser aufzufüllen. Der Barbier, wie Stephan später mitbekam. Er flößte Stephan das bitter schmeckende Mittel ein und so langsam nahm Stephan auch den Rest der Umgebung wahr. Etwas weiter entfernt saß der Wirt auf einem Stuhl. Ein Soldat hielt ihn fest, der andere fixierte seine Hand auf dem Tisch. Der Dorfwächter hielt eine Axt in der Hand und prüfte gerade die Schärfe mit dem Daumen. Er lächelte, als ein Blutstropfen über die Klinge lief. Probeweise holte er mit der Axt aus und ließ sie nur einen Spann entfernt von der Hand des Wirts in den Tisch krachen. „Nein, bitte, ich erzähle alles, was sie wissen wollen. Die Bücher, die sind manipuliert, ich schlage die Huren, wenn sie nicht ausreichend verdienen, letzte Woche habe ich gegen die Kutsche des Dorfschulzen gepisst, im königlichen Wald habe ich Hasen gejagt...“, wimmerte der Wirt so schnell, dass die Worte ineinander flossen. „Ruhe, zum Donnerwetter!“ Selbst Stephan fuhr bei der gewaltigen Stimme des Dorfwächters zusammen. „Wo ist Athos?“ – „Ich... weiß es doch nicht“, wimmerte der Wirt weiter. Als der Dorfwächter allerdings in aller Ruhe die Axt aus dem Tisch löste, fügte der Wirt hastig hinzu: „Ein Geheimgang, im Spielzimmer, führt in den Wald, zu einer Jagdhütte, habe ein Pferd dort und Proviant. Nur für mich, nicht für Athos, ich wusste ja nicht, ...“ „Genug“, unterbrach ihn der Dorfwächter, „wie kommt man in den Geheimgang?“ „Unter der Diele – ein Hebel, gleich unter dem Bild.“
Der Dorfwächter schlug erneut mit der Axt auf den Tisch, so dass dieser zusammen brach. Auch der Wirt war dem Zusammenbruch nahe und ließ sich ohne Widerstand die Hände binden. Einer der Soldaten am Eingang führte ihn zum Gefängnis, während der Dorfwächter und die zwei Soldaten sich Fackeln nahmen. „Kommen sie mit, Herr Steuereintreiber?“, fragte der Dorfwächter und als Stephan nicht reagierte: „Nun?“ Stephan nickte langsam und machte Anstalten sich aufzurichten. „Schnell, Athos hat einen riesigen Vorsprung“, trieb der Dorfschulze zur Eile. Der Barbiert half Stephan auf. Stephan war erst ein wenig schwindelig und übel. Er sammelte seine Sinne und folgte den Soldaten, die schon ins Spielzimmer verschwunden waren.
Als er im Spielzimmer ankam war die Geheimtür bereits geöffnet. Stephan fiel der eiserne Kerzenleuchter auf dem Boden auf und rieb sich gedankenverloren seine Beule. Es hatte den Eindruck, sie würde immer noch beständig wachsen.
Der Geheimgang war eng und roch muffig. Immer wieder verengten Stützpfeiler den Gang noch mehr, so dass man sich teilweise seitwärts durch den Gang schieben musste. Stephan bemerkte, wie der Gang langsam anstieg. Schließlich sahen sie Tageslicht und alle legten noch einen Schritt zu. Der Gang endete in einer kleinen Höhle, in der man zur Not hätte schlafen können. Aber bereits für eine zweite Person wäre es zu eng geworden. Einer der Soldaten ging vor zum Ausgang, das Schwert gezogen. Dann rannte er los zum nächsten Baum. Ein Pfeil prallte von der Höhlenwand ab. Alle gingen in Deckung. Der Soldat draußen deutete auf einen der Büsche. Jetzt war der Dorfwächter an der Reihe. Er nahm Anlauf und dann fiel Stephan die Kinnlade herunter, als er sah, wie der Dorfwächter sich noch vorne schmiss, eine Rolle machte und dann wieder auf die Beine kam und weiter rannte. Die Rolle mag ihm das Leben gerettet haben, denn auf Kopfhöhe steckte ein Pfeil in der lehmigen Höhlenwand.
Soldat und Dorfwächter fingen an, Athos einzukreisen. Dabei gaben sie sich keinerlei Mühe unauffällig zu sein. Der Soldat in der Höhle nickte zufrieden und rannte ebenfalls hinaus. Kein Pfeil. Stephan wartete nicht lange und rannte auch los. Wiederum hatte Athos wohl andere Sorgen, als Pfeile auf einen Steuereintreiber zu verschießen. Stephan ging in Deckung. Sie waren ganz nah an der Jagdhütte. Von den anderen konnte Stephan nichts mehr sehen. Ab und zu raschelte etwas in den Büschen, doch jedesmal, wenn Stephan hinsah, war alles wieder still.
Plötzlich riss ihn etwas zurück und er spürte kaltes Metall an seiner Kehle. Athos brüllte: „Zeigt euch und lasst eure Waffen fallen oder ihr braucht einen neuen Goldesel.“ Die Soldaten traten sofort aus den Büschen und ließen ihre Schwerter fallen. Der Dorfwächter zögerte etwas und dann dauerte es eine halbe Ewigkeit, in der Stephans Schweiß auf die Klinge tropfte, bis er sein Schwert fallen ließ.
„Gut. Du! Dorftrottel, nimm diese Bogensehnen.“ Athos warf einen kleinen Lederbeutel zum Dorfwächter: „Und binde den anderen Herren die Handgelenke zusammen. Ich möchte sehen, dass die Sehnen ordentlich ins Fleisch schneiden.“ Wieder zögerte der Dorfwächter. Diesmal brachte das Zögern Stephan einen Schnitt am Hals ein. Dann nahm der Dorfwächter den Beutel vom Boden auf und band den Soldaten die Hände zusammen. „Fester“, brüllte Athos und der Dorfwächter tat, wie ihm geheißen. Die Soldaten quittierten es mit schmerzverzerrten Gesichtern.
In einer fließenden Bewegung löste Athos das Messer von Stephans Hals, warf es kurz in die Höhe, fing es an der Klinge und schleuderte es auf den Dorfwächter. Das Messer traf ihn mitten in die Brust und er sackte zu Boden. Bevor Stephan an Flucht denken konnte, hatte Athos sein Schwert zur Hand und drückte es Stephan in den Rücken. Zu den Soldaten rief er: „Und ihr zwei! Ihr geht zurück und sagt den anderen Bescheid, dass sie nicht folgen sollen.“ Die Soldaten gingen zum Höhleneingang und Athos stieß Stephan vorwärts zur Leiche des Dorfwächters. Er zog das Messer aus der Brust, holte aus und schleuderte es zum Höhleneingang. Ein Soldat sackte zusammen. Athos grinste teuflisch: „Mir fiel gerade ein, dass einer zum Bescheid sagen reicht.“ Stephan war entsetzt. Er hatte zwar von Athos Werk bei der Postkutsche gehört, aber nie hatte er sich einen Menschen vorstellen können, der so eiskalt ist.
Verfolgung
Wieder einmal gab es einen Tumult im Burghof. Gudrun fühlte sich an den Überfall der Postkutsche erinnert und voll Sorge lief sie hinaus. Sie war erleichtert, als sie die Soldaten, die Stephan eskortiert hatten, sah. Dann fiel ihr jedoch auf, wie Baldur mit hochrotem Kopf mit einem der Soldaten redete. Und da sie Stephan nicht sehen konnte, flammte die Sorge in ihr erneut auf.
Als Gudrun näher zu Baldur ging, hörte sie, wie der Soldat berichtete: „...Hauptmann getötet. Feige mit einem Messer in den Rücken. Ich flüchtete durch den Geheimgang. Von Athos und Stephan hörte ich nichts mehr. Ich glaube aber nicht, dass Athos ihn getötet hat...“, Gudrun fühlte sich der Ohnmacht nah, „da er ihn als Geisel braucht. Aber wir müssen schnell handeln, sonst fühlt sich Athos zu sicher und tötet Stephan doch noch.“ Baldur stimmte zu. Schnell erteilte er ein paar Befehle und schließlich machten sich zwanzig Mann bereit.
Gudrun zögerte nicht einen Augenblick, rannte in den Stall und wollte Lunewunder satteln. Erstaunt sah sie, dass Lunewunder nicht allein im Stall war. Heinrich war dort. Und Attila. Gudrun flossen die Tränen über die Wangen, einerseits vor Glück über Attilas Rückkehr, andererseits vor Schmerz über Stephan.
Heinrich lächelte ihr tröstend zu. Er griff zu Gudruns Sattel und zurrte ihn auf Attila fest. Dann hob er ein Schwert auf, dass in einer kunstvoll verzierten Scheide steckte und reichte es Gudrun mit den Worten: „Für dich Gudrun. Damit du Athos den Garaus machen kannst. Das Schwert ist seit vielen Generationen im Familienbesitz. Und da ich dich wie eine Tochter liebe, sollst du es nun haben.“ Gudrun fiel Heinrich in Tränen aufgelöst um den Hals. „Danke, vielen Dank“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Sie legte das Schwert an und führte Attila aus dem Stall. Baldur war nicht sonderlich überrascht, sie zu sehen. Er gab den Befehl zum Aufbruch.
Flucht
Athos schubste Stephan Richtung Stall. Im Stall stand ein Pferd. Als Stephan sah, wie das Pferd es vermied auf seinen rechten Vorderhuf aufzutreten, verstand er, warum Athos nicht längst über alle Berge war. Athos nahm einen Lederriemen von einem Haken und warf ihn Stephan zu: „Binde dir die Beine zusammen. Aber so, dass du gerade so eben einen Schritt vor den anderen machen kannst.“ Stephan band sich die Füße zusammen. Als er fertig war, brüllte Athos: „Renn!“ Stephan war verwirrt. Trotzdem ging er so schnell, wie es ihm mit den gebundenen Beinen eben möglich war. „Renn, sagte ich, renn, wenn dir dein Leben lieb ist“, brüllte Athos und schwang drohend sein Schwert. Stephan setzte an zu rennen und es passierte, was passieren musste. Er stürzte der Länge nach hin und sein Knöchel schmerzte fürchterlich. Athos grinste: „Gut so. Und nun steh auf und nimm den Sack dort drüben. Du wirst ihn mir schleppen.“ Stephan humpelte zum Sack. Langsam ließ der Schmerz wieder nach. Er schulterte den Sack. Athos deutete nach draußen. „Vorwärts“, befahl er.
Der Weg führte sie quer durch den Wald. Nur selten gab es die Andeutung eines Weges. Trotzdem schien Athos genau zu wissen, wo er hin wollte. Am Abend band Athos Stephan an einem Baum fest. Aus dem Sack holte er sich Proviant und einen verschlossenen Krug. Er enthielt eine klare Flüssigkeit. Stephan vermutete, dass es irgendein Schnaps war. Stephan bekam etwas Wasser und Athos fütterte ihn ab und an mit Brot. Dann legte er sich schlafen. Stephan konnte nicht schlafen. Und wenn er doch einmal kurz davor war, einzunicken, heulte irgendwo ein Wolf. Hilflos, wie Stephan da saß, wagte er es einfach nicht einzuschlafen.
Am nächsten Morgen ging es weiter. Plötzlich strauchelte Stephan und fiel zu Boden und begrub den Sack unter sich. Etwas im Sack zerbrach. Athos trat Stephan ärgerlich in die Seite. Er fluchte über den guten Tropfen und befahl Stephan, aufzustehen und weiter zu gehen. Ein paar Scherben fielen aus einem kleinen Loch im Sack und beständig tropfte es aus dem Sack. Abends band Athos Stephan wieder an einen Baum. „Und glaub ja nicht, dass du heute zu essen oder zu trinken bekommst“, blaffte er Stephan an.
Als Athos eingeschlafen war, wurde Stephan rege. Er ließ eine Scherbe aus seinem Ärmel in die Handfläche gleiten und rieb am Seil. Schließlich riss es entzwei. Stephan war frei. Vorsichtig richtete er sich auf und nahm Athos‘ Schwert, welches senkrecht im Boden steckte. Stephan holte aus. Doch er konnte es nicht tun. Zu sehr achtete er das Leben und das fünfte Gebot.
Er drehte das Schwert und schlug Athos den Griff auf den Kopf. Dann schleifte er Athos‘ erschlafften Körper zum Baum, band ihm zunächst die Hände mit einer Bogensehne und band ihn selbst dann mit dem Seil an dem Baum fest. Schließlich verpasste er Athos noch eine Augenbinde. Einerseits, weil er Athos nicht mehr in die Augen gucken wollte, andererseits aber auch, um ihm die Möglichkeit zu nehmen mit den Augen irgendwelche Fluchtmöglichkeiten zu erkennen. Sorgsam achtete Stephan noch darauf, dass keinerlei spitze Gegenstände auch nur annähernd in Athos‘ Reichweite waren.
Stephan nahm Schwert und Scheide und legte sie sich an. Auch Bogen und Köcher nahm er an sich und vom Proviant gerade so viel, wie er bequem tragen konnte. Dann war er soweit fertig. Doch wohin? Stephan fehlte jegliche Gabe, sich im Wald zu orientieren. Aber er meinte, dass er den Weg zurück schon finden würde.
Athos stöhnte. Einerseits war Stephan froh darüber, da es bedeutete, dass er Athos nicht getötet hatte. Andererseits bedeutete es, dass Athos langsam zu sich kam. Und Stephan wollte nicht dabei sein, wenn Athos wieder voll bei Bewusstsein war. Also zog Stephan eilig los. Er hatte vielleicht eine halbe Meile hinter sich gebracht, da hörte er, wie Athos brüllte. Selbst die Vögel in den Bäumen flüchteten vor diesem hasserfüllten Gebrüll.
Stephan legte einen Zahn zu, doch er vermeinte Athos noch lange, ewig lange zu hören. Schließlich bildete er es sich vielleicht auch nur noch ein. Stephan irrte durch den Wald, bis die Nacht herein brach. Er kletterte auf einen Baum und versuchte es sich dort bequem zu machen. Zumindest dauerte es nicht lange, und Stephan schlief ein.
Suche
Gleich nachdem sie die Burg verlassen hatten, galoppierten sie wie die Besessenen. Trotzdem dauerte es bis zum Abend, bevor sie im Dorf ankamen. Baldur befahl, dem Wirt der Spelunke, seine Gäste und Damen vor die Tür zu setzen. Dafür bezogen Baldur, Gudrun und die Soldaten die Zimmer. Gudrun bekam ein Zimmer für sich. Ein schwerer Duft lag im Raum. Tapeten, Lampen, Bettwäsche, alles war in Rot gehalten. Das Bett war bequem, weich gefedert. Trotzdem vermochte Gudrun die Nacht über kaum ein Auge zu zu tun.
Gleich nach Sonnenaufgang brachen sie wieder auf. Am Wald angekommen, teilten Baldur die Soldaten in fünf Gruppen. Gudrun und er ritten mit einer der Gruppen. Der Plan war, einen möglichst großen Bereich des Waldes abzusuchen. Baldurs Gruppe ritt zuerst zur Jagdhütte. Sie bestatteten den Dorfwächter und den Hauptmann. Dann versuchten sie, den Spuren zu folgen. Nur einer der Soldaten war geübt darin, Fährten zu lesen. Er stieg ab und führte die Gruppe. Ein Meister des Fährtenlesens war er jedoch nicht. Immer wieder stand er unentschlossen da. Schließlich aber fanden sie die erste Feuerstelle. Hier stießen sie auf eine der anderen vier Gruppen. Auch sie hatten bislang nichts weiter entdeckt. So zogen alle weiter. Baldurs Fährtenleser führte sie bis zu einem kleinen Bach, bis er erkennen musste, dass eine Spur auch wieder zurück zur Feuerstelle führte. Hier hatte wohl nur jemand Wasser geholt. Gudrun war es schließlich, die einen Fetzen von Stephans Hose an einem Dornenbusch fand. Kurz danach fanden sie auch wieder ein paar Spuren. Stephan irrte inzwischen durch den riesigen Wald. Er hatte schlecht geschlafen, sein Rücken schmerzte. Doch er war froh, auf dem Baum übernachtet zu haben. In der Nacht sah er nämlich Wölfe auf einer mondhellen Lichtung gleich neben seiner Schlafstätte. Einer kam seinem Baum sehr nahe, doch bald zog das Rudel weiter in die Richtung, aus welcher er gekommen war. Schließlich stieß Stephan auf einen Bach. Endlich konnte er etwas trinken. Und dann entschied er sich dem Bachlauf zu folgen. Zum ersten bestand so nicht die Gefahr, dass er im Kreis liefe, zum zweiten hatte er so immer etwas zu trinken und drittens finden sich oft menschliche Behausungen dort, wo Wasser ist. Vielleicht floss der Bach ja sogar in die Lune, die nicht weit entfernt sein konnte. Und von dort aus würde er den Heimweg finden. Es wurde wieder Nacht. Stephan hatte lange nach einem bequemen Baum gesucht. Er fand einen weit ausladenden Baum, dessen Hauptstamm sich etwas über Mannshöhe gabelte. Ein perfekter Schlafsitz. Stephan polsterte ihn etwas mit Moos. Bald war er eingeschlafen und träumte von Gudrun. Manche Eule mag erstaunt auf das lächelnde Gesicht des Schlafenden geblickt haben. Baldurs Gruppe hatte sich auch niedergelegt. Reihum hielten sie Wache. Als einer der Soldaten Gudrun zur Wachablösung weckte, hörten sie plötzlich ein Geräusch. Beide erstarrten. In der Dunkelheit sahen sie ein Paar leuchtende Augen. Erst ein Paar, dann zwei. Schnell weckte Gudrun Baldur und der Soldat die drei anderen. Ein Wolf hatte inzwischen die Lichtung betreten und weitere waren direkt hinter ihm. Baldur brüllte sie an, doch statt zu flüchten knurrte der Leitwolf und zeigte seine Zähne. Dann ging alles ganz schnell. Der Leitwolf fiel Baldur an, der gerade noch seinen Arm zwischen die scharfen Zähne des Wolfes und seine Kehle bringen konnte. Die anderen Wölfe taten es ihm gleich und sprangen direkt an die Kehlen, anstatt zu versuchen in die Beine zu beißen. Ein Soldat reagierte zu spät. Der Wolf riss ein großes Stück aus seinem Hals. Mit weit aufgerissenen Augen fiel er tot zu Boden. Gudrun erschlug einen Wolf mit Heinrichs Schwert. Ein zweiter Wolf verfehlte sie im Sprung und zerriss nur Gudruns Kleidung. Einer der Soldaten erlegte den Wolf, bevor er einen zweiten Angriff starten konnte. Bis auf den einen Soldaten verloren sie niemanden. Aber jeder trug Wunden davon. Am schlimmsten war Baldur verletzt. Sein linker Arm blutete Stark. Gudrun verband ihn, so gut sie konnte. Dann bat sie einen der Soldaten sofort mit Baldur zurück ins Dorf zu reiten. Baldur wollte etwas erwidern, aber er merkte selbst, wie schnell ihn seine Kräfte verließen. Der Soldat und Baldur waren gerade weg, als der Himmel langsam heller wurde. Sie nahmen ein karges Frühstück zu sich und dann befahl Gudrun aufzusitzen. Die Soldaten gehorchten, wie sie Baldur gehorcht hätten. Der Fährtenleser meinte, er hätte gestern abend noch die Richtung auskundschaftet, in die sie weiter mussten und schon trabten sie los. Stephan erwachte, als die ersten Sonnenstrahlen seine Nase kitzelten. Er hatte wunderbar geschlafen, fühlte sich frisch und erholt. Er wusch sein Gesicht im Wasser des Baches und nahm einen kräftigen Schluck. Nachdem er ein Stück Brot gegessen hatte, sammelte er seine Sachen zusammen und zog weiter. Er kam gut voran. Irgendwann merkte er, dass die Strömung des Baches zunahm. Er rätselte noch, warum, da hörte er, wie auch der Geräuschpegel zunahm und plötzlich stand er vor einem Abgrund. Der Bach ergoß sich in einen kleinen Wasserfall gut 500 Fuß in die Tiefe. Links oder rechts schien es keine Möglichkeit zu geben, hinunter zu gelangen. Stephan blieb keine andere Wahl, wenn er seine Idee nicht aufgeben wollte, dem Bachlauf zu folgen. Er trennte sich von allem, was er an Proviant entbehren konnte. Dann band er sich den Sack fest auf den Rücken und begann den Abstieg. Seine Schuhe waren definitiv nicht zum Klettern geeignet. Die Sohle war viel zu weich. Das Oberleder war schnell durchgescheuert und wenig später bluteten seine Zehen. Seine Arme schmerzten. Irgendwann machte der Schmerz einem tauben Gefühl platz. Immer öfter rutschte er ab. Auf dem Felsen hinterließ er deutliche blutige Abdrücke. Und dann reichte seine Kraft nicht mehr, den nächsten Abrutscher abzufangen. Stephan stürzte. Er stürzte zehn Fuß tief und schlug auf weichem Moosboden auf. Stephan lachte. Er lachte wie irre und sah sich auf dem Rücken liegend seine völlig aufgerissenen Hände an.Es war um die Mittagszeit als der Fährtenleser anhielt. Die anderen zwei schlossen zu ihm auf. Gudrun ritt vor. Sie stieg ab und der Führer deutete nach vorne und legte den Finger an die Lippen. Gudrun sah, was er meinte. Durch ein paar Büsche hindurch konnte sie eine Lichtung erkennen. In ihrer Mitte war eine Feuerstelle und an einen Baum gelehnt saß ein Mann. Die zwei schlichen näher.
Gudrun fiel als erste auf, dass sein Bein merkwürdig abgewinkelt da lag. Dann flüsterte auch der Fährtenleser, dass da irgend etwas nicht stimme. Sie schlichen vorwärts. Als Gudrun mehr Details entdeckte, wurde ihr schlecht. Das Bein lag nicht nur komisch da, es war außerdem zerfetzt. Die ganze Wade fehlte. Der Waldboden rund um den Mann war blutüberströmt. Gudrun bat darum, zurück bleiben zu dürfen.
Der Fährtenleser schlich weiter. Bei dem Mann angekommen band er ihm die Augenbinde ab. Es war Athos. Seine Augen waren weit aufgerissen. Als der Fährtenleser ihn losband, kippte Athos leblos zur Seite und eine weitere Wunde wurde sichtbar. Seine ganze ganze linke Körperhälfte war bis auf die Knochen abgenagt. Gudrun konnte nicht mehr an sich halten und ihr karges Frühstück ergoss sich auf den Waldboden.
Der Fährtenleser packte die Leiche in eine Decke und band ihn als Bündel zusammen. Dann untersuchte er noch die Spuren und nickte Gudrun zu. Er deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er schleifte den Leichnam zurück. Als er bei Gudrun vorbei kam, lächelte er und klopfte Gudrun auf die Schulter: „Stephan lebt. Und er ist ein Held. Er hat es geschafft, den Spieß umzudrehen und Athos gefangen zu nehmen. Den Rest haben wohl die Wölfe erledigt, nachdem sie sich bei uns die Zähne ausgebissen haben.“ Ein Lächeln zwang sich auf Gudruns bleiches Gesicht. Sie freute sich, mehr als sie jetzt zum Ausdruck bringen konnte. Ihr Magen hatte im Moment mehr Kontrolle über ihren Gesichtsausdruck als ihr Herz.
Sie banden Athos‘ Leiche an das Pferd des anderen Soldaten und zogen weiter. Ungefähr eine halbe Meile ging es zurück. Der Fährtenleser fluchte, dass er das übersehen hatte. Er hatte einfach nicht damit gerechnet. Nach der halben Meile wich der Weg von Stephan jedoch vom Hinweg ab. Der Fährtenleser lächelte wissend und Gudrun wusste, was er meinte. Für den richtigen Weg hätte man sich durch ein wenig Dickicht zwängen müssen und der von Stephan gewählte Weg sah einfach einem Pfad zu ähnlich. Auch Gudrun hätte sich wohl für diesen Weg entschieden.
Irgendwann fing das Lachen an, Stephan im Rücken weh zu tun. Ein paar ordentliche Prellungen schien er sich doch geholt zu haben. Langsam richtete er sich auf. Jeder Knochen tat ihm weh. Aber gebrochen schien nichts. Dafür bluteten seine Hände und seine Zehen. Stephan riss sein Hemd entzwei und verband sich Hände und Zehen. Dann sammelte er seinen Proviant zusammen, der überall verstreut lag. Ein paar Proviantstücke hatte der Bach mit sich gerissen. Der Rest würde vielleicht noch zwei Tage reichen. Danach würde er sich auf sein Jagdglück verlassen müssen.
Er wollte gerade aufbrechen, als er einen gellenden Schrei hörte. Dann noch einmal. Da rief jemand seinen Namen. Er blickte hinauf und konnte nicht glauben, was er dort sah: Gudrun winkte ihm zu. Als sie merkte, dass er sie entdeckt hatte, sprang sie auf und ab.
Ein Seil fiel hinunter und Gudrun machte Zeichen, Stephan solle sich das Seil umbinden. Stephan legte den Proviantsack ab und band sich das Seil um den Oberkörper. Er gab Zeichen, dass man ihn hochziehen könne und langsam bewegte er sich in die Höhe. Das gab ihm Zeit, sich immer wieder von der Wand weg zu drücken, damit seine Haut nicht noch mehr aufscheuerte.
Oben angekommen halfen ihm die beiden Soldaten auf, nur um gleich wieder zu Boden gestürzt zu werden. Gudrun bedeckte ihn mit Küssen und drückte ihn ganz fest an sich. Stephan umarmte sie auch, unter anderem, damit der Angriff weniger heftig ausfiel, denn ihm tat immer noch alles weh.
Der Fährtenleser zeigte dem Soldaten, wo er leckere Beeren finden konnte, so dass Stephan und Gudrun eine Zeit für sich waren. Gudrun quetschte Stephan aus, was passiert sei. Als er erzählte, wie er sich fallen gelassen hatte, damit der Krug zerbrach, lachte sie. Dann erzählte er davon, wie er Athos überwältigt hatte. Gudrun wurde still und schluckte schwer. Stephan fragte, was denn sei. Nun war es an Gudrun zu erzählen, wie sie Athos gefunden hatten und sie deutete auf das Bündel: „Als Beweis für Baldur nehmen wir ihn mit zur Burg.“ Stephan war nicht gut. Er redete sich zwar permanent ein, dass es Gottes Wille gewesen sei, dass Athos gestorben ist, aber das Schuldgefühl einen Menschen getötet zu haben, linderte es nicht.
Die beiden Soldaten kamen zurück. Der Fährtenleser drängte zum Aufbruch. Sie mussten zum vereinbarten Treffpunkt mit den anderen Gruppen, den sie für heute Abend ausgemacht hatten, um das weitere Vorgehen für die Suche zu beratschlagen.
Lebensgefahr
Alle waren erleichtert, dass die Suche beendet war. Keine der fünf Gruppen war von den Wölfen unbehelligt geblieben. Allerdings gab es keine weiteren Verluste. Im Dorf angekommen gingen sie alle erst in die Spelunke, um Baldur zu sehen. Der Laden war wie ausgestorben. Der Wirt stand gelangweilt an der Theke und füllte ein Schnapsglas voll, dessen Inhalt er dann wieder zurück in die Flasche schüttete. Er schien ganz versunken in diese Aufgabe.
Als er Stephan sah, hellte sich sein Gesicht auf. Er eilte auf Stephan zu, küsste ihm die Hand und redete ohne Unterlass, wie schön es doch sei, dass der Herr Steuereintreiber wohlauf sei und ob er etwas für sein Wohl tun könne. Er fragte, was passiert sei, wie Stephan befreit werden konnte und immer wieder warf er ein, wie schön es doch sei, dass der Herr Steuereintreiber wohlauf sei. Eine Antwort wartete er nicht ab. So schob Stephan nur irgendwann ein ‚Danke‘ zwischen die Worte des Wirts und alle gingen nach oben.
Baldur lag in seinem Zimmer. Er war kreidebleich und zitterte. Der Schweiß rann ihm über die Stirn. Der Barbier war bei ihm und hatte gerade die Lassschale für einen Aderlass in der Hand. Als Gudrun begriff, was er zu tun gedachte, rannte sie wutentbrannt zum Barbier und prügelte so lange auf dessen Brust, bis er von Baldur abließ. Gudrun schnaubte: „Sie! Sie Ungeheuer, sie! Wagen sie es nicht noch einmal, den König anzurühren.“ Der Barbier zuckte beleidigt mit den Schultern, packte seine Sachen und ging. Gudrun fing an, Befehle zu erteilen. Stephan und den Fährtenleser schickte sie los, im Wald Kräuter zu sammeln. Ein Soldat sollte kochendes Wasser bereiten und ein anderer kaltes Wasser aus dem Brunnen holen. Einem dritten befahl sie, alle Tücher aus dem Haus zu besorgen. Die anderen Soldaten blieben da und beobachteten, wie Gudrun Baldur untersuchte. Seine Bisswunde war voll Eiter und seine Temperatur ließ ihn kaum noch zu Bewusstsein kommen. Aus dem Schrank holte sie ein frisches Bettlaken und schnitt es in Stücke. Kochendes und kaltes Wasser standen bald bereit. Ein Soldat sollte damit anfangen, regelmäßig Baldurs Stirn zu kühlen. In dem heißen Wasser legte Gudrun ein Jagdmesser. Dann wusch sie sich die Hände. Kurz darauf waren auch schon Stephan und der Fährtenleser zurück. Gudrun zerdrückte die Kräuter mit dem Messer auf einem Bettlakenstreifen. Sie bat vier Soldaten, Baldur festzuhalten. Dann sprach sie noch ein Stoßgebet und setzte das Messer an. Sie schluckte und versuchte sich nicht vorzustellen, was sie da gerade ganz genau tat. Vorsichtig schnitt sie das eitrige Fleisch weg. Baldur schien nichts zu merken. Als die Wunde soweit sauber war, legte sie die Binde mit den Kräutern darauf. Fachmännisch verband sie Baldurs Arm. Schließlich sackte sie auf einem Stuhl zusammen. „Kühlt ihm die Stirn“, sagte sie erschöpft. Stephan schaute sie erstaunt an: „Woher kannst du das?“ „Die Pferde. Heinrich und ich haben schon häufiger Pferde mit Wunden behandelt. Einmal auch die Bisswunde eines Wolfes“, antwortete Gudrun, „ich hoffe nur, dass es auch bei Menschen hilft. Jetzt können wir nur noch abwarten und verhindern, dass sein Fieber weiter steigt. Stephan, magst du die erste Wache übernehmen?“ Stephan nickte. „Ich muss mich ein wenig ausruhen“, gähnte Gudrun. Zwei Soldaten brachten ihr eine Matratze aus dem Nachbarzimmer. Sie legte sich hin und schlief sofort ein. Es war Nacht, als sie erwachte. Der Mond warf sein fahles Licht durch die Fensterluke, aber Gudrun konnte fast nichts erkennen. „Stephan?“ „Ja, Gudrun, hier“, flüsterte Stephan. „Wie geht es Baldur?“ „Unverändert“, seufzte Stephan. „Soll ich dich ablösen?“ „Das wäre nett. Ich befürchte, ich schlafe hier bald ein“, gähnte nun auch Stephan. Gudrun wachte die ganze restliche Nacht hindurch und schmunzelte, wenn Stephan im Schlaf redete. „... heiraten...“, hörte sie einmal mehr als deutlich. „Ja, ich will“, flüsterte sie und ihr wurde ganz warm ums Herz.Zwei Tage wachten Stephan und Gudrun an Baldurs Bett. Am dritten Tag, Gudrun hielt gerade Wache, öffnete Baldur die Augen. Der Fieberglanz in seinen Augen war verschwunden- Er tippte Gudrun an, die ganz versunken da saß. Gudrun schreckte hoch. „Baldur? – Stephan! – Stephan: Baldur!“, freute sie sich.
Gudrun umarmte Baldur und Baldur erwiderte ihre Umarmung mit dem rechten Arm. Plötzlich schreckte Gudrun zurück: „Oh, Verzeihung, Majestät!“ Baldur lächelte. „Da gibt es nichts zu verzeihen. Ich danke dir. Ich danke dir für die Pflege und auch für die Umarmung. Sie tat gut und ich fühle mich gleich gekräftigt.“ Baldur spielte mit den Fingern seiner linken Hand. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich sie je wieder würde benutzen können. Ich muss wohl meinen Arzt wechseln“, zwinkerte Baldur. „Dann nehmt Heinrich. Er hat es mich gelehrt“, erwiderte Gudrun bescheiden.
Baldur hatte Hunger und wollte aufstehen, um unten etwas zu essen. Doch Gudrun hielt ihn zurück: „Nichts da! Stephan wird euch schon etwas zu essen holen. Ihr bleibt gefälligst im Bett.“ Baldur hob erstaunt eine Braue, lächelte jedoch dann und tat, wie ihm befohlen worden war. Stephan eilte nach unten, holte Wasser, einen Teller Suppe und etwas Brot. Baldur aß mit großem Appetit. Nach dem Essen wurde er wieder müde und schlief bald darauf ein.
Gudrun und Stephan ließen ihn allein und berichteten den Soldaten, dass Baldur auf dem Weg der Besserung sei. Alle waren gut gelaunt und hätten am liebsten gefeiert. Doch auch Stephan und Gudrun waren hundemüde und begaben sich bald ins Bett.
Heim
Drei Tage und Nächte befahl Gudrun Baldur strenge Bettruhe. Dann ging es ihm zu gut, als dass sie ihn noch hätte halten können. Zur Freude des Wirts lud Baldur am Abend jeden der da kommen wollte ein, auf Kosten Baldurs zu trinken. Des Wirts Frauen unterhielten die Gäste und führten manch heißen Tanz auf. Gudrun zwang sich zum Fröhlichsein. Wenn sie aber sah, mit welchen Mengen Met und Schnaps der Wirt immer wieder an die Tische kam, wurde ihr schlecht, wenn sie an die Schatzkammer dachte.
Doch schließlich war es Stephan, der sie diese Sorgen vergessen machte. Er bat Gudrun um einen Tanz. Sie tanzten über die Tische. Erst tanzte Stephan Gudrun etwas vor, dann tanzte sie es nach. Die Schritte wurden immer schwieriger und Gudrun meisterte es mit Bravour. Schließlich drehte sie den Spieß um und fügte ein paar eigene Schritte hinzu. Ein heißer Wettkampf begann. Die Musik spielte immer schneller und alle in der Spelunke klatschten im Takt. Schließlich gab sich Stephan geschlagen und verbeugte sich ehrergeben vor Gudrun. Alle applaudierten begeistert.
Die Feier ging bis zum frühen Morgen. Dann gingen alle langsam nach Hause. Nach ein paar Stunden Schlaf bat Baldur Gudrun den Soldaten den Aufbruch zu empfehlen. Gudrun stutzte. Baldur lächelte nur und sagte schließlich: „Ich kann mich kaum entscheiden, ob ich dich lieber als Hauptmann meiner Soldaten sähe oder als Buchhalterin. Für beides hast du ein ungeheures Talent. Ich weiß, meine Soldaten würden dir bis in den Tod folgen, ohne mit der Wimper zu zucken. Nun grüble aber nicht länger. Du hast Zeit dich zu entscheiden. Machen wir uns fertig zum Aufbruch.“ Gudrun war ganz schwindelig vor so viel Lob. Aber die Antwort auf Baldurs Frage wusste sie längst, auch wenn sie ihm die Antwort nicht gleich gab. Es stand nicht in ihrem Sinn, Menschen in den Tod zu schicken und so blieb sie ihren Zahlen und Büchern treu.
Als sie im Dorf ankamen, stürmten alle Menschen auf die Straße. Sie jubelten Baldur zu. Auf dem Schloss wartete dann noch eine Überraschung sowohl auf Gudrun als auch auf Stephan. Gudruns Eltern waren da und umarmten sie. Und auch Stephans Eltern waren da. Seine Mutter nahm ihn als erstes in den Arm. Und dann kam auch sein Vater, klopfte ihm erst auf die Schulter und nach kurzem Zögern nahm auch er Stephan in den Arm.
Sie alle feierten auf der Burg. Auch die Dorfbewohner waren geladen und als es besonders festlich war, stoppte Baldur die Musik. Er räusperte sich kurz, bis alles still war und bat dann Gudrun zu sich. Der Dorfpfarrer und Heinrich traten hinzu. Baldur räusperte sich. „Gudrun Harto. In schwerer Stunde übernahmst du ohne Acht deiner selbst den Befehl über meine Soldaten und rettetest meinen Steuereintreiber. Und als wenn dem nicht genug wäre, so rettetest du mir auch noch das Leben auf dem Krankenbett. Ich würde dir dafür gerne den höchsten Ritterorden für Mut und Tapferkeit verleihen, über den ich verfüge. Doch leider ist dieser nur Rittern vorbehalten. Ich hoffe daher, du bist damit einverstanden“, Baldur räusperte sich in einer künstlichen Pause erneut, „damit einverstanden, dass ich dich zum Ritter schlage.“ Totenstille. Alles starrte abwechselnd auf Baldur dann auf Gudrun. Die Soldaten, die Gudrun befehligt hatte, waren die ersten die zu applaudieren begannen und kurz danach war der Jubel groß. Während des Jubels schlug Baldur mit dem Segen des Pfarrers Gudrun zum Ritter und überreichte ihr den Orden, den Heinrich auf einem Kissen bereit hielt.
Stephan verneigte sich lachend vor Gudrun und bat sie dann um den nächsten Tanz. Während des Tanzes fragte er sie: „Gudrun, wollen wir uns das Haus bauen?“ Gudrun stolperte fast und schaute Stephan erstaunt an. „Das Haus am See. Baldur hat mir die Belohnung für die Ergreifung von Athos ausgezahlt und nun haben wir genügend Geld, um uns das Haus leisten zu können.“ Gudrun lächelte glücklich: „Von Herzen gern!“ Sie schlug ihre Arme um Stephan und so tanzten sie eng an eng. Ein paar Gäste schauten missbilligend, doch Baldur schmunzelte nur.
Gleich am nächsten Tag kamen die Zimmerleute. Stephan und Gudrun zeichneten noch einmal den Grundriss in den Waldboden. Dann legten die Zimmerleute los. Auch Stephan fing an, ein Rohr vom See zum Haus zu legen. Später befestigte er daran eine Pumpe und so hatten sie fließend Wasser im Haus. Auch den Herd mauerte Stephan selbst. Allerdings mit strikten Anweisungen von Gudrun.
So dauerte es gerade mal zwei Wochen und das Haus war fertig. Eine Woche darauf stand auch der Stall. Stephan und Gudrun ritten während des Stallbaus in die Stadt und suchten Stoffe für Gardinen aus. Zum Mittag lud Stephan Gudrun ins Waldschlösschen, ein kleines gemütliches Gasthaus, ein. Sie unterhielten sich angeregt über die Möbel, die sie brauchen würden und Stephan plante ein Boot für romantische Mondscheintouren zu bauen.
Zum Nachtisch gab es Vanillepudding, frisch zubereitet und noch ganz warm. Bevor Gudrun einen Löffel essen konnte, stand Stephan auf und kniete vor Gudrun nieder. Gudrun blickte Stephan fragend an obgleich sie zu wissen hoffte, was Stephan vor hatte. „Liebste Gudrun! Einst begegneten wir uns im Kampf. Dein Charme und deine klaren Augen raubten mir die Sinne. Seither gilt mindestens jeder zweite Gedanke dir. Dein Lächeln wärmt mich wie die Sonne, deine Schönheit ist so majestätisch wie der Mond. Deine Anmut macht den Schwänen Konkurrenz und deine Kraft ist die eines Bären. Der Gedanke an dich lässt mich auf Wolken schweben und so frage ich dich, die mein Herze mit Liebe erfüllt, ob du mich zum Manne nehmen willst?“ Bei diesen Worten holte Stephan einen goldenen Smaragdring aus seiner Hosentasche. Gudrun liefen die Tränen hinunter. Sie flüsterte gerührt: „Ja, ich will. Und wie ich will. Mein einziger Wunsch ist, mit dir, mein Liebster, auf ewig zusammen zu sein.“ Stephan nahm ihre Hand, beide Hände zitterten, und steckte ihr den Ring an. Sie küssten sich leidenschaftlich bis ein Schluchzen und Nase schnauben sie irritierte. Die Wirtin stand schluchzend in der Tür. Als sie merkte, dass die beiden sie anschauten, entschuldigte sie sich, ging auf die beiden zu und wünschte ihnen alles Gute.
Hochzeit
Gleich am nächsten Tag ging Stephan zu Gudruns Vater. Er hatte all sein Geld geopfert, um den besten Wein, den man kriegen konnte, zu kaufen. Sie stießen miteinander an und redeten erst über Gott und die Welt, bevor Stephan zur alles entscheidenden Frage kam.
Doch so einfach, wie Stephan es sich vorgestellt hatte, war die ganze Sache nicht. Gudruns Vater meinte, er müsse sich das erst noch gut überlegen. Vielleicht würde ja ein weiteres Glas Wein helfen? Nein, doch nicht. Vielleicht könnte Stephan ihm dabei helfen, die Würstchen für morgen zu fertigen? Gesagt, getan. Beide gingen in die Schlachterei und Stephan musste schon fast eine Gesellenprüfung ablegen, bis Gudruns Vater ihn schließlich zur Seite nahm und meinte: „Du bist mir der Rechte. Natürlich darfst du unsere Tochter ehelichen. Meinen Segen habt ihr beide.“ Gemeinsam leerten sie noch die Weinflasche und aßen ein paar frische Würstchen, bevor beide sich verabschiedeten.
Stephan musste zugeben, dass er doch ein paar Probleme hatte, nach Hause zu finden. Gudrun hatte nicht schlafen können und hatte inzwischen einen ganzen Berg Kartoffeln geschält, der gut und gerne für eine Woche reichen würde. Ein riesiger Stein fiel von ihrem Herzen, als sie von Stephan die frohe Kunde hörte.
Ein ganzes Jahr brauchten sie, oder besser Gudrun, für die ganze Planung der Hochzeit. Bis ins letzte Detail hatte Gudrun geplant, wie alles abzulaufen hatte, ja selbst, welche Schuhe die Blumenkinder tragen sollten.
Und trotz oder gerade wegen Gudruns minutiöser Planung sollte es ein rauschendes und schönes Fest werden. Baldur hatte seinen Ballsaal zur Verfügung gestellt und Speis und Trank. Er hatte sich allerdings eine Standpauke von Gudrun eingehandelt, als er den Gästen nur Bier hatte anbieten wollen. Wein musste es nach Gudruns Meinung auch geben. Dafür verzichtete sie auch für ein Jahr auf ein Teil ihres Lohns.
Sie heirateten in der Dorfkirche. Gudruns Trauzeuge war Baldur. Stephan hatte sich nicht entscheiden können, wen er wählen sollte, oder besser, wen er nicht wählen sollte. Gudrun nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie sagte, sie würde einen Trauzeugen besorgen. Bis zum Traualtar schaffte sie es, diesen Trauzeugen als Geheimnis zu bewahren, obgleich Stephan sie immer wieder löcherte. Letztendlich gab er sich damit zufrieden, dass es ja nur jemand aus Gudruns Umfeld sein konnte, da sie seine Bekannten und Freunde kaum kannte. Birgit vielleicht? Heinrich? Oder auch Max?
Er sollte merken, dass er sich gründlich in Gudrun getäuscht hatte. Als die Trauzeugen aufgefordert wurden, näher an den Altar zu treten, blieb Stephan die Sprache weg. Nach vorne traten Baldur und ein schlanker dunkelhaariger, glattrasierter Mann mit blauen Augen: der zitternde Steffen. Stephan konnte nicht anders, als sich zu Gudrun zu drehen, sie zu umarmen und zu küssen. Der Pfarrer räusperte sich und Stephan riss sich von Gudrun los, allerdings nicht ohne ihr noch leidenschaftlich tief in die Augen zu blicken.
Nach der Trauung machte sich eine Prozession von mehr als hundert Personen auf zur Burg. Das ganze Dorf jubelte ihnen zu. Beim Fest ließ es sich Stephan nicht nehmen, zusammen mit Steffen aufzutreten. Das erste Mal konnte Gudrun erleben, wie gut Stephan wirklich war. Selbst Steffen blickte erstaunt und applaudierte Stephan am Ende.
Als der Hahn bereits wieder auf dem Misthaufen krähte, gingen die letzten Gäste zu Bett. Gudrun und Stephan wurden von Heinrich in einer Kutsche heimgefahren. Am Haus angekommen, stieg Stephan aus der Kutsche und nahm Gudrun beim Aussteigen auf den Arm. So trug er sie über die Schwelle ins Haus bis ins Bett hinein. Gudrun zog ihn mit hinein. Bis zum nächsten Morgen blieben sie im Bett, um sich dann in den kühlen See zu stürzen. Zehn Monate später gab es einen dritten Bewohner in dem Haus und auch das Reservezimmer fand ein weiteres Jahr später eine kleine Bewohnerin. Und wie das Leben so spielte: Für den dritten Neuankömmling mussten Gudrun und Stephan dann doch noch das Haus erweitern. Das Leben bot noch viele schöne Überraschungen für die beiden, und heute, da die Kinder aus dem Haus sind, genießen sie es, abends auf der Bank vor dem Haus zu sitzen und auf den See hinaus zu blicken oder mit dem Boot, dass Stephan damals gebaut hatte, auf den See hinaus zu fahren.Und wie Birgit mir heute erzählte, wird wohl bald wieder ein Kinderlachen durch Gudruns und Stephans Haus schallen. Sie werden Oma und Opa. Aber, pscht, die beiden wissen noch nichts davon.
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Der Beitrag wurde von Mark Michaelis auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.02.2005.
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Gwyrn und Axtkämpfer Saxran auf erotischer Wanderung zwischen den Welten - Erotischer Fantasy-Roman
von Doris E. M. Bulenda
Ich hätte nie im Traum daran gedacht, dass ein Besuch auf einer Faschingsparty solche Konsequenzen haben könnte. Eingeplant hatte ich eine Menge Spaß, gern auch frivoler Art. Meine Freundin schleppte mich häufig auf Veranstaltungen, wo auch in der Horizontalen die Post abging. Doch was bei diesem Fasching passierte, war jenseits des Erklärbaren. Irgendein als Magier verkleideter Partybesucher beschwor lustigerweise germanische Götter. Und dann stand ER plötzlich vor mir, ein Typ mit Axt, er wirkte ziemlich desorientiert und nannte sich Saxran. UND er war attraktiv. Ich schnappte ihn mir also. Nicht nur die Axt war recht groß an ihm. Hätte ich allerdings damals schon geahnt, was das noch für Konsequenzen haben würde… Saxran war absolut nicht von dieser Welt, und seine Welt sollte ich bald kennenlernen. Sie war geprägt von Unterwerfung, Schmerz, Lust und jeder Menge Abenteuer.
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