Farhad Salmanian

Für den Großvater

Eine Erzählung von: Djamschid Sepahi
Übersetzt von: Farhad Salmanian

Für den Großvater

Ali saß auf dem Hügel unter einem Baum und blickte den Weg hinunter. Er saß dort seit dem Morgen, an dem sein Großvater zum Nachbardorf gegangen war. Sein Großvater war auch vorher oft diesen Weg entlang gegangen und dann zurückgekommen; auch vor Alis Geburt war dies so gewesen.
Doch bisher hatte Ali noch nie so erwartungsvoll den Weg hinunter gestarrt und seinen Großvater ersehnt, obwohl er sich ein wenig ärgerte, dass er ihn nicht mitgenommen hatte. Diesmal hatte er ihm versprochen, vom nahe gelegenen Dorf ein Zicklein mitzubringen. Ein Zicklein, nur für ihn, das er allein füttern, tränken und großziehen wollte. In seinen Träumen versunken, bemerkte Ali nicht, wie sein Großvater den Hang hinaufstieg.
Der Aufstieg ermüdete den Großvater. Schweiß rann von der Stirn in seine Augen. Er beabsichtigte trotzdem nicht, stehenzubleiben und auszuruhen. Er war sich sicher, dass Ali irgendwo außerhalb des Dorfes aufgeregt auf ihn wartete. Gewiss waren seine Augen zu schlecht geworden, als dass er seinen Enkel von weitem hätte erkennen können, doch vermochte er sich die Ungeduld des Jungen vorzustellen.
Er blieb einen Augenblick stehen und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann stemmte er die Hände in die Seiten, richtete sich auf und stöhnte leise.
Der Großvater rückte das weiße Zicklein auf seinem Rücken etwas hin und her. Das Tier meckerte zitternd, als wolle es dem Alten antworten.
Der Wind trug das zaghafte Mäh des Tieres Ali zu. Er erwachte aus seinen Tagträumen und erblickte seinen Großvater, wie er schwerfällig den Hang zum Dorf hinaufstieg.
Mit klopfendem Herzen sprang Ali auf und rannte den Hang hinunter. Er beeilte sich so sehr, dass er über seine eigenen Füße stolperte. Der Junge schrie und winkte dem Alten bis er den Weg erreichte. Auch der Großvater blieb stehen und ließ ein kleines weißes Tier von seinen Schultern gleiten. Das zitternde Etwas trug ein Seil um den Hals, dessen Ende fest in der Hand des Erwachsenen lag. Das Tier sprang störrisch hinter ihm her und meckerte manchmal mit seiner dünnen zitternden Stimme.
Für einen Augenblick blieb Ali stehen, um sodann noch schneller seinem Großvater entgegen zu laufen. Früher war er nie so schnell gerannt. Er würde alle Kinder des Dorfes beim nächsten Wettkampf überholen, dachte er. Noch im Laufen beobachtete er, wie sein Grovater den Weg verließ, sich unter einen Baum setzte und die Füße weit von sich streckte. Das Seil hatte er noch in der Hand und das Zicklein hüpfte um ihn herum.
Ali bemerkte weder die Bäume, die Felsen noch den Weg, nicht einmal den Großvater beachtete er. Für ihn existierte nur das kleine wollige weiße Tier, das seinen Schwanz hoch erhoben hielt und mit seinen hellen Augen suchend um sich blickte.
Schließlich kniete Ali vor dem Zicklein nieder. Das Tier sprang jedoch erschrocken auf und zuckte vor seiner ausstreckten Hand zurück. Erneut versuchte er die weiche Wolle des Zickleins zu fühlen, die kleinen Ohren, das Mäulchen und die flinken Beine des Tieres zu berühren. Aber das Zicklein hüpfte erneut einige Schritte zurück. Ali sprang auf und stellte ihm nach. Diesmal streckte er die Hand langsam aus, nahm das Seil in der anderen kurz und streichelte dem Tier über den Rücken. Früher hatte er viele Tiere gestreichelt. Hunde, Küken oder Kühe, aber niemals zuvor hatte er solch ein Gefühl erlebt. Ihm war, als übertrage sich die Wärme der Tierhaut auf seinen Arm, als kitzle das Ziegenfell seinen Handrücken wie eine Feder.
Nach einer kleinen Mahlzeit streichelte Ali noch immer selbstvergessen das Tier. Da vernahm er die tiefe Stimme des Großvaters, der sich gegen einen Baum gelehnt hatte und aus dessen Mund eine Rauchwolke entströmte. Seine alten Augen lächelten ihn freundlich an.
"Gefällt es dir? Möchtest du es gern haben?"
Er klang nicht so, als stelle er eine Frage, erst recht erwartete er wohl keine Antwort. Trotzdem nickte Ali einige Male eilig mit dem Kopf. Erst in diesem Moment bemerkte er, dass der Großvater die Seile nur noch locker in der Hand hielt und nun ergriff ihn Angst, dass das Zicklein fortlaufen könnte. Das Zicklein stand allerdings unbeweglich da und blickte ruhig zu ihnen hinüber.
Der Großvater löschte den Zigarettenstummel im Staub des Bodens, erhob sich mit Mühe, ließ die Seile fallen und begab sich auf den Weg dem Dorf zu. Ali ergriff sofort die Fesseln des Zickleins und umklammerte sie fest, während er auf die Beine sprang. Als die beiden Menschen mit dem Tier im Schlepp einige Schritte Seite an Seite gegangen waren, nahm Ali plötzlich die grobe Hand des Großvaters auf und drückte sie auf seine weichen Wangen. Der Alte blickte auf den Jungen hinab und lächelte.

Im dunklen Stall mischte sich der Dunst des Kuhdungs mit dem Gegacker der Hühner. Nur mit Mühe hob Ali die schwere Spatengabel und warf ein wenig Futter auf den Boden. Ein Strahl der Abendsonne fiel durch das Deckenloch, erhellte aber den Stall kaum, sodass Ali seine Augen zusammenkneifen musste, um etwas zu sehen. Erneut warf er Futter auf den Boden. Da, noch bevor er die Tür sich öffnen hörte, drang die Abendsonne in den dunklen Verschlag. Er wandte sich ab. Im Türrahmen stand sein Vater, groß und mächtig von Statur, und obwohl sein Gesicht nicht zu erkennen war, spürte Ali sofort seinen Ärger. Der Vater trat ein, zog die Kuh hinter sich her und stellte ihn zur Rede:
"Kannst du mich nicht begrüßen?"
“Hallo!", sagte Ali, dabei sah er nicht auf.
“Was tust du hier?"
"Ich bereite gerade einen Platz fur das Zicklein vor", antwortete er, während er mit der Spatengabel in den Futtertrog stach.
Der Vater zog die Seile durch die Ringe und band die Kuh fest, dann drehte er sich zu seinem Sohn um und seine Stimme donnerte:
“Für das Zicklein? Anscheinend sind dir deine Aufgaben nicht klar! Seitdem der Alte nicht mehr zur Wüste geht, ist er anscheinend verrückt geworden! Die anderen Alten gehen ins Kaffeehaus oder spinnen Wolle. Mein Vater aber spielt mit den Kindern! Sieh an, wie er das Geld, das ich mit so viel Muh’ und Not verdien’, zum Fenster hinauswirft?"
“Ich hab’ es mit meinem eignen Geld gekauft!"
Der Großvater hatte unbemerkt den Stall betreten. Seine Stimme klang gebieterisch, so hatte Ali ihn noch nie reden hören. Den Kopf erhoben, den krummen Rücken so gut er konnte aufgerichtet, stand der Großvater im Torbogen, die Seile des Zickleins in der Hand.
Alis Vater stand für einen Augenblick mit ungläubigem Gesichtsausdruck da, dann wendete er sich seinem Sohn zu, riss ihm die Spatengabel aus der Hand, warf sie zu Boden, bückte sich und sammelte Futterstücke auf.
”Nichts da! Wer soll denn das Tier hüten und weiden? Es ist doch keine Kuh, die man in der Wüste verlassen kann. Wenn es zu Hause bleibt, wird es den Gemüsegarten verderben. Wer soll es zur Weide treiben. Wie füttern wir es im Winter? Ich kann nicht einmal für die Kuh ausreichend Futter ausdorren...", spricht er mehr zu sich selbst.
”Ich!!!!" Erschrocken wird Ali bewusst, dass er geschrieen hatte.
”Du redest Ouatsch!", brüllte ihn der Vater an. "Du kannst doch nicht einmal bis drei zählen. Wie willst du auf das Zicklein aufpassen? Jedesmal wenn du es futtern willst, wirst du die Spitze der Spatengabel brechen! Wer weiß, wie schlecht seine Milch ist!"
“Es ist ein Ziegenbock!", schrie Ali.
Mit erhobener Spatengabel stürzte sich der Vater auf Ali und seine Stimme dröhnte durch den Stall: ”Du Hundesohn! Du wagst es, ungehorsam zu sein? Ich werde dir helfen! Du unverschämter Kerl!"
Ali stürzte an dem Großvater vorbei durch das Scheunentor ins Freie. Das Zicklein sprang erschrocken auf und meckerte kläglich. Von weitem hörte Ali Opas Stimme, die nun wieder herzlich und freundlich klang: ”Nörgle an diesem armen Kind nicht soviel herum. Ali ist doch nicht schuld!"
Ali lehnte sich neugierig an die Rückwand des Stalles und lauschte den Worten seines Vaters:”Zumindest hätten Sie mir sagen müssen, dass Sie ein Zicklein kaufen wollen. Ali wird seine Gedanken und Sinne nur noch auf das Zicklein richten, er wird seine Arbeit vernachlässigen, er wird den Hühnern vergessen Samen zu streuen..."
“Finde nicht immer ein Haar in der Suppe! Gott mag das nicht, Sohn!"
Ali beobachtete, wie sein Vater aus dem Stall trat und ohne sich umzublicken zum Naw* hinunter ging. Fast lautlos schlich an der Scheunenwand entlang zum Tor. Er sah den Großvater die Seile des Zickleins zum Ring zusammenbinden. Langsam ging er auf ihn zu, legte seine Hand auf dessen krumme altersschwache Schulter. Nachdem der Alte seine Arbeit zu Ende gebracht hatte, schaute er Ali an. Wieder konnte Ali den Glanz in seinen Augen nicht richtig deuten.
“Gut", sagte der Großvater. "Das Zicklein hat nun einen gemütlichen Platz. Nun müssen wir es verlassen, damit es sich an sein neues Zuhause gewöhnen kann!"
Hand in Hand verließen Großvater und Enkel den Stall.

Noch früh am Morgen öffnete Ali die Stalltür. Die Hühner und Hähne flatterten aufgeregt gackernd aus dem Stall und stürzten sich auf die Körner, die er zuvor auf den Boden geworfen hatte. Ali lachte laut auf über den Tumult der Hühner und Hähne, bevor er zu seinem Großvater an den Naw hinunter ging, um sich das Gesicht und die Hände zu waschen.
Der Großvater hatte gerade seine großen Hände mit Wasser gefüllt und spritzte es sich ins Gesicht. Dann wischte er sich mit einer Hand die Wassertropfen von seinem weißen Vollbart und schüttelte sie ab. Auch Ali füllte seine Hande mit Wasser, spritzte es sich, wie beim Großvater beobachtet, ins Gesicht und strich mit einer Hand über die glatten Wangen. Doch füllten sich seine Hände nicht mit Wasser, das er hätte in den Staub spritzen können. Zum ersten Mal, seit Ali denken konnte, wuschen sich die beiden zusammen am Fluss. Bisher war Ali immer nach dem Großvater erwacht. Heute hatte er sich schon vor dem ersten Hahnenschrei im Bett zu bewegen begonnen und mit dem Morgenruf des Hahnes war er von der Liege gesprungen.
Ali beobachtete vom Naw aus, wie sich die Stalltür öffnete und sein Vater die Kuh auf die Weide trieb. ”Ich war zum Zicklein gegangen. Es war wach. Als hätte es die ganze Nacht nicht geschlafen", sagte er zum Großvater.
"Es ist eingeschlafen!" Der Alte wischte sich die Hände am Hosenbosen ab.
“Seine Augen waren offen und guckten mich an. Es hatte dagesessen und mich nur angeguckt."
”So! Was hast du ihm gesagt?" Nur Großvaters Augen zwinkerten ein wenig belustigt, ansonsten erschien seine Miene mit würdevollem Ernst.
“Nichts. Das ist doch ein Tier! Wird es mich denn verstehen?"
“Also, wenn du ihm etwas gesagt hättest, hätte es dir auch geantwortet!"
Ali wollte das Zicklein nicht schlecht behandeln. ”Ich weiß nicht, Opa, was ich ihm sagen soll. Ich habe gesehen, dass seine Augen offen sind, aber ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll!"
“Hast du es gegrüßt?," Großvaters Mund umspielte ein Lächeln und in seinen Augen glomm ein Leuchten.
“Es ist ein Tier, Opa!"
“Das macht nichts. Derjenige, der grüßt, lebt wohl!"
Gemeinsam holten sie das Zicklein aus dem Stall und stiegen hinter dem Tier den zum Dorf liegenden Hang hinauf. Beim Aufstieg kam Großvaters Atem stockend und pfeifend aus seinem Mund, aber Ali war so glücklich über das an den Seilen umherspringende Zicklein, dass er es nicht bemerkte. Oben auf dem Hügel angelangt, keuchte der Großvater:”Setzen wir uns!"
Wie sonst entzündete sich der Großvater eine Zigarette, während er Rücken und Kopf an einen Baum lehnte und die Augen schloss. Der Schweiß rann langsam über Gesicht und Schläfen. Die Seile des Zickleins in der Hand betrachtete Ali seinen Großvater ein paar Augenblicke. Ihm lag auf der Zunge ihn zu fragen, ob er sich wohl fühle, doch er wagte es nicht. Schließlich öffnete der Großvater die Augen und sah den Jungen lächelnd an. ”So! Geh und spiel! Geh und treibe das Zicklein!"
Das Zicklein preschte los und Ali folgte ihm an straff gespannten Seilen. Nicht einen Moment wollte das Tier sich beruhigen. Es rannte hin und her, sprang auf, zog die Seile straff, meckerte anklagend, als suchte es einen Ausweg aus seiner Gefangenschaft. Er dachte für sich, dass er für das Tier längere Seile finden müsse. In diese Gedanken war er vertieft, als das Tier erneut an den Seilen zerrte. Ali war für einige Zeit unschlüssig, ob er dem Zicklein nachgeben und ihm folgen sollte, oder in der Nähe des Großvaters bleiben müsse. Den Baum auf dem Hügel sah er von seinem Platz aus, den Großvater darunter am Stamm nicht. Schließlich rannten er und das Zicklein den Hang hinab.
Ausser Atem erreichte er nach einiger Zeit wieder den Großvater, der noch immer am Baum lehnte und eine Zigarette rauchte. ”Hast du gespielt?"
Ali war so müde, dass er nichts sagen konnte und schüttelte nur den Kopf. Der Großvater lächelte wieder.
”Seit langer Zeit bin ich nicht mehr zur Weide gekommen!" Er legte eine Pause ein und blickte in den Horizont, irgendwohin, so dass Ali nicht einmal ahnen konnte, was das Ziel seines Blickes hätte sein können. Dann sagte er weiter: ”Aber du und dieses Zicklein…"
Ali verstand die Worte seines Großvaters nicht. Er mochte auch nicht fragen. Allmählich holte er Atem und sagte: ”Ich muss für das Zicklein ein langes Seil finden. Dieses ist zu kurz!"
Der Opa strich mit der Hand über sein Gesicht, lehnte den Kopf an den Baum und seine Worte klangen müse: ”Wirst sie finden. Was dann?"
Ali überlegte lange. ”Ich werde sie mir von jemandem ausleihen!"
”Und wenn sie dir niemand leiht?" In Großvaters Augen glimmte wieder ein Funke, der sowohl Spott als auch Liebe hätte sein können. Ali zuckte nur mit den Schultern.
So als brauche er einen Grund, um noch eine Weile nachzudenken, entzündete der Großvater erneut eine Zigarette und zog gierig daran. ”Entweder musst du neue kaufen oder du musst sie dir seilen. Hast du Geld?"
Ali schüttelte enttäuscht den Kopf. Natürlich hatte er kein Geld. Der Goßvater stieß erneut den Zigarettenrauch aus. “Ich hab auch kein Geld. Dann müssen wir seilen!"
Ali wandte sich ab und guckte das Zicklein, das langsam weidete und an den Seilen zog. “Ich kann aber nicht seilen. Überdies weiß ich nicht woraus ich die Seile flechten soll!"
Sein Großvater lächelte mit kluger Miene. Ob er nicht wisse, dass sie dazu Hanf benötigten. Nein, natürlich wusste er es nicht. Und wo sie ihn finden könnten? Nein? Ali gab auf die Fragen keine Antwort, weil der Großvater auch keine zu erwarten schien. Es lägen alte, zerrissene Säcke, die zu keinem Recht mehr kämen im Stall.
Ali fragte besorgt: ”Denkst du, der Papa erlaubt uns sie zu benutzen?"
Der Großvater richtete sich auf, blickte in die Sonne und wendete sich dem Heimweg zu. “Ich denke er wird es erlauben!"

Am Abend, als der Vater nach Hause zurückkam, wartete Ali auf ihn. Er öffnete das Stalltor, zog die Kuh an den Seilen und führte sie bis zur Krippe. Sein Vater folgte ihm. Da Ali noch nicht groß genug war, die Seile durch die Ringe zu ziehen, band der Vater sie fest. Nun sah er sich um und erblickte das Zicklein, das im Dunkeln des Stalls wie ein Stück weißer Stoff aussah und in einer Ecke auf den Futtern stand. Sein Maul bewegte sich und mit wilden Augen betrachtete es den Mann, der unwillig grunzte. Sein weiterer Blick fiel auf den gefüllten Wassertrog und die mit Futter beladene Krippe der Kuh. Diesmal klang sein Grunzen erfreut wie die folgende Frage: "Was möchtest du, Sohn?"
“Brauchen Sie diese?" Ali wies mit ausgestrecktem Arm in die Ecke des Stalls. Er traute sich nicht seinen Vater direkt anzureden. Dieser drehte denn den Kopf und erblickte ein paar alte gerissene Säcke, die er seit langer Zeit weggeworfen hatte. Nun lagen sie ordentlich gefaltet neben der Tür aufeinander.
“Weshalb brauchst du sie?"
“Ich will für das Zicklein Seile flechten!"
“Du willst Seile flechten?" Das Lachen des Vaters schien ihn zu verhönen.
”Mit Opa!", unterbrach der Junge das Hohngelächter. "Ich werde mit Opa Seile flechten. Wir seilen sie zusammen!"
Der Vater streute vor der Kuh eine Spatengabel voll Heu und sagte:”Nimm sie! Vielleicht beschäftigt sich der Alte damit!" Er machte eine kurze Pause und sah sich Ali an, als sähe er seinen Sohn zum erstenmal. Das spärliche Licht, das durchs Dach fiel, hatte die Hälfte seines Gesichtes verklärt und mit einem Mal erschienen dem Jungen die Gesichtszüge des Vaters milder. “Damit lernst du auch etwas!"
Ali saß neben dem Bach auf dem Boden. Die Körbchen voller Himbeeren hatte er schon vor einer Weile ins kühle Wasser gelegt, damit sie frisch bleiben und sich nicht der Staub darauflegen würde. Die Landstraße lag in einer kurzen Entfernung vom Bach. Neben ihm ruhte sich der Großvater am Baum gelehnt aus. Das Zicklein hatte sich im selben Maße wie sein verknotetes schmuziges Seil entfernt und weidete zwischen den Gräsern. Ali versuchte gerade einen kleinen Himbeerdorn mit dem Zahn aus seinem Finger herauszuziehen, da hörte er den Bus heranfahren. Eilig nahm er zwei von den Körben und lief zur Landstraße. Der Omnibus wirbelte den Staub der Straße auf. Ali betete vor sich hin, dass das das Fahrzeug anhalten möge. Tatsächlich stoppte er und bevor die Tür ganz geöffnet wurde, stürzte Ali hinein, wobei er mit einem Aussteigenden zusammenstieß. Ohne sich zu entschuldigen, drängte Ali ins Innere des Busses und rief:”Himbeeren! Frische Himbeeren! Billige Himbeeren!"
Bevor der Ausgestiegene mit Hilfe des Beifahrers die Ladung vom Dach des Busses hinunter holte, hatte Ali alle Himbeeren verkauft. Der Junge sah dem Omnibus nach, bis er von der nächsten Biegung der Landstraße verschluckt wurde. Ali kehrte wieder zum Bach zurück und mit noch geschlossenen Augen fragte ihn der Großvater sofort, ob er bei seinem Handel erfolgreich gewesen wäre. Ali reichte das Kleingeld seinem Großvater. ”Nur zwei Körbchen sind übriggeblieben!"
Der Alte erhob sich schwerfällig.” Das reicht!", sagte er. "Du bist sicherlich müde. Die ubrigen essen wir!"
Seite an Seite trat Ali mit seinem Großvater den Heimweg an. Eines der nassen und angenehm kühlen Körbchen trug er, das andere sein Großvater. Mit Bewunderung beobachtete Ali, wie sein Großvater die Himbeeren in seine großen Händen schüttete und sie sich dann in den Mund stopfte. Ali gelang es gerade einmal zehn Himbeeren in den Mund zu stecken und undeutlich zu fragen: ”Den Rest für Papa?"
Der Alte schaute Ali nur an.
“Nun können wir ein Seil kaufen? Ein neues weißes Seil? Weiß wie das Zicklein!"
”Warum nicht?", lachte der Großvater.
”Und ein Glöcklein auch?", fragte Ali hoffnungsvoll. "Dann weiß ich immer, wo sich mein Zickllein aufhält!"
Diesmal schwieg der Großvater, aber Alli nahm sein Lächeln als Einverständnis.
Großvater und Vater saßen auf der Terrasse an einem Abend, der wolkenlos und mild war. Sie saßen beieinander und rauchten selbstgedrehte Zigaretten. Sie schwiegen. Irgendwann warf Alis Vater im Mondlicht einen Blick auf den Alten und sagte:”Heute Abend ist er früh eingeschlafen!"
“Er war müde!"
”Hast du ein Pfeifenrohr gekauft?"
Der Großvater steckte eine Hand in die Tasche, zog etwas metallen glänzendes hervor und reichte es seinem Sohn. “Für dich!"
Der Vater nahm das Taschenmesser in seine Hand, drehte und wendete es und streichelte die glatte Oberfläche mit dem Daumen. Seinen fragenden Blick beantwortet der Alte sofort: ”Ali hat’s dir gekauft!"
”Durch den Verkauf der Himbeeren?"
Die Glut ihrer Zigaretten verglimmten in der Dunkelheit. Der Großvater strich ein Schwefelholz an und sie entzündeten erneut die Zigaretten, bis sie wieder schimmerten wie Glühwürmchen in der Nacht. Mit dem Zigarettenrauch seufzte der Alte aus: ”Gott vergebe ihr! Wäre sie doch nur nicht bei der Geburt gestorben!"
Unter der Mittagssonne gingen Ali und sein Großvater zum Fluß hinunter. Um den Hals des Jungen war ein weißes Seil gewickelt. Der Großvater sagte: ”Wir müssen das Tier waschen, bevor wir ihm die Seile und das Glöckchen umbinden!"
Ali zog aus seiner Hosentasche ein kleines Glöckchen hervor und bewegte es. Das gut hörbare Klingeln brachte Ali zum Lachen. ”Gestern Nacht, jedesmal, als du dich von einer Seite zur anderen gewältzt hast, klingelte das Glöckchen ebenso laut in deiner Tasche!", sagte der Großvater und Ali wusste nicht, ob der Großvater ahnte, dass er gestern am Abend gelauscht hatte.
Der schmale Fluß schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch. Ali und Opa krempelten die Hosenbeine hoch und begannen damit, das Zicklein in einem seichten Teil des Flusses zu waschen. Das Tier meckerte ängstlich und wollte fliehen. Aber der Alte wußte, wie er es fassen musste. Ali füllte seine Hände mit Wasser und spritzte es dem Zicklein ins Gesicht und auf den Körper. Der Großvater hielt das sich wehrende Tier fest in den Armen, bis er verkündete:”Gut! Das reicht!"
Sie traten aus dem Fluß. Der Großvater hatte das Zicklein noch immer fest an sich gepresst. Ali zog schnell sein Hemd aus und trocknete damit das Zicklein ab. Dann streifte er das neue weiße Seil mit dem Glöckchen dem Zicklein über die Ohren und zog es um dessen Hals fest. Das Tier sprang auf, zerrte und wand sich an seinen neuen Fesseln, während das Glöckchen heftig klingelte. Der Großvater breitete Alis Hemd über einen Busch zum Trocknen aus. Schließlich setzte er sich auf den Boden, zündete sich eine Zigarette an und mit dem ersten Zug wendete er sein Gesicht dem Sonnenlicht zu. Langsam öffnete er wieder seine Augen. Ali und das Zicklein spielten zusammen auf der Lichtung. “Wenn es sich bewegt, läutet das Glöckchen, genau so wie bei dir gestern Nacht!" , rief er seinem Enkel erneut zu.
Von einem Stein über den anderen hüpfte das Zicklein den Berghang hinauf. Ali ließ es nicht aus den Augen und stellte ihm nach. Die Seile gaben dem Tier mehr Freiheit als jemals zuvor. Irgendwann schaute er weit hinab und erkannte, wie der Großvater sich anschickte, den Berg ebenfalls zu ersteigen.
Das Zicklein kletterte höher und höher und er hinterher. Steine knirschten unter seinem Schritt und manche rieselten den Hang hinter ihm herab. Aber er achtete nicht auf das sich lockernde Geröll. Seine Aufmerksamkeit galt einzig und allein seinem Zicklein. Nun musste er beim Klettern schon oft die Hände zu Hilfe nehmen.
Zu spät registrierte Ali den Rutsch der Steine hinter sich. Eilig drehte er sich um und blickte ins Tal. Erst als der Staub sich legte, erkannte er mit zusammen gekniffenen Augen die Kleider seines Großvaters, die zwischen Steinbrocken hervorlugten. Ali zog die Seile des Zickleins straff und stürzte mit dem meckernden Tier den Berg hinab.
Der Abstieg war gefährlicher als der Aufstieg, zumal Ali sich keine Zeit nahm vorsichtig zu sein. Durch die Felsvorsprünge war ihm der Blick auf die Unglücksstelle für eine lange Zeit verwehrt. Als er endlich keuchend die Ebene erreichte, fand er den Großvater nicht mehr vor. Mit dem Zicklein im Schlepp rannte Ali zum Dorf.
Ali eilte durch die offen stehende Hoftür. Auf dem Balkon und im Hof hatten sich viele eingefunden. Mit klopfendem Herzen wickelte er sein Zicklein um die Hand und zog es an sich heran. Im Haus befanden sich noch mehr Leute als im Hof. Die Männer (keine Frauen?) redeten wild durcheinander.
Ali blickte sich hilfesuchend um, doch niemand schien sich um ihn zu kümmern. Er wollte das Zimmer seines Großvaters betreten, aber jemand zog ihn vom Eingang fort, so dass er nicht einen Blick hineinwerfen konnte. Mit dem zitternden Zicklein im Arm ließ er sich auf der Treppe zum Haus nieder.
Einer der vielen Nachbarn sprach: ”Der Arme Maschhadi! Hat viel Blut verloren!" Vielleicht eher viele Knochen zertrümmert.
Ein anderer sagte: ”Wenn er nur jünger wäre, könnte er alles aushalten! Hätten wir ihm doch nur ein Tier oder sowas geopfert! "
Das Zicklein blökte in Alis fester Umarmung und das Glöckchen läutete wild bei seinem Versuch, sich zu befreien.
”He Junge! Bring endlich das Tier in den Stall!", rief einer der Nachbarn. Die folgenden Worte galten wieder seinem Gesprächspartner: "Viel zu arm, als dass sie etwas opfern könnten. Armer Maschhadi!"
Ali erhob sich, zog die neuen Seile straff und führte das Zicklein in den Stall. Er ließ sich dort nieder und wartete.
Die Stille hatte Ali wieder hervorgelockt. Nur der Vater und ein Bekannter wachten noch am Lager des Großvaters, der zerschunden und blutig dalag, noch vom Staub verschmutzt. Keiner der beiden Männer nahm Notiz von ihm und so setzte er sich auf die Treppe des Balkons, genau an der Stelle, an der sein Vater und Großvater noch am gestrigen Abend gesessen hatten.
Irgendwann trat der Vater aus dem Zimmer, ging zum Naw und wusch sich die blutbefleckten Hände, ohne Ali zu beachten. Er hob den Kopf, als er das Meckern des Zickleins und dann das Glöckchen erklingen hörte. Mit gesenktem Blick wusch er sich nochmals die Hände, als klebte noch immer Blut an ihnen. Als er erneut den Kopf anhob, sah er Ali aus dem Stall treten, das Zicklein an den Seilen trottete zutraulich hinter ihm her.
”Opfern Sie es! Für den Großvater!", sagte Ali mit fester Stimme. Der Vater sah ihn überrascht an. Ohne ein weiteres Wort stürzte Ali aus dem Hof in die Gasse, ohne anzuhalten, ohne sich auch nur einmal umzusehen, rannte er durchs Dorf, über den Hügel zum Baum, an dem er so oft in den letzten Tagen mit dem Großvater gesessen hatte. Die Landstraße bog vor seinem Augen am Fuß des Hugels ab und ging zum Dorf hinab. Atemlos blieb er dort sitzen. Erst als er ein wenig zu Atem gekommen war, zog er das Glöckchen des Zickleins aus der Tasche. Ein kleines Stück des weißen Seiles war noch ans Glöckchen gebunden. Mit dem Finger schlug er langsam gegen das Metall und es klingelte. Ali drückte es so fest er konnte in seiner Handfläche. Dabei schaute er die Landstraße hinab und Tränen liefen ihm über die Wangen.

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