Hans Pürstner

Reich ins Heim, 9. Kapitel

Es war nass und kalt an diesem grauen Herbstmorgen, ein Tag, an dem man sich am liebsten zu Hause hinter dem Ofen verkriechen möchte, ein Sauwetter, bei dem man nicht einmal seinen Hund hinausjagen würde. So war Oberinspektor Pilz auch so ziemlich der Einzige, der in der kleinen Gartenanlage, genannt Kurpark von Bad Waltersdorf, spazieren ging. Aus Frust über die Einstellung der Ermittlungen im Fall Eibel hatte er umgehend eine Woche von seinem Resturlaub eingereicht, was sein Chef, der Hofrat Doktor Binder, zwar mit süßsaurer Miene, aber letztendlich zustimmend zur Kenntnis genommen hatte.
Danach war er kurzerhand in die Oststeiermark gefahren, die Therme Bad Waltersdorf war ideal geeignet, wenn man so spät im Jahr noch baden wollte. In dem stets 36°C warmen Thermenwasser konnte er bei jedem Wetter seiner Leidenschaft, dem Schwimmen, frönen.
Sein Assistent, der dünne Vasic, hatte ihn öfters deshalb veräppelt.
„Du gehst eh nur deshalb so gern schwimmen, weil du dazu nicht viel tun musst. Fett schwimmt von allein!“
Ja, er musste sich schon so einiges anhören an Anspielungen auf seine Körperfülle.
Dabei ess ich ja gar nicht so viel. Aber halt so gern!, dachte er dann immer im stillen, während er mit einem gequälten Lächeln gute Miene zum bösen Spiel machte.
Während er leise fröstelnd durch den Park stapfte, rekapitulierte er noch einmal die Ereignisse der vergangenen Wochen.
Auf der einen Seite war das Verhalten seines Dienststellenleiters ja durchaus verständlich. Der Tod von Frau Eibel schien mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Unglücksfall gewesen zu sein. Ob sie nun in Folge von Nebenwirkungen ihres Beruhigungs mittels gestürzt und dabei tödlich verletzt worden war, oder ob die Theorie seines Assistenten Vasic stimmte, demnach Heinrich Waller sie bei einem Streit gestoßen haben sollte. Es machte keinen Sinn, dies aufzuklären, Waller hatte Selbstmord verübt, war es ein Schuld eingeständnis? So oder so, niemand schien das ernsthaft zu interessieren. Nur ihn selbst ließ es keine Ruhe. Zu viele Ungereimtheiten gab es seiner Meinung nach bei der ganzen Geschichte. Sicher, die Mauscheleien bei der Abrechnung gingen ihn nichts an, sein Job war es gewesen, einen ungeklärten Todesfall zu untersuchen. Und die Indizien für ein Fremdverschulden waren einfach zu dünn. Trotzdem war er unzufrieden mit sich selbst. Dem Urban gönn ich einfach nicht den Triumph, dass er völlig ungeschoren aus der Sache hervorgeht. So stapfte er missmutig weiter durch den Park bis zu der kleinen Einkaufsstrasse. Er kaufte sich in einem der wenigen Geschäfte, die zu dieser Zeit überhaupt geöffnet hatten, die neueste Ausgabe des Grazer Express. Als er die Schlagzeile auf dem Titelblatt las glaubte Pilz seinen Augen nicht zu trauen,.
Der Tod geht um im Waldesruh!
Er verschlang förmlich die Zeilen, gierig nahm er alle Informationen in sich auf, fühlte sich spät aber doch bestätigt in seinen Vermutungen, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Wer wohl den neuen Fall bearbeitete? Zu gerne hätte er das Gesicht vom Hofrat gesehen, als der die Nachricht von einem erneuten Verbrechen bekommen hatte. Er suchte sein ganzes Kleingeld aus seiner Brieftasche zusammen und betrat die Telefonzelle, an der er gerade vorbeikam. Nachdem der Versuch vergeblich geblieben war, über seine Nebenstellennummer Mirko Vasic zu erreichen, ließ er sich von der Sekretärin, die das Gespräch angenommen hatte, mit dem Hofrat verbinden. Der schien direkt auf seinen Anruf gewartet zu haben, so, als ob er niemals die Einstellung der Ermittlungen verfügt hätte, wollte er Pilz sofort wieder aus dem Urlaub zurück nach Graz beordern. Doch da kam er an den Falschen. So gewissenhaft, geradezu fanatisch Pilz auch einen Fall bearbeitete, sobald man seine Einschätzung von Seiten seiner Vorgesetzten nicht bedingungslos teilte, da konnte er ziemlich schnell den Beleidigten spielen. So teilte er dem Hofrat auch unverblümt mit, dass er nicht daran denke, seinen wohlverdienten Kurzurlaub Hals über Kopf abzubrechen. Weder Bitten noch leiser Druck konnten ihn umstimmen. Wütend knallte er den Hörer auf die Gabel, der durch diese unsanfte Behandlung herunterfiel und an der Schnur hin und her baumelte. Ohne sich darum zu kümmern, verließ Pilz leise schimpfend die Telefonzelle und setze sich ins nächste Cafe. Dort bestellte er sich einen großen Braunen und ließ sich das eben gehörte noch einmal durch den Kopf gehen. Als erstes blätterte er auch noch fieberhaft alle anderen Zeitungen, deren er habhaft werden konnte, durch, fand aber darin keinen weiteren Bericht vom Mord im Waldesruh.
Bis die Wiener Zeitungen etwas über Graz schreiben, da muss es schon ein paar Tote geben, dachte er verärgert. Danach setzte er seinen Spaziergang fort ehe er gegen Mittag beschloss, in sein Quartier zurückzukehren.
Ziemlich durchgefroren betrat er die Gaststube vom Hotel „Zum Hirschenwirt“, in dem er ein Einbettzimmer reserviert hatte. Eine Rezeption gab es hier natürlich nicht, die wäre auch jetzt bei den gerade zwei zur Zeit belegten Fremdenzimmer etwas deplaziert gewesen. Die einzige Kellnerin vom Hirschenwirt stand hinter dem Tresen und war gerade dabei, für einen neuen Gast ein Krügel Puntigamer einzuschenken. Er blickte sich gerade im Lokal um und überlegte, an welchen Tisch er sich setzen sollte, da fiel ihm in der hintersten Ecke ein Gast auf.
„Ja, Markowitz, was machst denn du in Waltersdorf?“, fragte Pilz entgeistert, als er den Neuankömmling erkannt hatte.
„Servus Schwammerl, der Hofrat schickt mich her. Er hat mir erzählt, dass du in einem Telefongespräch vorhin nicht sehr kooperativ warst!“, antwortete sein Kollege.
„Ist das ein Wunder, zuerst nimmt er mir den Fall weg und dann soll ich auf einmal vielleicht hier alles stehen und liegen lassen und wieder im Büro antanzen. Ich bin doch kein Spielzeugbär zum Aufziehen!“, gab Pilz verschnupft zurück.
„Ich soll halt ein bisschen schön Wetter machen bei dir, weil nur du bist in dem Fall richtig eingearbeitet. Den Vasic haben sie momentan auch in einer anderen Sache eingesetzt, solang du weg bist. Reden wir halt wenigstens darüber. Ich kann doch sowieso nix dafür!“
Die ehrlichen Worte des Kollegen brachten ihn schnell zur Vernunft, auch sein alter Jagdinstinkt begann sich wieder zu regen.
„Und da hat dich der Hofrat sofort hergeschickt, um mich umzustimmen?“ Irgendwie machte ihn das schon ein wenig stolz, dass man derart großen Wert auf seine Mitarbeit legte und so wirkte er auch schon wieder etwas besänftigt. „Ich möchte ja auch gern rausfinden, ob die beiden Todesfälle zusammenhängen. Gehen wir halt in die Therme, dort können wir ein bisserl schwimmen und zwischendurch im Ruheraum den Fall diskutieren.!“
Gesagt, getan, Markowitz bezahlte sein Bier und Pilz holte schnell seine Tasche mit dem Badezeug aus seinem Zimmer, worauf die zwei zur Badeanstalt spazierten.
Pilz stürzte sich begeistert in das Schwimmbecken, kraulte einige Längen hin und zurück.
Prustend hob er danach seinen Kopf aus dem Wasser, rief Markowitz einige aufmunternde Worte zu, aber der zog es vor, gemütlich im Liegestuhl zu verweilen.
„Sport ist Mord, das hat schon der große Winston Churchill gesagt!“, meinte er lachend zu Pilz und widmete sich wieder seiner Lektüre, der Abendpost.
Der stieg kurz darauf aus dem Wasser, schlüpfte in seine Badelatschen und kam schlurfenden Ganges zu seinem Liegestuhl. Dort zog er einen blauen Bademantel über und rubbelte sich trocken.
„Was liest du denn das Revolverblatt, du solltest lieber einmal ein gutes Buch zur Hand nehmen!“, mokierte er sich über den Lesestoff seines Kollegen.
„Des sagt grad der Richtige!“ antwortete Markowitz,
„Bei dir gehört doch ein Jerry Cotton Roman schon fast zur Weltliteratur!“
Ist ja auch nur zu verständlich, wenn Polizeibeamte, die während ihrer Arbeitszeit staubtrockene Protokolle zu lesen oder zu schreiben hatten, in ihrer Freizeit etwas leichteren Lesestoff bevorzugten, dachte Pilz, sich selbst rechtfertigend. Dennoch zog er es aber vor, nicht weiter auf die Kritik einzugehen.
„Komm mit in die Cafeteria, ich lad dich auf einen Verlängerten ein!“ rief er ihm statt dessen zu und stand ächzend auf.
Markowitz willigte gern ein, kam es doch nicht all zu oft vor, dass Pilz einmal seine Spendierhose anhatte.
Im Restaurant stellte sich alsbald der wahre Grund für seine Großzügigkeit heraus, denn sein sprichwörtlicher Heißhunger hatte ihn wieder einmal übermannt.
„Der Apfelstrudel schmeckt s o gut hier!“, meinte der Oberinspektor zu Markowitz, und lächelte verschmitzt.
Sie setzten sich in eine stille Ecke des Restaurants und noch während Pilz mit großem Appetit seinen Strudel vertilgte, erkundigte er sich auch schon nach näheren Details vom Tatort nach dem Feuer im Waldesruh.
„Was hat denn die Obduktion ergeben, hat sie auch der Professor Bruckner gemacht?“, sprudelte es nur so aus ihm heraus.
„Na, so ganz egal ist dir der Fall doch nicht, wie der Hofrat gemeint hat!“, schmunzelte Markowitz.
Ihr Dienststellenleiter hatte wohl ganz richtig spekuliert, wenn erst einmal der Jagdeifer von Pilz geweckt war, dann würde der die Sache bestimmt liebend gern wieder übernehmen.
„Also, im Bericht steht, dass die Frau Völler stranguliert wurde und schon tot war, als das Feuer auf das Bett übergriff. Die Brandermittlungskommission hat ihren Abschlussbericht zwar noch nicht fertig, aber der Kollege Schmitz ist sich ganz sicher, dass da jemand mit einem Brandbeschleuniger, höchstwahrscheinlich Wundbenzin, das Feuer gelegt hat.“
Pilz nickte zufrieden mit dem Kopf und meinte
„Da wird der Untersuchungsrichter aber ganz schön blöd aus der Wäsche schauen!
Von wegen kein Ermittlungsbedarf!“
Er versprach Markowitz, gleich anschließend sein Hotelzimmer für die restlichen drei Tage zu stornieren und am nächsten Tag wieder nach Graz zu kommen.
Der war heilfroh, diese heikle Aufgabe zur Zufriedenheit gelöst zu haben und machte sich kurz darauf auf den Heimweg, um die gute Nachricht auch noch rechtzeitig ihrem gemeinsamen Vorgesetzten überbringen zu können.

Am nächsten Tag trafen alle sich im Büro von des Leiters der Kriminalabteilung, um die weiter Vorgangsweise zu besprechen. Vasic drückte ihm die Hand, froh darüber, dass sein langjähriger Partner wieder an Bord war. Auch drei Kollegen einer anderen Abteilung tauchten zur Überraschung von Pilz auf und erzählten, dass sie ab sofort für eine Sonderkommission abkommandiert seien. Die Sekretärin des Hofrats bat alle noch einen Augenblick im Vorzimmer zu warten, denn der hatte sie kurz vorher telefonisch davon informiert, dass er zuerst noch zu Polizeidirektor Doktor Stadler müsse. Wohl oder übel fügten sich die Beamten in die Lage, obwohl sie lieber an ihre Arbeit gegangen wären, statt die Zeit im Büro des Hofrats zu vertrödeln. Doch schon nach wenigen Minuten öffnete sich die Tür und ein gut gelaunter Doktor Binder betrat den Raum. Auch wenn er jünger war als Markowitz und Pilz, so zuckten die beiden doch unwillkürlich zusammen und standen eilig von ihren Stühlen auf, die sie sich einfach geschnappt hatten um die Wartezeit zu überbrücken. Jovial begrüßte er jeden mit Handschlag und bat sie in sein Allerheiligstes. Mit wichtiger Miene erwähnte er noch kurz seinen Besuch beim Polizeidirektor, bevor er sich in Positur stellte und sagte,
„Meine Herren, in Anbetracht der Lage, dass nunmehr drei nicht eindeutig geklärte Todesfälle innerhalb von ein paar Wochen im Waldesruh Heim aufgetreten sind, möchte ich eine Sonderkommission zusammenstellen.
Da Oberinspektor Pilz sich ja schon so in diesen Fall verbissen hat, wird auch er die Kommission anführen, selbstverständlich unter meiner Leitung. Ich hoffe sehr, auch Sie sind damit einverstanden, Chefinspektor Markowitz! Die drei Herren von der Gruppe Tausch bitte ich, den Kollegen Pilz mit allen Kräften zu unterstützen, damit wir diese mysteriösen Vorgänge schleunigst aufklären können! Die Presse macht uns eh schon die Hölle heiß!“
Wie um die letzten Worte zu unterstreichen, wischte er sich den Schweiß von der Stirn, lange Reden zu halten gehörte nicht zu seinen liebsten Aufgaben. Nach einem kurzen Händedruck für Pilz war auch für die anderen Anwesenden klar, dass die Besprechung zu Ende war und sie wieder an die Arbeit gehen sollten.
Beim Hinausgehen murmelte Markowitz zu Pilz gewandt
„Wenn der Hofrat eine schlechte Presse gekriegt hat, dann ist ihm kein Personalaufwand zu hoch, um die Scharte wieder auszuwetzen. Wann können wir sonst schon mit sechs Mann einen Fall bearbeiten?“
Zurück im Büro von Pilz fiel ihnen zuerst der Unterschied zwischen beiden Räumen auf. Hier alte Möbel, abgewetzte Stühle, die Bezüge zerschlissen von den zahllosen Besuchern, die darauf bei Verhören ins Schwitzen gekommen waren. Vorhin, im Büro Doktor Binders, ein blitzblanker Mahagonischreibtisch, eine edle Sitzgarnitur aus Leder und ein kleiner Schrank, genutzt als Hausbar, deren Inhalt Pilz schon einmal in einem Anflug von Großzügigkeit seines Chefs kennen lernen durfte.
Doch der Oberinspektor verkniff sich eine neidische Bemerkung, scharte seine Leute um sich und sagte aufmunternd
„Wisst´s was, Burschen, wir setzen uns jetzt in die Kantine zur Einsatzbesprechung, bei mir im Büro ist es ja viel zu eng für alle!”
Freudige Zustimmung war ihm gewiss, und rasch setzten sie sich dahin in Bewegung. Schnell hatten sie eine ruhige Ecke gefunden und überraschenderweise spielte Markowitz diesmal den Wohltäter.
„Ich hab uns ein Achterl Schilcher für Jeden von uns gebracht, das bringt unsere Gehirnzellen zum Arbeiten!“ Fröhlich prosteten sie ihm zu und lauschten alsdann gespannt den Ausführungen von Pilz.
„Auch wenn ich mir nicht viel davon verspreche, wir müssen uns jetzt abwechseln und jede Nacht einen Mann zur Überwachung des Heims abstellen. Das beruhigt die Leute, nicht zu vergessen die Presse. Und vielleicht erfahren wir auf diesem Weg ja auch noch etwas, was wir bis jetzt noch nicht wissen! Ich geh gleich mit gutem Beispiel voran, und übernehme freiwillig morgen die Nachtschicht!“ Erwartungsvoll schaute er in die Runde, gespannt darauf, wie man seinen selbstlosen Einsatz für die Truppe würdigen werde, aber die einzige Reaktion war, dass einer der Männer in die Runde tuschelte
„Des macht er nur, damit er das übermorgen nicht machen muss, dann ist ja das Lokalderby im Liebenauer Stadion!“
Pilz, der das natürlich gehört hatte, verzichtete generös auf einen Kommentar und fuhr weiter fort.
„Markowitz, wir sind doch sicher einer Meinung, dass dein Fall Völler mit dem Tod von Frau Eibel zusammen-hängt, oder?“
„Na, ja, ich denk schon. Aber trotzdem muß ich die Untersuchung ganz normal bearbeiten. Also, warten auf den Bericht der Autopsie und so weiter. Ich erwarte noch den Anruf vom Sohn der alten Dame. Er hat gestern die paar Reste ihrer persönlichen Gegenstände, die das Feuer übriggelassen hat, abgeholt.“
„Gut, Kollege, aber danach verhörst du bitte die Oberschwester, sie heißt Herta Kien. Wenn sie nicht im Heim ist, fahr zu ihr nach Haus. Sie wohnt in der Rechbauerstrasse 21. Den Vasic kann ich da net hinschicken, der steht auf die Kien. Wer weiß, vielleicht verlobt er sich noch mit ihr, statt sie zu vernehmen!“
Der Angesprochene bekam einen roten Kopf vor Verlegenheit und verteidigte sich zornig
„Des is doch gar nicht wahr. Ich kann sehr wohl Arbeit und Vergnügen trennen!“
„Ja, ich weiß eh, Mirko, ich hab doch nur a Hetz´ gemacht!“ wiegelte der Oberinspektor schmunzelnd ab. Zur Abkühlung schickte er ihn ins Archiv, um dort alle Informationen über Urban und über Straftaten in Seniorenheimen rauszufinden.
„Der Baier is ja leider noch krank, schnapp dir den Holzer, vielleicht kann der aus dem Computer etwas rauskitzeln!“
„Die drei anderen Kollegen nehmen sich bitte die Akten vor und gehen sie noch einmal durch. Vielleicht fällt ihnen als Unvoreingenommenen etwas auf, was wir bis jetzt übersehen haben.“
Er selbst fuhr zu seinem Bruder in die Finanzdirektion, um sich mit ihm einmal persönlich über Urban zu unterhalten.
Als Irene von der Arbeit nach Hause kam, sah sie sofort die kleine blinkende LED Lampe an ihrem Anruf-beantworter. Gespannt drückte sie auf die Taste zum Abhören
Grüß dich, Irene! Hier ist Luzie Meier vom Waldesruh. Bei uns sind heute gleich mehrere Leute krank geworden, deshalb wollte ich dich fragen, ob du nicht die Nachtschicht übernehmen kannst? Bitte ruf zurück, in jedem Fall, bitte!
Im Heim hatte sie nur ihre private Nummer angegeben, und mit fadenscheinigen Gründen abgelehnt, ihre Telefonnummer vom Arbeitsplatz zu hinterlassen, nur zu schnell wäre ihre Tarnung damit aufgeflogen.
Sie wählte die Nummer vom Waldesruh und nach endloser Warterei, nachdem sie mehrmals weiter verbunden worden war, kam endlich Luzie ans Telefon.
„Tut mir Leid, Irene, dass du so lange warten musstest, mein schnurloses Telefon funktioniert im zweiten Stock fast nie, der Empfang dort ist einfach zu schlecht. Wie schaut´s aus, kannst du heute Nacht arbeiten?“
„Ich will euch ja nicht hängen lassen, aber ich muss morgen früh wieder in die Buchhandlung. Das dürfte schon ganz schön hart werden für mich!“ versuchte sie sich rauszureden.
„Ich versteh das schon“, gab die Schwester verständnisvoll zurück, „aber du arbeitest ja mit der Frau Hammer zusammen, die macht eh fast alles allein. Und ab ca. 1 Uhr passiert bestimmt nichts mehr, dann kannst du dich ein bisserl hinlegen. Übrigens, warum warst du eigentlich heute nicht in deiner Bücherei. Ich hab dich nämlich dort zuerst versucht zu erreichen. Aber man hat mir nur mitgeteilt, du wärst grad nicht da!“
Irene fuhr der Schreck in die Glieder, denn die An-gestellten der Buchhandlung waren zwar informiert worden, keine Auskünfte über Irene zu geben, aber man hatte ihnen nicht gesagt, weshalb. Es war aber auch zu blöd von mir, dass ich nicht damit gerechnet hatte, dort angerufen zu werden. Nun muss ich mir eine gute Ausrede einfallen lassen. Sie hätte sich ohrfeigen können.
Gott sei Dank wurde Luzie Meier von jemandem gerufen und verabschiedete sich eiligst, ohne die Antwort auf ihre Frage abzuwarten.
„Also heute Abend um acht, abgemacht? Servus!“
Das war ja noch einmal gut gegangen, dachte Irene erleichtert. Um solche peinlichen Situationen in Zukunft zu vermeiden, musste sie sich wohl mit Peter Lechner zusammen etwas einfallen lassen.
Sie kochte sich schnell eine Kleinigkeit, im Heim würde sie wohl kaum zum Essen kommen. Dann ging sie unter die Dusche, zog sich um und legte sich noch eine Stunde auf die Couch. Danach musste sie aber losfahren, um rechtzeitig zur Ablösung im Heim zu sein.
Kurz vor acht kam sie im Heim an, Luzie wartete schon ungeduldig, die anderen Pflegerinnen waren bereits weg.
„Ich muss meine Tochter noch vom Training abholen. Sie spielt Volleyball beim ATV. Wenn ich nicht pünktlich da bin, dann fährt sie womöglich mit der Straßenbahn, wo sie das letzte Stück zu Fuß gehen muss, und das möchte ich nicht, jetzt bei der Dunkelheit.
Aber jetzt bist du ja Gott sei Dank da. Danke fürs Einspringen!“
Mit diesen Worten verabschiedete sich Luzie und strebte eilig dem Parkplatz zu.
Nun waren sie alleine, Irene und Frau Hammer, die pensionierte Krankenschwester.
Sie erzählte Irene, was der Nachtdienst so alles zu machen hatte und beruhigte sie mit dem Hinweis
„Die alten Leute gehen ja früh schlafen. Wenn wir Glück haben, passiert die ganze Nacht über nichts.“
„Ihr Wort in Gottes Ohr, ich bin schon aufgeregt, so auf mich allein gestellt arbeiten zu müssen!“, meinte sie.
„Sag ruhig Hilde zu mir, auch wenn ich viel älter bin als du. Keine Angst, ich werd dir schon helfen, wenn du was nicht weißt.“
Wie zuvor versprochen, verliefen die nächsten Stunden ziemlich eintönig und nachdem man alle Routinearbeiten erledigt hatte, machten die Zwei es sich auf den beiden Liegen im Schwesternzimmer gemütlich.
„Mach dir keine Sorgen, ich kann sowieso nicht schlafen, wenn es notwendig ist, dann weck ich dich schon,!“ nahm ihr Frau Hammer das schlechte Gewissen.
Es mochte vielleicht zwei Stunden vergangen sein, da spürte Irene, wie jemand heftig an ihrer Schulter rüttelte. Sofort war sie wieder hellwach, sprang auf, sah das besorgte Gesicht der Frau Hammer und fragte sie, was geschehen sei.
„Da muss irgendwer gekommen sein, aber die Eingangstür ist ja schon abgeschlossen. Ich versteh das nicht. Ich hab nur einen Schatten gesehen, der auf der Stiege nach oben gehuscht ist.“
Die Beiden beratschlagten, was sie machen sollten und entschieden sich dann, gemeinsam nach in den ersten Stock zu gehen und nachzuschauen.
Irene hatte weiche Knie und auch Frau Hammer beschlich ein ungutes Gefühl. Früher hätte sie sich nichts gedacht dabei, es gab schon öfters Heimbewohner, die für einen Angehörigen um einen Nachschlüssel gebeten hatten, weil dieser aus beruflichen Gründen nur sehr spät zu Besuch kommen konnte. Aber seit den unerfreulichen Vorkommnissen der letzten Wochen waren alle diese Schlüssel aus Sicherheitsgründen eingezogen worden.
Im ersten Stock schien alles ruhig zu sein, nur aus einem Zimmer erklang ein leises Wimmern. Erschrocken schaute Irene zu ihrer Kollegin, aber die winkte gelassen ab.
„Das ist nur Frau Schmidt, die ist total verwirrt. Ihr fehlt überhaupt nichts.“
„Das ihr bei so was so gelassen bleiben könnt, ich hätte geschworen, dass da was nicht in Ordnung ist!“, wunderte sich Irene.
„In diesem Beruf musst du ein dickes Fell haben, sonst gehst du daran kaputt an dem ganzen Leid und Elend!“
meinte Hilde nur und zog sie zur Treppe in den zweiten Stock. Dort hörten sie das typische Geräusch einer zuschnappenden Tür, nach Meinung von Hilde konnte es nur die Teeküche sein.
„Dort können wir in der Nacht auch mal Tee kochen, wenn noch jemand Durst hat und brauchen nicht extra nach unten in die Küche gehen.“
Frau Hammer ging entschlossen auf das Zimmer zu und öffnete ruckartig die Tür.
„Ja Herta, was machst denn du hier, hab ich mich vielleicht erschrocken!“ Da stand die Oberschwester, und schaute die beiden mit schuldbewusstem Blick an.
„Ich hab heut Nachmittag meine Handtasche hier vergessen, erst zu Haus ist mir eingefallen, dass ich einen Überweisungsschein von meinem Arzt drinnen hab, den brauch ich morgen früh. Ich hab nämlich einen Termin beim Dr. Weitzer. Und wie ich gesehen hab, dass bei euch im Schwesternzimmer alles ruhig ist, wollt ich euch nicht aufwecken!“
Mit dem Hinweis, dass sie am nächsten Tag nicht verschlafen dürfe, verabschiedete sich die Oberschwester eilig und ging, um nicht zu sagen rannte, zu ihrem vor dem Heim abgestellten Fahrrad. Völlig perplex schauten sich die beiden an und sahen wie ihre Kollegin in der Dunkelheit verschwand.
„Das kommt mir aber eigenartig vor“, murmelte Hilde vor sich hin.
„Herta hat zwar einen Generalschlüssel, solange Frau Pröll im Krankenstand ist. Aber warum kommt sie denn mitten in der Nacht heimlich hier reingeschlichen wie ein Dieb. Dass sie ihre Handtasche vergessen hat, muss sie doch schon viel früher bemerkt haben!“
Irene dachte sich ihren Teil, aber um nicht durch allzu große Neugierde aufzufallen, hielt sie lieber ihren Mund. Es war schon faszinierend, immer wenn sie im Heim war, geschahen merkwürdige Dinge. Sie war schon gespannt, was ihr Vater wohl dazu sagen würde. Peter Lechner, ihr Redakteur, würde allerdings bis jetzt eher enttäuscht sein.
Lechner war ja eher dran interessiert, Missstände im wirtschaftlichen oder pflegerischen Bereich aufzudecken und in seiner Serie anzuprangern. Sie nahm sich vor, in dieser Hinsicht noch mehr die Augen offen zu halten.
„Die arme Herta, die hat es auch nicht leicht! Sie arbeitet hier hart, verdient nicht gerade das große Geld, aber ihr Herr Sohn tut den ganzen Tag nichts. Er ist schon neunzehn, die Lehre hat er abgebrochen und bei seinen gelegentlichen Jobs als Hilfsarbeiter ist er immer schon nach ein paar Tagen rausgeflogen.“
Irene schaute Hilde fragend an „Und was ist mit seinem Vater?“ Mitfühlend seufzte Frau Hammer und sagte
„Geh, die Männer, die sind doch alle gleich. Der Mann von der Herta hat sich schon vor fünf Jahren mit einer jüngeren aus dem Staub gemacht. Alimente hat er ihr auch keine gezahlt. Angeblich ist er völlig mittellos.“
Eine blinkende Lampe an der Wand riss die zwei aus ihrem angeregten Gespräch
„Jessas, fast hätte ich vergessen, wofür wir eigentlich hier sind. Wir tratschen stundenlang und vergessen ganz auf die alten Leut´!“
Die Lampe zeigte an, dass der Ruf aus Zimmer 15 kam, das war nur zwei Türen vom Schwesternzimmer entfernt.
Als sie eintraten, schlug ihnen sofort der typische Gestank von menschlichen Ausscheidungen entgegen und Irene zuckte unwillkürlich zurück. Aber die erfahrene Altenpflegerin sagte nur beruhigend
„Na, Frau Schulz, ich seh schon, was los ist. Machen sie sich nichts draus, dafür sind wir ja da!“, und erntete den dankbaren Blick der sichtlich verzweifelten Frau.
„Jetzt lernst du auch einmal die Schattenseiten des Pflegeberufs kennen, Irene!“, meinte Hilde und zog sich mit hilflosem Achselzucken Gummihandschuhe über. Dann holte sie aus einem kleinen Schrank im Zimmer eine Windel, Pflegetücher und einen Waschlappen und ging resolut an die unappetitliche Arbeit.
„Das ist was anderes, als einem süßen Baby den Popo zu wischen, was, Irene?“
Die konnte nur gequält lächeln und verwünschte insgeheim ihre Schnapsidee, ausgerechnet hier den verdeckten Ermittler spielen zu wollen. Frau Hammer bemerkte sehr wohl ihren leicht entsetzten Blick und tröstete sie
„Daran hat man sich schnell gewöhnt, oder man gewöhnt sich nie daran. Dann sollte man aber lieber den Beruf wechseln!“
Nach zwei Stunden, in denen nichts mehr passierte, kam dann endlich die Ablösung, die neue Frühschicht begann ihre Arbeit und Irene machte sich schleunigst auf den Heimweg.
Zu Hause angekommen, rief sie kurz in der Redaktion an und bat darum, ob sie heute nicht ausnahmsweise etwas später zum Dienst erscheinen könnte, danach legte sie sich ein paar Stunden hin.

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Hans Pürstner, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.02.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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