Sascha Kahl

Dennis: Aufklärung für Anfänger

„Papi, wo komme ich eigentlich her?“, fragte Dennis eines abends kurz vor dem Schlafengehen seinen Vater. Dieser verschluckte sich sogleich an etwas, obwohl er, wie Dennis verwundert feststellte, weder etwas gegessen, noch etwas getrunken hatte.
Bis sich sein Vater wieder einigermaßen berappelt hatte, vergingen ein paar Sekunden. Doch die Zeit war viel zu kurz um sich für Dennis eine schlagkräftige Antwort zu überlegen. Dabei hätte er genau genommen schon sechs Jahre lang dafür Zeit gehabt.
Als viel beschäftigter Vater fühlte er sich bei einer solch intimen Frage absolut überfordert. Zwar war ihm die Antwort darauf sehr wohl bekannt – es stand sogar ein 1,30 Meter großer Beweis vor ihm – aber irgendwie schien es ihm an einer anschaulichen Erklärung zu hapern, um seinem Sohn seine Existenz zu erklären. Dummerweise war auch seine Frau nicht im Hause, womit er sozusagen in der Falle saß.
Und die Falle zog sich immer fester zu: „Ist dir das etwa peinlich?“ streute Dennis ihm noch mehr Salz in die Wunde. Schmerzen verspürte er natürlich nicht – doch die Schamesröte, die ihm zu Kopf stieg, war auch kein Vergnügen.
Er fragte sich, wie viel Dennis schon wusste. Genau genommen hatte er die „Heftchen“ doch immer gut vor seinem Sohn versteckt gehabt. Da es sogleich auch ein gutes Versteck vor seiner Frau sein musste, war dieses seiner Meinung nach vortrefflich. Wer sollte schon auf die Idee kommen, dass die „Heftchen“ in einer Ritze hinter dem Wohnzimmerschrank liegen. Er hatte sie sogar so weit hinter den Schrank geschoben, dass Dennis niemals daran käme ... selbst mit ausgestrecktem Arm nicht. Auch dies war wieder ein eindrucksvoller Beweis dafür über was sich viel beschäftigte Männer noch zusätzlich Gedanken machen mussten.
Doch bevor er weiter über das Für und Wider seines Versteckes nachdenken konnte, war sein Sohn schon wieder zur Stelle – er ging in die volle Offensive, denn er wollte unbedingt wissen wie er auf die Welt gekommen ist:“ Also Papa! Was ist denn los mit dir? Wieso sagst du denn nichts? Du weißt doch sonst immer alles und willst mir alles erklären, weil ich doch noch so viel lernen muss ...“. Sein Vater blieb wie versteinert stehen.
Dennis fragte sich mittlerweile, ob er etwas gefragt hatte, was er gar nicht wissen durfte. Vielleicht würde sein Vater bestraft werden, wenn er das Geheimnis verraten würde. Das wollte Dennis natürlich nicht. Andererseits weckte das seine Neugierde natürlich noch mehr. „Es muss ja etwas Unglaubliches geschehen sein, als ich auf die Welt kam. So unglaublich, dass man es nicht mal erklären kann“.
Sein Vater gab seine Versteinerungs-Strategie auf und nickte. Mehr konnte er seinem Vater jedoch nicht entlocken, sodass er zu dem Entschluss kam, dass er die Wahrheit heute wohl nicht erfahren würde. Aufgeben wollte er aber auf keinen Fall.
Am nächsten Morgen, sein Vater schlief noch, ging er zu seiner Mutter, die mit Sturmfrisur, also noch ungestylt, das Frühstück zubereitete. „Mutti, wo komme ich her? Wie bin ich auf die Welt gekommen“, überfiel er sie regelrecht. Eine Antwort darauf zu geben war schon schwer genug – doch dies zu tun während sie im Halbschlaf versuchte ihren „Männern“ aus halbreifen Orangen einen annehmbaren Saft zu pressen, war absolut unmöglich.
Mit einem verzerrten Gesichtsausdruck, zu gleichen Teilen wegen des Kraftakts und der misslichen Frage, sagte sie ihm: „Kannst du das nicht deinen Vater fragen, wenn er aufgestanden ist? Du fragst ihn doch sonst auch immer alles“.
Ein paar Sekunden benötigte Dennis um diese Antwort zu verarbeiten, denn so richtig wach war er natürlich auch noch nicht. Seine Mutter hoffte bereits, dass sie somit in der Küche freie Bahn hätte und sich weiter mit den Widerstand leistenden Orangen beschäftigen könnte.
„Papa weiß das glaube ich nicht, oder er darf es nicht verraten. Ich habe ihn gestern gefragt – er war völlig verwirrt“, sagte Dennis und erntete ein Grinsen seiner Mutter, welches er überhaupt nicht verstehen konnte.
„Du, ich bin mir ganz sicher, dass der Papa das weiß“, lächelte sie Dennis an, „aber bei diesem Thema ist er immer ein wenig verklemmt“.
„Wieso denn verklemmt?“, fragte Dennis sogleich, der das Wort „verklemmt“ durchaus kannte. Schubladen konnten zum Beispiel klemmen, doch sein Vater auch?
„Ich meinte damit, dass es ihm wohl ein wenig peinlich ist dir zu erklären wie du auf die Welt gekommen bist“, erwiderte seine Mutter, der es durchaus bewusst war, dass es ihr wahrscheinlich nicht leichter fallen würde als seinem Vater.
Nun verstand Dennis überhaupt nichts mehr. Wieso konnte es seinem Vater peinlich gewesen sein? Er wusste doch die Antwort. Hatte sein Vater vielleicht etwas falsch gemacht, als er geboren wurde? Oder hatte gar er selbst, Dennis, einen Fehler gemacht?
Dummerweise konnte er sich nicht im Geringsten daran erinnern, was vor etwa sechs Jahren geschehen war. An sich hatte Dennis nämlich ein gutes Gedächtnis, aber zu dem Zeitpunkt muss er wohl irgendwie einen Black-Out gehabt haben.
„Dann kannst du mir doch erzählen wie ich zur Welt kam, Mutti! Oder ist es dir etwa auch peinlich?“, fragte er sie. Wie am vergangenen Abend, als er seinen Vater gefragt hatte, entstand nach dem entscheidenden Satz eine kleine Pause. Dennis wartete regelrecht auf ein Hüsteln seiner Mutter – dies blieb jedoch aus. Dass sie aber angestrengt über etwas nachdachte, war nicht zu übersehen.
„Nein, das ist mir natürlich nicht peinlich“, beschwindelte sie ihn. Sie wurde nicht rot im Gesicht. „Gut so“, dachte sie sich und wurde noch ein wenig mutiger. Zu verlieren hatte sie sowieso nichts. Dämlicher als ihr Mann konnte sie sich mit Sicherheit nicht anstellen ... hoffte sie.
Recht leise, und nicht besonders von sich überzeugt, begann sie: „Ich und dein Papa hatten sich vor ein paar Jahren sehr lieb. Und das haben wir uns natürlich auch nach wie vor. Zu dem Zeitpunkt, als du entstanden bist, hatten wir uns aber ganz besonders lieb.“ Nun stieg ihr die Röte doch ins Gesicht.
Nachdem sie bisher gestanden hatte, zog sie es nun vor sich hinzusetzen – Dennis stand direkt vor ihr und starrte sie gebannt an.
„Und wenn sich Mama und Papa, bei anderen Frauen und Männern ist das genauso, sehr lieb haben, entsteht ein Kind - manchmal sogar zwei oder drei. Das Kind ist zunächst sehr klein und wächst sehr langsam. Aber nach etwa neun Monaten kommt es dann auf die Welt – genauso wie du.“
Ihr war sehr wohl bewusst, dass sie nicht alles erzählt hatte – hoffte aber, dass sich ihr Sohn mit dieser Kurzfassung zufrieden geben würde. Das tat er natürlich nicht.
„Gut, so bin ich also entstanden. Aber wo genau komme ich her? Ich bin doch nicht aus einem Ei geschlüpft, oder doch Mami?“
Nun gab es für sie die einmalige Chance noch dämlicher zu sein als ihr Mann. Sie verzichtete aber und erzählte durchaus wahrheitsgemäß: „Nein, du bist natürlich nicht aus einem Ei geschlüpft. Du bist aus meinem Bauch gekommen.“
„Aus deinem Bauch?“, fragte er nach. Aber er war sich sehr sicher, dass er sich nicht verhört hatte. „Das war also das Geheimnis, das mir Papi nicht verraten wollte“, dachte er sich. „Wahrscheinlich war es ihm peinlich, dass ich nicht aus seinem Bauch, sondern aus dem von Mami gekommen bin.“
Im selben Moment hatte Dennis das Bedürfnis seinen Vater zu trösten und lief ins Schlafzimmer. Sein Vater war schon wach und kam ihm auf halben Weg entgegen.
„Gestern habe ich dich doch gefragt, wo ich herkomme“, kam Dennis gleich auf den Punkt. „Ja?“, fragte sein Vater, denn er wusste, dass das noch nicht alles war.
„Ich weiß jetzt wie ich entstanden bin und wo ich herkomme. Papi, ich weiß alles!“, sagte er freudestrahlend.
Diese Freude konnte sein Vater jedoch nicht mit ihm teilen. Er wirkte regelrecht geschockt. Da seine Frau, so dachte er jedenfalls, ebenfalls nicht den Mumm besaß ihm die Wahrheit zu erzählen, gab es aus seiner Sicht nur eine logische Erklärung.
Sogleich flitzte er in Richtung Wohnzimmer und rannte dabei fast seine Frau um. Dennis lief ihm hinterher. Seine Mutter folgte ihm geschwind. Als sie sah wie ihr Mann zunächst einen aufgeregten und dann sogleich einen erleichterten Gesichtsausdruck bekam, als er hinter den Schrank blickte, schaute sie Dennis an. Gemeinsam fragten sie das Familienoberhaupt, wieso er hinter den Wohnzimmerschrank geschaut hatte.
Er lächelte ihnen verlegen entgegen und sagte: „Ihr müsst doch nicht alles wissen“.
Dennis verstand sofort. Wahrscheinlich hatte sein Vater schon wieder ein peinliches Geheimnis, welches er ihm nicht erzählen wollte. In diesem Fall konnte sein Vater es aber gerne für sich behalten ... zumindest bis zum heutigen Abend. Was er aber nicht ahnte war, dass auch seine Mutter den “Schrankgucker“ ausfragen wollte, und sogar noch früher als Dennis.
Als Sohn eines geheimnisvollen Vaters hatte man es wahrlich nicht leicht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.02.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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