Ladre Rasa

Der lachende Purpur

Ulysses Fox schaute aus dem Fenster. Draußen wurde sein Blick von dunklen Wolken empfangen, die müde am Himmel zogen und leise regneten. Ein schmutziggrauer Anblick war dies und eine klamme Kälte durchdrang die Glieder. Auf den verlassenen Straßen bildeten sich kleine Rinnsäle und flossen in die gierigen Gullys. Es war noch Mittag, aber die Sonne war trotz der Jahreszeit nicht zu sehen, es war schon lange ein nebliger Frühling, als ob die Sonne sich scheute in diesem Jahr.
Das Stundenhotel, in dem sich Ulysses Fox befand war sowieso schon elend genug, doch gepaart mit der elegischen Stimmung draußen, außerhalb dieses Zimmers, wurde es zu einem Drama, indem die Protagonisten sich der Atmosphäre anpassten. Kein Mensch war auf den Straßen zu sehen, kein Wagen fuhr vorbei und Lichter waren auch nicht zu sehen, nur vorgezogene Vorhänge, die jeden alleine ließen in seiner kleinen Welt.
Ulysses ging zurück zum Bett und setzte sich auf die Matratze, während er das Mädchen betrachtete.
Sie schien was sagen zu wollen und Ulysses beugte sich herab zu ihr, doch aus ihrem zerschlagenen Mund kam kein verständlicher Laut. Ulysses beugte sich noch tiefer zu ihr, so das sein Ohr an ihrem Mund lag, doch nur blubbernde Geräusche erklangen; keine ätherische Stimme mehr, kein glockenhelles Lachen mehr, kein engelsgleiches Gezwitschere mehr. Das Blut sickerte an ihrem porzellanweißen Hals herab, fing sich in ihrer Halskuhle, wo es einen stillen See bildete, einen See aus Zinnober.
"Was willst du mir sagen, mein Engel?" fragte Ulysses das Mädchen. Tränen fielen nun, silberne Perlen, die eine Symphonie der Farben tanzten, dort, an ihrem Hals. "Bitte...Bitte!" Immer nur diese Worte tanzten durch den abgedunkelten Raum und Ulysses lauschte begierig, verfolgte die Laute, wie sie zwischen den Schatten verschwanden, nichtbeachtet.
Ulysses drehte das zierliche Mädchen auf den Bauch und strich über ihre geraden, weißen Beine, ertastete die Sehnen, die grazilen Muskeln, immer tiefer, die weichen Waden entlang, über die festen Knöchel, die Fesseln, einst Untergang des stolzen Achilles, hinab zu den kleinen Zehen, die sich sträubten, sich windeten.
Draußen erscholl ein Lachen, verklang wieder, fast verschämt und wieder herrschte die drückende Stimmung. Ulysses legte sich neben das Mädchen. Kopf an Kopf lauschte er ihrem stoßenden Atem, lauschte er ihren flehenden Bitten und er sog ein ihren süßen Atem, blutgeschwängert, der rot wie ihre zarte Seele dem Körper entfleuchte.
Dann sah er auf die Uhr und bemerkte, das es Zeit war. Er griff nach dem Telefon und wählte.
Während die Sekretärin ihn verbindete, strich er dem Mädchen über das Haar. Er nahm das Telefon in seine Hand und setzte sich auf die Beine des Mädchens. Sie winselte, betete und er verspürte eine Erektion. Dann endlich wurde er verbunden.
"Wer sind Sie, ich kenne keinen Fox!" erklang gestresst eine Männerstimme am Ende des Apparats.
"Das tut nichts zur Sache, Mr. Cahill, ich kenne Sie und das reicht..." "Hören Sie, ich bin ein vielbeschäftigter Mann und in einem wichtigen Gespräch mit einem Partner, können Sie nicht später... geht es um die Gewerkschaftssache? Dann wenden Sie sich..." "Nein, keine Gesellschaft, Cahill. Hören Sie mir doch einfach zu. Erinnern Sie sich an Mr. Puccini?"
Cahill atmete tief durch und Ulysses konnte spüren, wie die Angst durch die Leitung kroch. Nach einigen Sekunden des Sammelns antwortete Cahill. "Was für ein Puccini? Sie müssen den falsche haben..." "Nicht doch, Sir, Sie sollten sich erinnern, wenn nicht helfe ich Ihnen gerne auf die Sprünge. Sie schulden dem genannten Herren eine beträchtliche Summe Geld, dazu die Sache, das Sie seinen Neffen verpfiffen haben. Keine schöne Sache, das. Erinnern sie sich jetzt?"
Wutschnaubendes Grunzen, dann: "Er bekommt keinen lausigen Penny von mir, er hat mich betrogen, ich scheiß auf diesen Möchtegern Mafiosi!"
Ulysses musste lächeln. "Ich verstehe, aber auch das tut hier nichts zur Sache. Wissen Sie, Puccini möchte das Geld gar nicht mehr. Nun, Sie haben ihm seinen Neffen genommen und nun will er Vergeltung, triviale Rache. Ich bin hier nicht alleine, Mr. Cahill!" Der andere wusste, was nun geschehen würde, doch er schwieg. Ulysses erklärte ihm die Situation, sagte ihm, das er seine Tochter aus dem Tennisclub mitgenommen hatte und das er sie jetzt töten würde. Warum tun Sie das! , schrie der Mann und gleichzeitig drohte er, ja, er würde Ulysses in Scheiben schneiden lassen und ihn rösten, dann änderte er seine Taktik, man könne ja über alles reden, bot Geld an, doch bitte, bitte nicht seine Tochter.
"Zu spät, alter Mann. Der Italiener will das Geld nicht mehr, der Modus operandi ist nur die verwerfliche Rache."
Ulysses zog sein Messer, kalt und scharf, der Alte stöhnte in die Leitung und schrie in den Hörer.
"Ihre Tochter ist sehr schön, Mr. Cahill. So schön wie ein Gemälde." Er betrachtete ihr rabenschwarzes Haar, fuhr mit der Klinge durch und lauschte dem Sirren, leise, und er sah ihren Nacken, eben und zart.
"...alles was Sie wollen!", hörte er aus der Leitung, aber das war zu spät. Das Mädchen winselte, versuchte sich zu drehen, doch Ulysses hielt sie fest mit seinem Gewicht und er fuhr sanft mit der Klinge über ihren Nacken, verfolgte fasziniert die Bahn des Blutes.
"Du bist eine Rose, eine Nelke und eine Orchidee, mehr noch, du bist ein Bouquet aus elysischen Knospen, ein Archipel aus Farbe und Form!" Und er schnitt tiefer und sie schrie jetzt so laut, das ihr Vater sie hörte und auch er schrie, seine Stimme brach und er brüllte Flüche und böse Worte, er weinte und sabberte.
"Könnten Sie doch nur sehen, was ich sehe! Cahill, ich habe vor mir einen sakralen Körper, ein physisches Wunder, oh, diese Farben, diese Hülle, so perfekt und numinos, doch darunter, glauben Sie mir, ist nur Fleisch, gewöhnliches Fleisch und Sehnen und Muskeln und Knochen und Gedärm und Mark und Blut. Ich entblöße Gottes Werkzeug, entzaubere sein liebstes Kind und ich sehe, das es schlecht ist und stinkt und nicht für die Ewigkeit ist, ich initiiere Sie, hinein in den Kreis der Esoteriker, keine metaphysischen Barrieren mehr, kein Rätseln mehr über eine Epiphanie im menschlichen Körper. Es ist nur Fleisch, nehme ich es nicht, nimmt es die Zeit!"
Cahill stammelte nur noch, das Mädchen piepte wie ein Vogel und Ulysses drang noch tiefer in ihren Körper, schnitt auf das weiche Bein und entblößte die Wahrheit, er beugte sich tief hinunter.
"Hören Sie, alter Mann, ich schaue hinein ins Paradies, mein Wort darauf, es ist eine schöne, weiche Höhle, dunkel und klandestin und im Zentrum suhlt sich eine rosa Sonne, drum herum schweben rote Sterne und Monde, ja, wer immer den Weg ins Paradies sucht, der solle blicken zwischen die Säulen Sophias, Urmutter und Genius; hören Sie es? So hören Sie doch! Die Seelen der Verstorbenen, ihr ätherischer Gesang, die Töne dringen durch die nassen Lippen!"
Ulysses führte nun sein Messer in die Höhle ein, zerschnitt was Leben gebar, seine Erektion schwoll an wie ein Vulkan..."Ich flehe Sie an, bei Gott, ich flehe Sie an, hören Sie doch auf, sie ist doch noch ein Kind..." Cahills Stimme war nun wie die Stimme eines Geistes, im Hintergrund schrieen Leute.
"Es ist gleich vorbei, nur noch ein bisschen. So ist es gut, tiefer hinein, nicht bewegen, Kleines, dann ist es vorüber. Ich verstehe dich nicht, sag es lauter!"
Doch das Mädchen schwieg und Ulysses stieg hinab von ihr, tot war sie und wenn sie eine Seele hatte, dann entwich sie jetzt.
Ulysses sprach leise in den Hörer, unterbrach den weinenden alten Mann.
"Es ist vorbei."



Einige Tage später war der Boden zu heiß geworden für Ulysses und so verließ er die Stadt. Cahill hatte seine nicht zu unterschätzenden Beziehungen spielen lassen und ließ Ulysses suchen; er hatte ein großes Kopfgeld ausgesetzt auf den Mann, der seine Tochter umgebracht hatte. Puccini selbst zahlte Ulysses für die getane Arbeit aus und schüttelte dabei den Kopf, es hieß sogar, sogar er wäre von der Brutalität und der Vorgehensweise angewidert.
Nun stand Ulysses auf der einsamen Brücke in einer noch einsameren Gegend. Er wartete auf Eddy, der ihm den Cahill-Job besorgt hatte und wieder etwas in petto zu haben schien. Ulysses mochte Eddy nicht besonders, aber er besorgte immer gute Aufträge und so wartete Ulysses in der klammen Nacht auf seinen Bekannten. Er befand sich in Neu-England, irgendwo in Rhode Island, doch die Gegend war ihm nicht sehr geheuer. Etwas an der mondlosen, finsteren Nacht und der Art, wie die Schatten sich bewegten, kam ihm sonderbar vor. Kein Stern war zu sehen und auch keine Lichter einer Stadt erhellten die Szenerie, dies war eine sehr dünn besiedelte Gegend und überall wucherte der Wald, der einst die Pioniere so erschreckt hatte. Und doch lag ein mattes Schimmern im Dunkeln, es war nicht kosmisch finster, obwohl jede Lichtquelle fehlte.
Kein Mensch war zu sehen und auch Eddy hatte sich verspätet, vielleicht hatte er sich verfahren, doch er selbst hatte auf diesen Treffpunkt bestanden. Ulysses drehte sich im Kreis, er spürte einen sanften Wind und hörte das Rauschen der Bäume, wenn sie sich im Wind wiegten. Zwischen den Bäumen war jedoch absolute Finsternis, ein Schwarz waberte dort, das es selbst im endlosen Kosmos nicht geben durfte. Ab und zu erklangen leise Rufe und Schreie von Vögeln; Zikaden zirpten und Ziegenmelker stoben empor, von denen man sich in diesem Teil der Welt ominöse Geschichten erzählte. Nur das Auto erinnerte Ulysses daran, noch auf der Erde zu sein. Doch am meisten verstörte Ulysses der kleine Fluss, der etwa drei Meter unter ihm floss.
Ulysses stand jetzt an der Brüstung und starrte hinab wie er es schon vor einer Stunde getan hatte, doch auch jetzt konnte er nichts genaues erkennen. Unter ihm bewegte sich ein dunkles Etwas, das waberte und spritzte, ächzende Geräusche machte und amorphe Geschöpfe zu bilden schien. Ulysses glaubte wirklich, Wesen zu erkennen, die sich aus dem fließenden Etwas zu erheben schienen, um kurz darauf wieder zu verschwinden. Das war natürlich nur Einbildung, in Wahrheit sah er nichts, er ahnte nur das schwarze Wasser, das sich träge in seinem Bett wälzte und gegen die erdigen Ufer klatschte.
Die Sache mit Cahill hatte ihn ganz schön durcheinander gebracht, er war es nicht gewohnt, von seinesgleichen gejagt zu werden, denn viele seiner ehemaligen Partner lockte das Kopfgeld, von Puccini brauchte er keine Hilfe zu erwarten, der hatte bekommen, was er wollte und mehr wollte er auch nicht wissen. Während Ulysses so sinnierte, erschien endlich Licht an der Biegung, die zur Brücke führte, das konnte nur Eddy sein, denn bisher war noch kein anderes Auto hier erschienen.
Und tatsächlich war es Eddy, der etwas steif aus seinem Cabrio stieg, das er immer fuhr, egal, wie kalt es war. Es folgte eine kurze Begrüßung, Eddy stand vor seinem wagen und Ulysses lehnte an der Brüstung, über ihm der schwarze Himmel und unter ihm der schwarze Fluss.
Eddy gratulierte ihm zu der Cahillsache, grinste dumm herum und druckste, er war ziemlich aufgeregt und nervös schaute er sich immer wieder um. „Schön fies, wie du die kleine umgebracht hast.“ Er grinste wieder stupide, Ulysses schwieg.
„Ich meine die Nummer mit dem Anruf und so, du weißt schon, dann die Art des Tötens...Hat eine Menge Wirbel gemacht. Die Paten in Boston sollen ganz schön sauer gewesen sein auf Puccini, du weißt doch, Kinder sind eigentlich tabu und dann auch noch so...“ Ein ganzer Schwarm von Ziegenmelkern stob auf und ließ sich auf einem der Bäume nieder, gegenüber der beiden, als ob sie das ganze beobachten wollten. Ihre Konturen verloren sich im Dunkeln und sie gaben keinen Laut von sich, doch Ulysses konnte ihre Präsenz spüren.
„Eddy, komm zur Sache, das Cahill-Ding ist zu Ende, ich brauche jetzt einen guten Job. Mit der Kohle verschwinde ich für eine Zeit.“ Ulysses wurde jetzt auch immer nervöser, hier stimmte doch etwas nicht. Eddy druckste weiter herum, griff sich plötzlich in die Tasche und zauberte eine Waffe hervor, die er auf Ulysses richtete. „Ganz ruhig jetzt, ich habe das nicht gewollt, glaub mir, aber ich habe keine andere Wahl, Cahill hat mich bei den Eiern und wenn ich das hier nicht tue, bin ich dran! Irgendeine Sau hat ihm von mir erzählt, die haben mich ganz schön in die Mangel genommen, glaub mir, das ist meine einzige Chance, hier heil aus der Sache rauszukommen.“
Instinktiv hatte auch Ulysses zur Waffe greifen wollen, doch trotz seiner zittrigen Hand würde Eddy ihn unmöglich verfehlen könne. So versuchte Ulysses ruhig zu bleiben, überrascht war er nicht, doch ausgerechnet Eddy, der feige Eddy.
Einige Momente verstrichen, in denen sich keiner der beiden bewegte, dann fragte Ulysses, was denn jetzt geschehen würde. Eddy sagte, das er Ulysses zu Cahill bringen würde und der würde dann wissen, wie es weitergeht. Die Waffe in seiner Hand zitterte leicht, die Ziegenmelker krächzten vergnügt über die potentielle Beute, da schoss Ulysses vor, sprang auf Eddy, doch der war einfach schneller. Ein Schuss löste sich, traf Ulysses in die Brust, dieser wurde zurückgerissen, prallte gegen die Brüstung und kippte drüber weg in die Tiefe.
Mit einem satten Klatschen verschwand er in den schwarzen Fluten und wurde mitgerissen, er war schwer verletzt und das Wasser war eiskalt, er konnte nicht atmen, nicht einmal, als er auftauchte. Eddy schrie, er brauche den Leichnam von Ulysses und so schoss er blind ins Dunkle, seine Wutschreie wurden begleitet von der Kakophonie der dunklen Vögel, die aufflogen und über Ulysses Kopf mitflogen. Weit wurde er mitgerissen, dann endlich klatschte das Wasser ihn an das matschige Ufer, das Wasser zerrte weiter an ihm, wollte ihn fortreißen, doch er klammerte sich fest, zog sich halb aus dem Wasser.
Eddy und die Brücke waren nicht mehr zu sehen, er war gut hundert Meter mitgerissen worden. Ächzend, schnaufend versuchte er sich ganz aus dem Wasser herauszuziehen, doch es gelang ihm nicht, der Schmerz in seiner Brust war sehr stark und er fühlte sein eigenes Blut, das herabfloss und sich in die schwarzen Wasser ergoss. Noch einmal versuchte er sich zu befreien und das Ufer zu erreichen, doch er rutschte immer wieder zurück und so blieb er liegen.
Stille umlullte ihn sanft und diesmal war es finster um ihn herum, doch als er den Kopf hob und gen Himmel blickte, sah er dort ein purpurnes Feuer brennen. Fern am Horizont dräute und waberte es wie eine mystische Aurora Borealis und im Zentrum dieser Erscheinung gewahrte er ein Wesen.
Es war ein großes, schwarzes Wesen, es schien, als ob ein purpurner Mantel es umwehte im kalten Nordwind und Ulysses sah erschreckt, das dieses nocturne Geschöpf näher kam.
Ulysses wandte den Kopf ab und lachte irr, das konnte nicht sein, er war Opfer von Halluzinationen. Doch die Finsternis nahm zu, es war ein Paradoxon, doch nun war die Schwärze so stofflich, das man sie fast greifen konnte.
Schatten bildeten sich und tanzten um Ulysses herum, wieder erscholl das kakophonische Gekreische der Vögel und auch andere Geräusche waren zu hören, die er nicht deuten konnte.
Wütend schrie Ulysses in die Nacht: „Verschwindet, ihr verdammten Vögel, meine Seele kriegt ihr nicht!“
Doch als Antwort erscholl nur ein böses Gezwitscher und Dissonanzen aus fremden Sphären.
Als Ulysses sich umwandte zum Fluss, der noch immer beständig an ihm zerrte, stand das Wesen vor ihm, gehüllt in Purpur.
Erschrocken blickte Ulysses weg, versuchte verzweifelt wegzukriechen, doch es gelang ihm nicht, der Schlamm hielt ihn fest wie ein Krake mit tausend Armen.
„Was willst du? Du bist viel zu früh, noch ist meine Zeit nicht gekommen!“ Leise flüsterte er diese Worte. Der Tod jedoch blieb, wo er war und sah hinab zu Ulysses, der sich weigerte, ihn anzusehen. Weiter floss das Blut aus der Wunde und Ulysses bemerkte, das ihn die Kugel genau ins Herz getroffen hatte.
Er spürte keinen Schmerz mehr, nur noch eine unglaubliche Müdigkeit. Das Wasser zerrte unablässig an seinen Beinen und es schien der Lethe selbst zu sein, denn das Vergessen erfasste den Ulysses. Noch wehrte er sich und sprach zum Tod: „So leicht kriegst du mich nicht, oh nein, meine Zeit läuft noch – ich habe noch viel zu sehen, noch viel zu erleben, noch viel zu richten, Deine gefiederten Boten kannst du auch mitnehmen, ich habe keine Seele, die ich zu vergeben hätte. Ich habe dich kommen sehen, in deiner purpurnen Wolke, fern am Firmament, umlodert von Flammen.
Doch ich trotze dir, so wie ich es schon einmal tat, als du an meiner Mutter Bett standest. Glaubst du, ich habe dich nicht gesehen? Kopfüber hing ich, blutig, begleitet von den Schreien meiner gebärenden Mutter, auch ich schrie, ja, warum nicht, das erste was ich sah, war dein finsteres Gesicht, dein Purpur – schweigend hast du dort geharrt wie du es immer tust, wenn Leben geboren wird, aber sieh! Ich lebe, ich atme, ich denke und noch bin ich!“
Der Tod schwieg. Dann jedoch sprach er: „Ulysses Fox, glaubst du nicht, es wäre besser, du kämest mit mir? Willst du wirklich noch weiter hier bleiben? Vergiss nicht, das ich alleine an deinem Bett harrte, als du geboren wurdest. Was erhoffst du dir denn, du bist nur ein Mensch? Meine Erscheinung evozierte dir unser erstes Treffen, für dich lange her, für mich nur ein Moment. Damals schon verwehrtest du dir mein Recht. Willst du mich nicht begleiten – ich könnte dir Dinge zeigen, die noch kein Mensch vor dir gesehen hat. Du hast deine Rolle gespielt, dein Abgang wurde geschrieben, verlass die Bühne!“
Ulysses lachte: „Du kannst mich also nicht zwingen, dich zu begleiten. Das ist gut so, denn ich will noch nicht sterben. Menschen wie ich haben noch viel zu tun, ich werde die Welt gebührend verlassen. Du kannst mich weder schrecken, noch kannst du mich locken – ich habe schlimmeres gesehen. Ich sah in Abgründe, wo Dinge lauern, amorphe Dinge, die züngelten hinauf, brachen hervor und suhlten sich im Licht – ich brauche nur in die Augen der Menschen zu sehen.
Wer bist denn du schon? Wir haben keine Angst mehr vor dir!“
Und Ulysses sah dem Tod fest in die Augen. „Wir durchbrachen alle Grenzen, stießen die Götter aus dem Olymp und spotteten den Engeln; mein Weg ins Licht ist mir gewiss, ich bin bald selbst GOTT und du bist nur der Lakai der Zeit!“
Und Ulysses ließ sich fallen in die kalten Fluten, der Fluss ergriff ihn und riss ihn mit sich. Die Ziegenmelker flogen enttäuscht davon, still und leise, während der Tod Ulysses nachsah.



Viel Zeit verging und als Ulysses endlich zu sich kam, lag er an einem erdigen Ufer. Mühsam richtete er sich auf, die Schmerzen in seiner Brust waren geblieben, doch es war nur noch ein leichtes Pochen. Verwirrt betrachtete er die Wunde, sie war genau in seiner Brust, dort, wo eigentlich das Herz war. Das kann doch nicht sein, dachte er und erinnerte sich an seine seltsamen Visionen am Fluss. Ich träumte, mit dem Tod gesprochen zu haben, dachte er und lachte gequält auf. Anscheinend hatte die Kugel doch sein Herz verfehlt, aber die Schmerzen hatten ihn halluzinieren lassen.
Doch wo war er jetzt? Der Fluss hatte ich ziemlich weit mitgerissen, denn es war schon Tag oder lag er hier sogar schon länger? Es mussten gut zwölf Stunden vergangen sein, die Sonne stand hoch am Himmel und es war unangenehm warm. Er sah sich um und sah vor sich ein altes schiefes Haus, das einen Garten hatte, dieser war umringt von einer Heckenmauer. Die Hecke bildete seltsame Figuren, Fabelwesen, halb Tier, halb Mensch. Um das Haus und seine groteske Heckenverzierung wucherte wild der Wald.
Ulysses kämpfte sich ganz hoch, er brauchte jetzt ein Auto, um verschwinden zu können. Es war ein Wunder, das Eddy ihn hier nicht gefunden hatte, er hätte nur dem Flusslauf folgen müssen. Was soll’s, dachte sich Ulysses. Ich lebe, trotz der Wunde, trotz dem Gespräch mit dem Tod, er lachte gequält bei dem Gedanken an seine Halluzinationen.
Als er auf das Haus zuwankte, ergriff ihn ein Schwindelgefühl und er stockte, sein Atem ging schnell und keuchend, er fiel zu Boden und da hatte er wieder Visionen. Die Hecke schien plötzlich zu Leben zu erwachen, die Figuren bewegten sich, grüne Ungeheuer, Chimären, Leokrokuten, Faune, Basilisken, Harpyien und Dracontopoden stürzten auf Ulysses herab, umringten ihn, spotteten ihm, schnitten ihm Grimassen und lachten, ja, sie lachten sogar und ihr Lachen war das wilder Erinnyen. Das alte Haus wankte im leisen Wind, sachte tanzend – belebt wie ein organisches Wesen, ein Ächzen erklang vom Haus, die Tür schnellte auf und zu, klappernd und hoch am Himmel stand träge die Sonne, purpurn verfärbt.
Die Fabelwesen standen nicht still, im Gegenteil beschleunigten sie ihren Tanz, schossen um ihn herum, immer schneller, noch schneller, so das Ulysses nur noch Schemen sah, durchbrochen von Fratzen archaischer Ungeheuer.
Ulysses schrie und schlug um sich, doch die Ägophonie der Wesen nahm nicht ab.
Plötzlich war es still. Zeit verging. Ulysses sah zu Boden, hoffte das die Visionen gewichen waren, als eine sanfte Stimme erklang. Die Stimme sprach ihn an, doch er verstand sie noch nicht, doch lieblich beharrte sie und endlich verstand er die Worte.
„Mein Sohn, endlich bist du gekommen, ich habe so lange auf dich gewartet.“ Es war die Stimme einer alten Frau, sie war lieblich und seltsam vertraut. Im Hintergrund hörte Ulysses ein bizarres Klappern und Bellen.
Erschöpft sah er hinauf, die Sonne nahm ihm erst den Blick, denn die Frau stand genau unter der Sonne.
Dann bewegte sie ihren Kopf leicht zur Seite und er konnte ihr Gesicht gut erkennen. Es war das Gesicht einer silberhaarigen, lächelnden alten Frau. Ihre eisblauen Augen musterten ihn genau und ein Lächeln schien ihm entgegen, warm und herzlich. Es schien sie gar nicht zu stören, das er eine Schießwunde hatte, im Gegenteil betrachtete sie die Wunde gütig, als ob gerade die Wunde ihr zusagte. Ulysses war beunruhigt, was, wenn sie doch die richtigen Schlüsse zog und die Polizei alarmierte? Sie schüttelte sachte den Kopf, als ob sie verneinen wollte und noch immer lächelte sie, während er wieder das Bellen vernahm von jenseits der Hecke. Ulysses rappelte sich endlich auf und erinnerte sich der Worte der Alten. Was hatte sie gesagt? Mein Sohn? Lange gewartet?
„Hören Sie, ich möchte keine Probleme machen, ich hatte einen Unfall und möchte nur telefonieren.“ Er wollte sie in Sicherheit wiegen, ins Haus gelangen und sehen, ob noch weitere zeugen anwesend waren, denn gerade diese brauchte er nicht. Was er brauchte, war ein Auto.
„Du würdest mir doch niemals Probleme machen, Ulysses. Oh, wie lange ist es her! Mein Sohn, dein Vater wird sich freuen und auch dein Bruder kann es kaum noch erwarten!“
Woher kannte sie seinen Namen? Hatte er ihn im Delirium verraten? Die verrückte Alte glaubte doch tatsächlich, das er ihr Sohn war. Sie hielt ihn am Arm, während sie auf das Haus zugingen und wieder schwindelte ihm, er senkte den Kopf, kämpfte gegen die Übelkeit an. Benommen hob er den Kopf, die Alte redete ununterbrochen weiter, doch er verstand sie nicht.
Er sah nur das Haus. Es war grau, windschief und alt – wie alt konnte er nicht sagen, doch er sah Giebelfenster, die matt glänzten und Teile eines ehemaligen Walmdaches. Sie durchquerten den Garten und er bemerkte, das das oberste Fenster von außen vernagelt war. Wieder erscholl das Bellen, doch er sah keinen Hund und es schien ihm auch nicht wie das Gebelle eines Hundes, es war anders, doch er war zu benommen.
Als sie die schwarze Tür erreichten, drehte sich die Alte um und wies nach hinten.
„Sieh, Ulysses! Sieh deinen Vater! Er will dich begrüßen!“ Ulysses drehte sich um und sah einen uralten Mann in einem Rollstuhl. Er stand am Eingang des Gartens und Ulysses wunderte sich, das er den Alten noch nicht bemerkt hatte. Langsam rollte der Alte heran, es war ein alter Rollstuhl, den man mit den Händen bewegen musste und nun wusste Ulysses auch, woher das seltsame Geräusch kam.
Es war der Alte, der bellte. Unter seinem schlohweißen Haar und den toten Augen klapperte unermüdlich ein verkümmerter Mund. Immer wieder schlug der Alte seine silbernen, langen Zähne gegeneinander und stieß dabei ein hundeähnliches Geräusch hervor. Blind starrte er durch die Luft, seine Augen suchten unstet ein Ziel, doch sie fanden schon seit langer Zeit keines mehr. Die Alte ging zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr, daraufhin klapperte er noch stärker mit seinen unförmigen Zähnen. Sein Gesicht verzog sich zu einer wilden Grimasse und Speichel floss ihm ans Kinn.
„Wie glücklich du deinen Vater gemacht hast. Komm jetzt, du musst dich ausruhen und zu Kräften kommen. Du hast noch so viel zu tun.“
„Ich möchte Sie nicht enttäuschen, aber Sie irren sich. Ich bin nicht ihr Sohn, mein Name ist Ulysses Fox. Ich komme nicht aus dieser Gegend.“ Langsam ging ihm dieses degenerierte Paar auf die Nerven. Er würde beide im Haus töten.
Sie lächelte aber nur verzeihend und sagte: „Ich weiß, das du verwirrt bist. Aber das wird sich legen. ER sucht dich schon, wie damals.“
„Wer ist ER?“ fragte Ulysses. „ER ist es, du weißt schon, ER!“ Ihre Stimme wurde leiser, das Gerede von diesem mysteriösen ER beunruhigte sie. Dann sah sie zum Himmel. Müde kroch die Sonne am Firmament, die Wolken zitterten träge und der Horizont erstrahlte purpurn. „Komm jetzt, mein Sohn. Es ist schon spät!“
Wankend folgte er ihr, während der Alte idiotisch meckerte.






Drinnen angelangt konnte er kaum etwas erkennen, denn es herrschte ein diffuses Zwielicht. Es war angenehm kühl, ja fast schon kalt in dem geräumigen Salon. An die Alte gelehnt durchquerten sie den Salon und betraten einen großen Raum. Auch hier war es zwielichtig, wallende rote Vorhänge verhängten die großen Fenster und schwere Gobelins hingen an der Wand, er konnte nur schwer die Motive darauf erkennen, doch er meinte, religiöse Szenen zu sehen, apokalyptische Landschaften und bizarre Wesen und die Analogie zu seiner Heckenvision erschreckte ihn.
Er ließ sich auf eines der breiten Sessel fallen und musterte die Alte, während der modernde Geruch im Raum ihn einlullte. Die Luft war schwer und süß, Schatten krochen in den Ecken umher und wieder vermeinte er seltsame Geräusche zu hören, diesmal eindeutig von oben, aus den höheren Etagen. Es war ein Schlurfen und Tapsen, wie von schweren Schritten.
Benommen sah er sich um, doch er konnte das Zwielicht einfach nicht durchdringen, die Gobelins wallten auf, legten sich wieder und bildeten amorphe Formen und die Vorhänge brandeten wie ein Meer aus Blut, dabei wehte kein Wind in dem Raum. Es war, als bewegten sie sich von selbst, wie Ballungen aus Ektoplasma. Die Alte setzte sich neben Ulysses auf den Sessel und lächelte ihm entgegen, der verrückte Alte war nicht zu sehen.
Sie schienen nicht vorzuhaben, die Polizei zu rufen. Arme Irre, dachte Ulysses. Er hatte schon viel davon gehört, den dekadenten Bewohnern Neu-Englands, die durch ihre selbst auferlegte Isolation degeneriert waren. Jahrhunderte hatten nichts an ihrer Einstellung geändert, es waren eigenwillige Puritaner, abergläubig und stur, die Angst vor einem zürnenden Gott bestimmte noch immer ihr Leben. Aber das sollte ihm recht sein, von den beiden schien keine Gefahr zu drohen. Aber er musste herausfinden, wen sie mit „ER“ gemeint hatten und warum ihn dieser „ER“ suchte. Und was die Schritte von oben betraf, wusste er auch noch nicht.
„Ruhe dich aus, Ulysses, ich zeige dir gleich dein Zimmer, dann kannst du dich schlafen legen. Ich werde mich schon um dich kümmern.“ Von oben erscholl ein Schlurfen, als ob jemand etwas schweres hinter sich her zog. Ulysses blickte besorgt nach oben.
Die Alte folgte seinem Blick, dann schüttelte sie traurig den Kopf. „Du weißt wer das ist. Dein Bruder. Auch er spürt deine Ankunft. Er war schon die letzten Tage so unruhig, er hat sich aber sehr verändert. Du wirst ich schwer wiedererkennen – wir müssen ihm noch viel Zeit lassen.“ Sie schaute ihn nachdenklich an, ihre Mundwinkel waren auch jetzt verzogen. Im Hintergrund rollte der Alte heran, stoppte unter dem schweren Gobelin und klapperte mit seinen Zähnen.
Eine tiefe Müdigkeit überfiel Ulysses erneut und wieder glaubte er Dinge zu sehen. Ängstlich schloss er seine Augen, doch er erhaschte noch die Schatten, die um den verrückten Alten herum erschienen waren und ihn einhüllten wie Gaze. Ulysses sagte der Alten, das er schlafen wolle und sie wies ihm den Weg. Er ging wie in Trance die knarrende Treppe hoch in den zweiten Stock und öffnete die erste Tür. Er betrat ein völlig abgedunkeltes Zimmer und warf sich müde ins schon gemachte Bett, während ein Stock höher sein Bruder schlurfte.





Nach einer gewissen Zeit, er wusste nicht genau wann, erwachte Ulysses plötzlich aus seinem unruhigen Schlaf. Er blieb liegen und versuchte auf seine Uhr zu sehen, doch er musste sie verloren haben. Ein Blick zum Fenster sagte ihm jedoch, das es spät in der Nacht sein musste. Es war sehr still, er hörte keinerlei Geräusche, doch er wusste das die Alte und der verrückte Alte irgendwo sein mussten, nicht zu vergessen sein angeblicher Bruder über ihm. Er lauschte weiter und bemerkte, das er unbewusst doch einem Geräusch lauschte, dem, das ihn geweckt hatte.
Da hörte er über sich ein Schlurfen wie schon zuvor. Es war, als bewege sich eine fette Fleischmasse über den Boden, wie eine glitschige, überdimensionale Schnecke. Dann herrschte wieder Stille, der rote Vorhang wallte auf und bewegte sich, gab für einen Moment den Blick frei nach draußen und Ulysses sah den Mond, voll und hell.
In was für eine abstruse Lage war er nur geraten? Ein Poltern erklang von oben, dann folgte ein langes Jaulen.
Stille. Dann wieder das Jaulen, es kam deutlich aus der oberen Etage. Ulysses erinnerte sich an das verschlossene Giebelfenster, dahinter musste jemand eingeschlossen sein. Was hatte die Alte gesagt? Sein Bruder, der sich sehr verändert hatte.
Zweifelsohne wurde dort jemand festgehalten und dieser Jemand schien Schmerzen zu haben, denn er heulte unmenschlich auf wie ein verletztes Tier. Dann folgte wieder ein Tapsen und Poltern. Langsam wurde es Ulysses unheimlich. Noch immer lag er auf dem Bett und jetzt verdammte er sich vor seiner infantilen Angst. Sollte er sich vor Schatten fürchten? Vor Hecken? Vor einem kranken Menschen?
Fürchtet ihr euch vor mir, dachte er und lachte leise auf, doch sein Lachen verklang schnell, als ob die Schatten alle Geräusche aufsaugten. Wieder wallte der Vorhang auf und fahles Mondlicht fiel ins Zimmer, erleuchtete kurz den Raum, verscheuchte die Schatten, die unwillig wichen und Ulysses sah ein Gemälde an der Wand.
Er konnte nicht genau erkennen, was darauf war, doch es beunruhigte ihn; er glaubte, eine öde Landschaft gesehen zu haben, erhellt von einem Mond, der hoch am Himmel stand und sein Licht auf kranke Bäume und Weiden warf.
Ulysses stand auf und näherte sich langsam der Tür. Nichts war zu vernehmen, so stieß er die Tür auf und trat nach draußen. Nur wenig Mondlicht fiel ein, doch trotzdem erkannte er gut die Treppe und stieg sie hinunter.
Etwas in ihm zog ihn zum großen Fenster im Salon.
Noch immer war es still, nur der Wind war zu hören, wie er beständig fauchte und das Knattern des uralten Hauses.
Es war, als würde das Gemäuer atmen, im gleichen Takt knarrte es und vor Ulysses Augen dehnten sich die Wände und die Ecken verzogen sich, der Boden pulsierte langsam, alles begleitet vom kühlen Nachtwind.
Von oben erklang auf einmal ein lauter Schrei, ausgestoßen schier in Todesangst, doch kein Mensch konnte dies sein, so animalisch klang es und archaische Ängste wallten in Ulysses auf, er wollte sich schon abwenden, da vernahm er von unten das Bellen des verrückten Alten.
Er sah die Treppe hinunter, konnte jedoch nichts sehen, also trat er ganz nach unten und gewahrte den Alten. Er saß in der dunkelsten Ecke des Salons, alleine, und man sah nur seine silbernen Zähne, die klapperten und knirschten.
Da fiel Mondlicht ein und erhellte die Szenerie; irr, wie er war, hatte er Ulysses nicht bemerkt und idiotisch bellte und meckerte er zwischen den Schatten. Von oben stimmte der Weggeschlossene ein und es erklang ein Konzert wie aus der Hölle, ägophonisch sang der Alte und kakophonisch floss das Gewinsel des Weggeschlossenen die morsche Treppe herab, zäh wie Plasma.
Angewidert trat Ulysses an dem Alten vorbei ans große Fenster und zog den schweren Vorhang zurück, um auch die letzte Protagonistin dieses morbiden Stückes zu sehen. Es war die Alte. Sie stand draußen an den Hecken, zäh floss das Licht der Sterne an ihr herab. Immer wieder durchbrach ein Schnipp-Schnapp die Szenerie und Ulysses sah, das sie mit einer Heckenschere die Hecken beschnitt.
Es war gespenstisch sie dabei zu beobachten, dort, bei den ominösen Hecken, die Ulysses zuvor so erschreckt hatten.
Auch jetzt wirkten sie bedrohlich, belebt und wartend, als ob sie Hüllen seien, die begierig auf das Elixier des Lebens warteten.
Warum die Alte mitten in der Nacht dort ihre Arbeit verrichtete, war Ulysses unklar, doch er wunderte sich in diesem Haus vor nichts mehr; unwillkürlich musste er lächeln, denn er glaubte zu träumen, dies alles war nur ein delirierender Traum, in Wahrheit lag er noch am Fluss, blutbeschmiert und verletzt.
Doch das Bellen des Alten und das Schnappen der Schere holten ihn zurück in die surreale Szenerie, die ja doch die Realität zu sein schien. Ulysses glaubte nicht an eine allumfassende Metaphysik, er war Empirist, lebend in einer agnostischen, klar definierten Welt.
Die Alte bemerkte ihn nicht und so starrte er noch eine Weile hinaus, bewundernd ihre Fähigkeiten, die Hecken so plastisch wie möglich zu stutzen; war es doch, als seien es faunatische Kreaturen, bereit, mit Pan zu tanzen.
Unbewusst sah er hoch zum Himmel, die purpurne Gestalt erwartend, doch nichts rührte sich zwischen den stillen Sternen. Er schob den Vorhang wieder zu und wandte sich ab, still ging er die Treppe hoch, vorbei an dem Alten und legte sich ins Bett. So liegend betrachtete er die Decke über sich und fragte sich, was für ein Enigma wohl sein „Bruder“ sei.
Dann schlief er ein.


Es war noch mitten in der Nacht, als er wieder erwachte. Sofort suchte sein Blick die Tür, doch da war nichts. Aus dem Fenster drang nur ein schmutziges Dunkel, es schien, als ob diese Nacht nie enden würde.
Sein Blick fiel nun zum Gemälde und erneut erkannte er dort nichts genaues. Oder doch? Er blinzelte und erhaschte für einen kurzen Moment eine Öde, vielleicht ein Sumpf oder ein Moor und darin stand der...
Was war das? Er war nicht mehr alleine, er sah nichts, doch er spürte eine Präsenz, ein Windhauch, wie Gaze streifte es sein erhitztes Gesicht und er atmete flach vor Angst, ja, Angst beschlich ihn auf einmal, urplötzlich war da die Furcht. Er sah sich um, es konnte nur der Tod sein, der ja doch keine Einbildung war, doch es war nicht der Tod.
Für einen kurzen, nicht messbaren Moment, verzog sich die Realität, sie bog und krümmte sich, verfloss und fügte sich wieder zusammen, dann war jemand im Raum.
„Ulysses!“ hallte es aus dem Dunklen und Ulysses schrie, er schrie wie ein kleines Kind, denn er wusste, wer da zu ihm sprach, das konnte kein Traum sein.
„Warum fürchtest du dich vor mir? Glaubtest du denn nicht, du wärst alleine in deinem Kosmos? Und nun krümmst du dich vor Angst. Sagtest du nicht, du wärst jetzt Gottgleich, ein Wesen mit einer Bestimmung? Oh, du Narr – mal streitest du alles göttliche ab, dann jedoch bist du der Herrscher von Agarrtha! Die Evidenz deiner Sinnsuche ist nicht zu überbieten.“
Die Stimme erklang in Ulysses Kopf, direkt in seinem Denken und es war Schmerz, der ihm folgte. Blind vor Angst fragte er: „Nun erscheinst auch du mir! Wer bin ich denn? Ich habe dem Tod getrotzt, weil ich mich fürchtete, niemals werden wir leugnen können, das wir an unserem Leben hängen wie die Motten am Licht, doch wie soll ich dir trotzen?
Ich hänge am Leben, denn ich werde noch Großes tun, doch ich liebe das Leben nicht, wie soll ich mich rechtfertigen?“
Es herrschte Stille, doch ER war noch da, seine Präsenz folterte Ulysses und nun öffnete er die Augen und sah hinaus aus dem Fenster, doch er sah nur einen Sumpf in dem es kochte und dräute, miasmatische Nebel zogen triefend über verkrüppelte Weiden und stinkiges Moos phosphoreszierte. Und inmitten der Szenerie stand der...
„Ulysses, wisse, ich bin nicht hier, um dich zu strafen oder zu quälen, das werden andere tun, ich wollte dir nur ins Antlitz sehen, ob du denn der Eine bist... der, dem ich bei seiner Geburt zusah, ob er denn derjenige sei, der ins Licht geht. Doch genug der Worte, zeig her dein Antlitz!“
Und so sah Ulysses in seine Augen und es war nicht gut.




Ulysses schrie, er schrie so laut und verzweifelt wie noch nie in seinem Leben und als er glaubte, wahnsinnig zu werden, öffnetet sich die Tür. Licht fiel hinein, helles klares Licht; und es war gut so, so unendlich gut, das er schwieg und selig dem elysischen Licht entgegensah. Er sah eine Gestalt auf sich zukommen, im Licht hellerleuchtet, nicht erkennbar, doch er erkannte die Gestalt. Warme Hände streichelten sein Gesicht, liebkosten es sanft wie es schon immer getan hatten.
Die Tür fiel zu und das Licht verschwand, doch in den Augen der Alten leuchtete es wie eine Fackel, wie das Feuer, für das Prometheus seine Göttlichkeit geopfert hatte und seufzend schwiegen sie sich an.
Die alte Frau lächelte gütig. „Es wird doch alles gut werden, mein Sohn. ER hat dich nicht erkannt. Hab keine Angst mehr.“
Und Ulysses war glücklich und er sprach: „Mutter, ich habe mich so gefürchtet, ich dachte, ER nimmt mich mit auf seine lange Reise. Werde ich jetzt bei dir bleiben können, Mutter?“ Sie lachte leise, glockenhell, sein Gesicht streichelnd. „ Du weißt doch, das du noch eine Aufgabe hast. Verzage nicht, mein Sohn, ich werde dich begleiten und dich führen.“ Sie wandte sich ab und wollte gehen, doch Ulysses hielt sie zurück: „Wann ist es soweit? Ich möchte euch ungern verlassen?“
„Bald, sehr bald. Schlaf jetzt, es ist noch Nacht. Wenn die Zeit kommt, wirst du wissen, was zu tun ist.“ Sie ging hinaus.

Der Tag verging schnell, die Sonne erschien kurz hinter den purpurnen Wolken, tauchte sie in ein noch mystischeres Licht und verschwand wieder, die Wolken schossen am Himmel vorbei wie brennende Rösser, irrsinnig schnell drehte sich die Erde, ließ den Tag zur Nacht werden und endlich herrschte wieder die Finsternis.
Ulysses hatte seinem Bruder gelauscht, den ganzen Tag lang, hatte sein Heulen verfolgt, sein Wimmern und sein Kreischen. Als ob die Nemesis selbst den Bruder in der kleinen Kammer hetzte, winselte dieser und sein Wehklagen endete erst, als die Nacht hereinbrach, brachial und ultimativ. Dann herrschte ein langes Schweigen in dem Haus, nur das Gemäuer selbst schien zu leben, alles andere schwieg, ja selbst der unermüdliche Wind verharrte und die Schatten ergriffen die Macht, selbstverständlich dehnten sie sich aus und schluckten jeden Laut.
Ulysses verließ seinen Raum und ging die Treppe hinunter, vorbei an dem Alten, der meckerte und blökte. Ulysses sah sein silbernes Gebiss im Dunkeln und seine toten Augen. Er ließ ihn stehen und ging zum Fenster. Er sah hinaus und sah seine Mutter zwischen den Hecken, wie sie diese stutzte und formte, wie einst Sophia aus dem Chaos das Universum formte. Ulysses lächelte, es war Zeit, er war der Demiurg der Sophia half, er war der Geist, die Ordnung, er musste allem den letzten Schliff geben. Er betrat den Garten und trat neben seine Mutter.
Sie sahen sich an. „Es ist eine schöne Nacht, nicht wahr?“ Er nickte ihr zu und sah zum Fluss. Nur ein dumpfes Rauschen war zu hören und das Beben der Wellen, die Weiden bogen sich gravitätisch und neckten die Hecken, die festgewurzelt im Garten standen.
„Wird es schnell gehen, Mutter? Ich habe es so oft getan, doch es fiel mir noch nie so schwer!“
„Mach dir keine Sorgen, mein Sohn. Sieh! Sieh den Purpur! Wie er lacht!“
„Ich habe viele Dinge in meinem Leben falsch gemacht, ich habe Dinge gesucht, die ich nicht hätte suchen sollen, ich habe Dinge gefunden, die ich nicht hätte finden sollen, sag mir Mutter, oh Mutter! Ist dies denn der richtige Weg?“
„Sagte ich dir denn nicht, das es so gut ist? Glaubst du, es war Zufall, das der schwarze Fluss dich herbrachte? Nein, mein Sohn, dies ist deine Bestimmung. Als ich dich gebar stand ER neben mir und ER flüsterte es mir ins Ohr, doch ER hat dich nicht erkannt, zu gut hast du dich versteckt all die Zeit. Doch sieh den Purpur! Wie er lacht!“
So nahm Ulysses die schwere Schere und rammte sie der Alten in die Brust, nicht einmal, nicht dreizehnmal, Legion war die Anzahl der Stöße. Und die Mutter jauchzte und der Fluss geiferte und die Schatten tanzten und der Nebel lachte und der Purpur schwieg.
Die Hecken beugten sich demütig, als Ulysses endete. Er sah zum Haus und gewahrte die silbernen Zähne seines Vaters, wartend hinter dem großen Fenster. Langsam schritt Ulysses zum Haus. Er trat ein und stellte sich vor den Vater.
„Sahst du mir zu, Vater? Sahst du deinen Sohn und fühltest du Stolz, so sprich doch, Vater! Sprich zu mir, einmal will ich deine Stimme vernehmen, nur einmal!“ Doch der verrückte Alte schwieg, nein, er bellte und der Bruder in der Kammer stimmte ein in das Konzert. Ulysses sah hoch. „Warte, auch du wirst mich führen! Wollen wir denn nicht alle diesen Weg gehen? Das Licht ist nah! Nur noch hindurch müssen wir gehen! Nicht einmal ER konnte mich aufhalten!“
Und so stach er ein auf die bellende Gestalt, zerfetzte und vernichtete sie, schälte und häutete sie, immer wieder, bis das Bellen erlosch und die Zähne nicht mehr klapperten.
Blutverschmiert sah er sich um, noch war da kein Licht, keine Pforte, doch er war ja noch nicht fertig. Er wandte sich ab von all dem heißen Blut und stieg hinauf, immer höher, vor die verbarrikadierte Tür seines Bruders. Er klopfte dreimal – tack,tack,tack -und rief ihn: „Bruder! Hab Geduld, bald ist es vorbei...“ Und während er die Tür einschlug, bemerkte er erneut das Zittern des Raumes. Kam ER etwa wieder? Jetzt schnell, er brach die Tür auf und wankte in die Kammer.
Bestialischer Gestank schlug ihm entgegen, aller Pesthauch der Hölle sammelte sich in der Kammer und wie ein wildes Tier sprang ihn der Gestank an, doch das sollte ihn nicht aufhalten. Blind suchten seine Augen in der Finsternis, er konnte nichts sehen, nur hören konnte er und er hörte das Winseln seines Bruders. „So hab doch keine Angst! Zeig dich, los! Tritt ins Licht, damit ich dich sehen kann!“
Und aus der Finsternis der Kammer kroch sein Bruder. Ulysses wand sich ab, die Sinne zerstört von dem Anblick der kriechenden, degenerierten, chthonischen, polydaktylen, xenomorphen Kreatur. Sie schwiegen, der eine schon lange ausgebrannt, der andere dem Wahnsinn nahe. Die Kammer erbebte, sachte krümmte sich der Raum und die Dimensionen, doch noch war ER nicht da. „Bruder! Was hast du nur gesehen in der Nacht? Was hast du nur gehört zwischen den Schatten? Mutter wies mir den Weg, den richtigen, bei allem was mir noch geblieben ist – Ich war bereit! – doch wie kann ich mich bei dir entschuldigen, wie bei dir Vergebung finden? Für das! Durfte ich dem Licht entgegenschweben, musstest du hier harren, durfte ich träumen vom Licht, musstest du dir teilen deine Kammer mit dem Wahnsinn und den Dingen der Nacht. Wir ähnlich wir uns doch sind!
Sieh nur, auch ich fürchte mich! Sind wir doch des gleichen Blutes, Kinder einer Mutter. Wie könnte ich ins Licht treten, wenn du dafür ewig hier harren müsstest? Nein, vergib mir, Mutter! Ich kann es nicht tun...“
Weinend fiel Ulysses zu Boden, ein enttäuschter Schrei war zu vernehmen, weit entfernt, dann flackerte die Wirklichkeit und ER erschien wieder.
„Ulysses, beinahe hätte ich dich ziehen lassen, aber du warst es nicht wert, zuviel erwartete man von dir und gegeben hast du nichts. Kein langes Gerede mehr, du folgst mir!“
Und so nahm ER Ulysses mit sich in die ewige Nacht und fern am Horizont lachte der Purpur wieder.



ENDE

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.03.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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