Pavel Girard

Quintessenz

Was mir an diesem Abend passieren sollte, war mir natürlich jetzt nicht klar, und ich gebe zu, dass ich überrascht bin und vielleicht sogar erkenntnisreicher. Ich fahre den Wagen, vor meinen Augen erscheint meine Briefmarkensammlung, die Motive verschwimmen, weil ich gleichzeitig auf die Straße achten muss und ich merke garnicht, dass meine Lieder langsam heruntergleiten, denn die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit verwischt so leicht und als ich einnicke, denke ich an meinen Vortrag, wie gut er war, wie begeistert die Leute
waren und ich lächle. Das linke Lid sackt zuerst herunter, das rechte folgt und ich schlafe tatsächlich ein
und habe sofort einen Traum, der meine Katharsis sein soll, beziehungsweise das, was darauf folgt.
Ich sehe meine Frau, wie sie mit verkniffenem Ausdruck und geschwollenen Fingern Muscheln schrubbt
für das Muschelessen, ihre roten Finger sind mir vorher nie aufgefallen und jetzt merke ich, das sie die
Muscheln nur für mich macht, niemand mag sie, nur ich und auch das wusste ich nicht, obwohl wir schon
unzählige Male zusammen Muscheln gegessen haben, sie, die Kinder und ich. Sie wissen, das ich die Schnauze
voll habe von Kurzgebratenem und Gegrilltem, diese Fleischklumpen, die es auf meinen Dienstreisen gibt und
dass ich es schätze, wenn meine Frau mir etwas Anständiges macht und Muscheln sind etwas Anständiges,
doch sie finden das ja nicht, wie konnte ich das zig Jahre ignorieren? Meine Frau beugt sich über die Wanne,
ihr fällt eine Muschel aus der Hand, die in der Wanne landet und schmatzend aufspringt, mit einem sehr eigenartigen,  lebendigen Geräusch, das mir vorher nie aufgefallen war und sie fängt an, zu weinen und
benetzt ihre Wangen mit fischigem Wasser, als sie die Tränen wegwischen will.
Jetzt sehe ich mich und sie im Badezimmer, es ist sehr lange her und wir schließen die Tür ab und bewerfen uns mit Muscheln, sehr albern, aber wir haben zusammen gelacht und jetzt merke ich, dass ich sie lange
nicht mehr habe lachen gehört. Ich sehe uns noch immer, wir singen "Brüder zur Sonne zur Freiheit" und
können dabei nicht aufhören, zu lachen und dann ziehe ich ihre Schürze aus, weil ich genau weiß,
das die Kinder unten sind und ich küsse sie und wir singen leise weiter und das ist der Moment, der
diesen historischen Muschelessentag so besonders machen sollte und ich weine im Schlaf und sehe meine
Frau wieder alleine auf dem Wannenrand weinen. Als das Auto in den Lastwagen kracht, wird es wie ein
Akkordeon zerquetscht und ich wache auf, damit ich den Schmerz spüre und als ich kurz darauf vergehe,
sehe ich nicht das Leben vor meinen Augen vorbeiziehen, das meines ist, sondern das meiner Frau und
meiner Kinder, wie sie eingeschüchtert sind und heimlich weinen wegen mir, wie sie Angst haben vor mir,
fast immer, wenn ich bei ihnen bin  und ich weiß, dass ich alles falsch gemacht habe und plötzlich habe ich
Angst und sie keine mehr. Ich sehe sie am Tisch sitzen, die jetzt stinkenden Muscheln vor ihnen auf dem Tisch und sie haben gerade noch über mich geredet und jetzt reden sie über etwas ganz anderes und lächeln.
Als ich Stunden später tot aus dem Wrack gezogen werde, sieht einer der Sanitäter, dass auch ich jetzt
lächle und er weiss nicht, warum, aber er lächelt auch und das ist auch für ihn für diesen Tag das erste Mal...
 
 
 
Inspiration: "Das Muschelessen" von Birgit Vanderbeke. Bandwurmsätze und grammatikalische Absurditäten sind der Autorin in das Schuhwerk zu schieben. 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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