Andreas Bartels

Ritual

"Nervös?" Ich zuckte zusammen. Ich war in Gedanken gewesen. "Mm, mhrm." machte ich. "Und ob du nervös bist! Du hast die Papierserviette in lauter ganz kleine Stücke gerissen..." sagte mein Bruder. Ich blickte auf den Boden des Wagens. Es sah aus wie Vulkanasche... "Ich... tut mir leid..." murmelte ich. "Ach, das macht doch nichts! Weißt du, das erzähle ich aber nur dir; ja? Also ich war beim Ersten Mal auch sehr nervös, weißt du?" Mein großer Bruder war heute leutselig. Er konnte sich das leisten, für ihn war es das dritte Mal. "Ehrlich? Du hattest früher doch immer erzählt, es gäbe keine Probleme..." sagte ich. "Ja..." sagte er gedehnt, "ein bißchen flunkern gehört einfach dazu. Ich wette, daß keiner die volle Wahrheit erzählt..." - "...der alte Ux weigert ich ja schon seit Jahren, über das Ritual zu sprechen..." warf ich ein. "Ja, der alte Ux..." lachte mein Bruder. "Frag' ihn warum der Himmel grün ist und er hört gar nicht mehr auf zu reden, aber frag' ihn nach dem Ritual und er schweigt wie ein Stein!" ich lachte unsicher. "Was mich nervös macht sind die Anderen. Ich habe Angst, sie könnten mich angreifen." sagte ich. "Oh, das werden sie..." mein Bruder grinste. "Nein ernsthaft: du weißt doch: das ist verboten. Jeder muß warten, bis er 'drankommt, und darf nicht dazwischen quatschen." - "Ja, ich weiß." sagte ich. Ich hatte natürlich am meisten Angst davor, als 'Frischling' nicht akzeptiert zu werden. Aber das konnte ich ihn natürlich nicht sagen. "Hast du dir schon überlegt, was du tun wirst?" fragte er. "Oh, ich dachte, ich versuche es mit Singen..." antwortete ich. Mein Bruder nickte ernst. "Singen ist nicht das schlechteste. Dann solltest du aber nach einer in deinem Alter suchen, die älteren sind eher auf körperliche Merkmale aus; verstehst du; ich werde wieder meine Kraft und Ausdauer erwähnen. Hoffentlich muß ich nicht wieder bis ans andere Ufer schwimmen und wieder zurück; die letzte wollte einen Beweis; weißt du; als ob das ganze Ritual nicht schon anstrengend genug wäre..." ich hörte nicht mehr zu. Er war auch nervös, deswegen redete er soviel. Obwohl er das natürlich nie zugeben würde. Ich dacht darüber nach, ob es den anderen auch so ging. Natürlich hielten sich die Meisten an die Regeln, aber in den Zeitungen und im Fernsehen war faßt immer ein Bericht hinterher, in dem von Verletzten oder gar Toten die Rede war... "He, kleiner Bruder!" er rüttelte mich. "Wir sind da. Lass' mich nur einen Parkplatz suchen... verdammt, schon ziemlich voll..." mein Herz klopfte. Nun war es also soweit. Wir stiegen aus. Meine Beine wollten nicht so recht und ich stolperte. "Oh, immer langsam, kleiner Bruder! Alles klar?" sagte er. Ich nickte. Er hockte sich vor mir hin und legte seine Hände auf meine Schulten: "Pass' auf: du siehst gut aus, und hast eine tolle Stimme. Deine Chancen sind gar nicht schlecht. Mach' was du dir vorgenommen hast, und kümmere dich nicht darum, was die Anderen sagen." Ich nickte. Machte er mir Mut oder eher sich selbst? Ich umarmte ihn. "Ich liebe dich." Und er umarmte mich "Ich dich auch." Danach ging's mir besser. Meine Nervosität wandelte sich in eine seltsame Erregung wie ich sie noch nie gespürt hatte. "Lass' uns zusammen gehen; wenigstens bis zum Ufer!" schlug ich vor. Er war gerade dabei, sich auszuziehen. "Ja, warum nicht?" murmelte er. "Aber wenn wir im Wasser sind, sind wir Konkurrenten, nicht war?"
Langsam schlenderten wir über den Parkplatz und über die Wiese Richtung See. Da waren viele Geschlechtsgenossen. Einige hatten Zelte aufgeschlagen, saßen um Feuer herum, tranken Bier, machten Musik, meditierten oder rannten herum. Wir wurden von Einigen freundlich begrüßt, was mir ziemlich peinlich war. Meinem Bruder schien es nichts auszumachen. Um die Peinlichkeit voll zu machen, war da doch tatsächlich ein Fernsehreporter der mit seinem Kameramann natürlich genau auf uns beide zusteuerte. "Bitte nicht!" dachte ich. Aber da war es schon zu spät. "Hallo und guten Abend!" sagte der Reporter und hielt meinem Bruder das Mikrofon unter die Nase. "Das wievielte Mal ist es den für sie?" - "Das dritte Mal!" verkündete mein Bruder stolz. "Da ist man wohl nicht mehr nervös, oder?" - "Nein, natürlich nicht!" mein Bruder hatte seinen Spaß. Der Reporter wandte sich mir zu. "Für sie ist es bestimmt das Erste Mal, nicht war?" ich nickte. "Sie sind bestimmt sehr nervös, oder?" ich nickte wieder. Ich hatte nicht vor, mich mit diesem Widerling auf ein Gespräch ein zu lassen. Er verstand meine Botschaft. "Na gut, dann will ich sie nicht weiter aufhalten. Viel Erfolg!" sagte er noch und ließ dann von uns ab. "Das Ritual: immer wenn die drei Monde in Konjunktion zueinander stehen findet es statt. Es ist schön zu sehen, das immer noch so viele Menschen, und nicht nur alte, auf diese Tradition wert legen. Und das obwohl es keine wissenschaftliche Grundlage..." hörten wir ihn noch, als wir schweigend weiter gingen. Ich hatte schon keine Lust mehr. Eigentlich wollte ich die Sache nur noch hinter mich bringen. "Ah, spürst du nicht auch diese Atmosphäre?" rief mein Bruder unvermittelt aus. "Ja..." sagte ich nicht sehr überzeugend. "Du hast doch nicht etwa Angst?" mein Bruder wurde witzig. "Natürlich nicht!" sagte ich. Ich war pampig. Und er wollte mich doch nur aufheitern. "Entschuldige..." sagte ich. "Dieser Reporter hat mir den Rest gegeben." Mein Bruder winkte ab. "Ach, du darfst das nicht so ernst nehmen. Sieh es als ein Spiel an. Sei locker. Der Rest... kommt von allein. Vertrau' mir!" Ich grinste ihn an. Aber das flaue Gefühl blieb. Am Ende ist man doch allein; dachte ich. Mittlerweile waren wir am Ufer angekommen. Mein Bruder späte durch sein Fernglas. "Viel Konkurrenz... wir hätten früher kommen sollen... oh, da ist sie, bei der ich letztes Jahr beinahe gelandet wäre..." murmelte er. "Du hast doch gesagt..." er unterbrach mich. "Ich meinte, die mit der ich letztes Jahr auch zusammen war... oh, da ist auch eine, die noch ganz alleine ist... das wäre doch 'was für dich... sie scheint auch in deinem Alter zu sein..." er reichte mir das Glas und deutete in die ungefähre Richtung. Ich schaute hindurch. Tatsächlich... Ich gab ihm sein Glas zurück. "Ich versuch's!" sagte ich. "Und ich versuch's noch mal bei der... na, dann gibt's wenigstens zwischen uns keinen Streit!" Er sprang ins Wasser. "Ich wünsche dir viel Erfolg!" sagte ich und sprang auch ins Wasser. "Danke!" rief er zurück. Ich schwamm in ihre Richtung. Zumindest glaubte ich das. Irgendwie hatte ich mich vertan und landete bei einem Felsen auf dem eine sehr schöne Frau hockte. Sie hatte einen Kamm, was recht selten ist. Natürlich waren viele Männer da. Meine Chancen waren sehr schlecht aber, angeregt durch das lauwarme Wasser, wollte ich es hier versuchen. Als ich mich durch den Kreis drängelte, schwand mein Mut schon wieder, zum einen weil die Anderen einige freche Bemerkungen von sich gaben, und zum Anderen schwamm der Mann, der gerade dran war, auf dem Rücken, und zeigte einfach seine Vorzüge. Zum neidisch werden. "Und was hast du zu bieten?" ich erschrak. Sie hatte tatsächlich mich gemeint. "Nun, ich singe..." sagte ich. Ein allgemeines Kichern erhob sich. "Ihr seit still!" zischte sie. "Das ist schön. Also bitte..." sagte sie zu mit gewandt. Und so sang ich. Das Lied von der großen Mutter Erde. "Das war sehr schön..." sagte sie als ich fertig war. "Aber ich wähle doch lieber dich..." sie deutete auf den Mann, der vor mir 'dran gewesen war. Der Angeber. "Ihr müßt verstehen..." sagte sie nach dem sich das enttäusche Gezischel gelegt hatte, "aber er hat auch einen Kamm und ich möchte meinen an meine Kinder vererben. Es gibt nur wenige, die eine haben, wie ihr wißt." Damit ließ sie sich ins Wasser gleiten und viel ihrem Auserwählten um den Hals. Die Anderen verzogen sich langsam. "Ja, natürlich!" dachte ich wütend und enttäuscht. Ich schwamm weiter, obwohl ich eigentlich gar keine Lust mehr hatte. Und da war sie, zu der ich eigentlich gewollt hatte. Sie kniete auf ihren Inselchen und rührte sich nicht. Starrte in eine Richtung. Vorsichtig schwamm ich um sie herum; ich wollte herausfinden, was sie anstarrte. Aber da war nichts. Es war auch kein anderer Mann in der Nähe. Sie starrte nur ins Leere. Ihre Zunge bewegte sich sehr schnell; sie war wahrscheinlich wütend. Sie war recht schön: einen leicht geschwungene Kopfform aber leider keinen Kamm... Sie trug einen einteiligen blauen Badeanzug der sehr gut zu ihren gesund glänzten grünen Schuppen paßte. Außerdem war sie wirklich in meinem Alter. Zumindest unter diesem Aspeckt hatte ich hier tatsächlich bessere Chancen; ich war vorhin doch sehr übermütig gewesen. Ich näherte mich vorsichtig und kroch auf ihr Inselchen. Ich war gezwungen, mich direkt neben sie zu setzten. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich an der anderen Seite an Land gegangen wäre, dann hätte ich mich ihr vorsichtiger nähern können; denn sie bemerkte mich natürlich sofort, kaum das ich saß: "Hau' ab!" zischte sie böse. Ihre orangen Augen funkelten. Ja, sogar ihre Halshaut klappte nach vorn. Sie war wirklich sehr böse. Nun, eigentlich gehört es zu den Spielregeln dieser besonderen Nacht, daß man den Frauen gehorcht, aber ich wurde auch wütend: "Nein!" sagte ich entschieden. Sie schaute mich ungläubig an; dann seufzte sie :"Dann bleibe eben da..." so läuft das normalerweise nicht. Was sollte ich tun? Zuerst dachte ich, einfach wieder zurück zu schwimmen, und mir für meinem Bruder eine schöne Geschichte auszudenken. So wie er auch. Aber ich wollte vorher noch etwas wissen: "Warum bist du dann hier, wenn du offensichtlich kein Interesse hast?" fragte ich. Sie schaute mich kurz an und deute vage nach hinten: "Meine große Schwester hat mich mitgeschleppt..." Ich mußte lachen. "Mir geht es genauso, mein großer Bruder..." sie unterbrach mich: "Es ist alles so aufgesetzt, so altmodisch, nicht war? Ich meine, wir leben doch nicht mehr in der Steinzeit! Frauen und Männer lernen sich doch auch so kennen, gründen Familien... oder treffen sich... nur so, oder?" Ich nickte. "Ich bin ganz deiner Meinung. Aber es gibt auch viele, denen dieses Ritual viel bedeutet. Und, wer weiß, vielleicht werden die Kinder die in dieser Nacht gezeugt werden tatsächlich etwas Besonderes..." sagte ich. "Das ist doch alles Blödsinn! Es ist eine Nacht wie jede Andere! Meinetwegen können die 'dran glauben, ja machen was sie wollen, ich meine... sie sollen einen damit in Ruhe lassen!" Ich nickte noch einmal. "Oh Göttin! Wochenlang hat sie mir in den Ohren gelegen, damit. Sie meinte, daß es langsam Zeit würde, für mich. Sie hat erst Ruhe gegeben, als ich zusagte. Und dann diese Männer... ich hab' sie alle fortgeschickt... ich hab' mich so geschämt..." Jetzt unterbrach ich sie: "Man fühlt sich so auf seine... Funktionen reduziert, nicht war?" Und ich erzählte ihr mein kleines Abenteuer von vorhin. "Ja, genau! So läuft das... " sagte sie. "Und... ich fühle mich auch noch nicht bereit... ich möchte meinen Partner besser kennen lernen... vorher... " sie schaute nach oben. "Ja, genau, ich auch! Naja ich meine, ich möchte schon wissen, wie es ist... " sie deutete nach oben. "Es ist gleich so weit..." zischelte sie. Ja, die drei Monde hatten sich faßt übereinander geschoben. Trotz alledem war es ein beeinduckendes Naturschauspiel. Wir schauten uns an. Sie grinste: "Komm, küß' mich! Dann war es wenigstens nicht ganz umsonst für uns..." sagte sie und umarmte mich. Ich umarmte sie...
"Oh Göttin! Das ist ja ein Badeanzug! Was hast du mit der armen Frau angestellt?" Mein Bruder schien wirklich aufgebracht zu sein. Oder war das schlichte Bewunderung? Oder etwa ein wenig Neid? "Sie hat ihn vergessen..." sagte ich und nahm ihm das Ding wieder aus den Händen. "Sie war... müde." Mein Bruder schüttelte den Kopf. "Kleiner Bruder! Das hätte ich nicht von dir gedacht! Du mußt mir unbedingt jede Einzelheit erzählen..." Ich gähne. "Später vielleicht. Ich bin müde. Laß' uns nach Hause fahren." Während der Fahrt berichtete mein Bruder von seinen Abenteuern. Ich hörte nicht hin. Ich dachte an sie. Es war natürlich ihre Idee gewesen, mir ihren Badeanzug zu geben. So haben wir beide eine tolle Geschichte zu erzählen. Außerdem war ihr Badeanzug ein Grund dafür, daß wir uns wiedersehen werden... es war doch eine besondere Nacht...

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Andreas Bartels).
Der Beitrag wurde von Andreas Bartels auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Andreas Bartels als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Da Wulf is holt a oama Teifl von Jannes Krinner



Jannes Krinner hat ein spezielles Rezept für Ohrwurm-Gedichte. Er bedient sich der Brutaltität und Härte alter Märchen und nutzt die trockene Wortgewalt steirischer Mundart für seine sich oft weit vom Original entfernenden Geschichten.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Fantasy" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Andreas Bartels

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Kitsune 2 von Andreas Bartels (Fantasy)
Die Zauberblume von Joachim Garcorz (Fantasy)
Verdummung der Kunden von Norbert Wittke (Glossen)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen