Wilfried Heise

Die Matratzengruft

Der Mann hat die Augen geschlossen, eine Hand liegt auf der Brust, die andere auf ihrem Schenkel, in intimen Einverständnis. Für mich kehrt dieses Bild immer wieder, unveränderlich, nichts wandelt sich, immer ist da dasselbe gelassene Lächeln des Mannes, dieselbe Mattigkeit der Frau, dieselben Falten in den Laken und dieselben dunklen Winkel des Zimmers, immer streift das Licht ihre Brüste und Wangenknochen im selben Winkel, und immer fallen der Seidenschal und die Haare mit derselben Lieblichkeit. Jedes Mal, wenn ich an dich denke, sehe ich dich so, sehe ich uns so, für immer festgehalten auf diesem Lager, unverwundbar gegenüber dem zerstörerischen Vergessen. Ich kann diese Szene lange auskosten, bis ich fühle, dass ich in den Raum dieses Zimmers trete und nicht mehr der Betrachter bin, sondern der Mann, der neben dieser Frau ruht. Dann zerbricht die ebenmäßige Stille des Bildes, und ich höre unsere Stimmen, ganz nahe.

 

" Erzähl mir eine Geschichte" sage ich zu dir.
" Was für eine möchtest du?"
" Erzähl mir eine Geschichte, die du noch niemandem erzählt hast."

 

„Dann hör mir zu! Ihr Erscheinen in der Avenue de Matignon am Morgen des 19. Juni 1855 hatte etwas unbestimmt Geheimnisvolles. Aber ein Hauch von Geheimnis und Rätselhaftigkeit umgab sie ihr Leben lang, und erst lange nach ihrem Tod konnten einige Fragen wenigstens versuchsweise beantwortet werden.

 

Ihr Mädchenname ist bis heute unbekannt. Inzwischen geht man allgemein davon aus, dass sie 1828 in Prag als uneheliche Tochter eines Grafen Nostiz geboren und an eine deutsche Familie namens Krinitz zur Adoption gegeben wurde. Diese Familie lebte dann in Paris, wo sie zweisprachig aufwuchs. Ihr gesetzlicher Name lautete Elise Krinitz. Es wird von einer frühen Ehe berichtet, die damit endete, dass ihr brutaler Ehemann sie zwangsweise in eine englische Heilanstalt brachte, ein traumatisches Zwischenspiel, das bei ihr eine mehrere Monate andauernde Sprachstörung hinterließ. Das ist nicht ganz undenkbar, kann aber auch einer leicht überhitzten Einbildungskraft entsprungen sein.

 

Jedenfalls kehrte sie, nachdem sie ihre Sprache und schließlich auch ihre Freiheit wiedererlangt hatte, nach Paris zurück, wo sie, siebenundzwanzigjährig, ihre schicksalhafte Begegnung mit Heinrich Heine hatte. Ernsthaft, klein, mit verträumten, feinen Gesichtszügen, war sie erfahren und anpassungsfähig genug, um mit großem Geschick die Rolle zu übernehmen, die ihr der sterbende Dichter zugedacht hatte. Es kostete sie keine wirkliche Überwindung, denn sie verehrte ihn ganz offensichtlich. Heine gab ihr den Namen Mouche, zu dem er sich vom Wappen ihres Siegelringes inspirieren ließ. Von allen angenommenen Namen ist sie unter diesem unsterblich geworden.

 

Im Jahr 1858 wurde sie, als Camille Selden wiedergeboren oder umgetauft, die Geliebte des  französischen Historikers Hippolyte Taine. Sie verfasste neben einem Roman mehrere Arbeiten über deutsche Literatur und eine Übersetzung von Goethes „Wahlverwandtschaften“ ins Französische. Als Taine sie nach zehn Jahren verließ, gelang es ihr, eine Stelle als Lehrerin an einer Mädchenschule in Rouen zu erhalten. 1884 veröffentlichte sie ihre Erinnerungen an Heine, „Les Derniers jours de H. Heine“.

 

Sie war in dem Augenblick in Heines Leben getreten, als er begonnen hatte, sich davon zu lösen. Das Erscheinen einer jungen Bewunderin an seinem Lager kam gerade zur rechten Zeit, um seinen sinkenden Lebensmut wiederzubeleben. Dass er sich sofort in sie verliebte, zeigt, dass unter das Asche noch Glut war. Aber auch das emotionale Glück konnte nicht mehr länger die sich verstärkenden körperlichen Symptome in den Hintergrund drängen. Schmerzgequälte Nächte oder tagelange, lähmende Kopfschmerzen zwangen ihn immer häufiger, Zusammenkünfte mit der Mouche abzusagen und Besucher nicht zu empfangen.

 

Aber Ende 1855 war Heine in derart schlechter Verfassung, dass, wie er seinem französischen Verleger schrieb, viele Deutsche, die zur Weltausstellung gekommen waren, ihre Abreise in der Hoffnung verschoben, dann auch seiner Beerdigung beiwohnen zu können. Mit dem neuen Jahr kam der fast völlige Zusammenbruch. Camille Selden sah Heine am Mittwoch, dem 13. Februar, zum letzten Mal. Sie war selbst krank gewesen, und er schien noch schwächer als sonst. Sie war von ihrer Begegnung verständlicherweise niedergedrückt. Sie sollte am folgenden Tag wiederkommen, aber er sandte ihr seine vermutlich letzten Zeilen überhaupt: „Liebste! Komme heute (Donnerstag) nicht. Ich habe die entsetzlichste Migraine. Komm morgen (Freytag). Dein leidender H.H.“ Am Freitag war sie nicht wohlauf und sagte die Verabredung ab. Am Samstag ging es Heine so schlecht, dass sie nicht mehr vorgelassen werden konnte. Der Arzt verordnete verschiedene Medikamente, aber gegen Abend wies Heine jede weitere Arznei zurück. Er starb um fünf Uhr am folgenden Morgen, dem 17. Februar 1856, im Alter von achtundfünfzig Jahren und zwei Monaten. Die Beerdigung fand am 20. Februar, einem kühlen Mittwochmorgen, auf dem Friedhof Montmartre statt.“

 

„Ob man wohl Trauermusik gespielt hat?“, frage ich dich.

 

„Das weiß ich nicht. Was würdest du denn hören wollen – an deinem Grab?“

 

„Lass mich überlegen. Was passt zu der Geschichte? Vielleicht "Der Tod und das Mädchen" von Schubert?“, antworte ich.

 

„Dann wirst du mit Weinlaub im Haar in Schönheit sterben“ , sagst du lächelnd.

 

„Ich sterbe, wie ich gelebt habe: über meine Verhältnisse. Oscar Wilde!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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