Hartmut Pollack

Dorfversammlung oder Grober Fehler

 

Dorfversammlung oder

Grober Fehler

 

Meine Versetzung nach Suderbruch liegt schriftlich vor meinen Augen. Mittlerweile hatte ich kräftig die bestandene Staatsprüfung gefeiert. Sie war ja auch fast ein Wunder. Nur 14 Tage Vorbereitung für fünf Prüfungen. Ich hatte aber wegen der vorangegangenen Krankheit einfach nicht mehr Zeit. Aber unter diesem Zeitdruck und  zum Teil völlig ohne detaillierte Kenntnisse des Spezialgebietes noch eine Gesamtzensur von gut zu erreichen, war wirklich einer Fee anzurechnen. Zumindest war es für mich ein Grund außerordentlich intensiv zu feiern. Das machte ich dann auch.
Diese Vorabinformation ist für die Geschichte wichtig. Versetzung nach Suderbruch.
Menno, wo liegt denn das Nest ? Das Suchen geht los. Suderburg bei Celle, nein. Es soll Richtung Nienburg sein.  
Mein Freund Willi findet den winzigen Ort endlich. „Auweia, da musst du aber eine große Bohnenstange mitnehmen!“ „???“ „Dort musst du damit sicherlich den Mond weiter schieben.“ Er lacht spöttisch auf. „Komm her, ich habe ein Auto. Wir fahren dahin und gucken uns das Nest mal an.“ Gesagt, getan. Sachen werden gepackt, die Fahrt beginnt.
Northeim, Hannover, Mellendorf, Schwarmstedt runter von der Autobahn. Weiter geht es Richtung Nienburg. Buchholz, Schwarmstedt, Norddrebber und endlich lesen wir Suderbruch. Es ist schon abends.
In der Dämmerung suchen wir die Schule. Sie ist ländlich, ein Klassenzimmer, schöne alte Eingangstür. Aber da wir unangekündigt kommen,  ist natürlich alles verschlossen.
„Ich habe Durst“, sagt mein Freund. Wir suchen eine Gastwirtschaft. Der Parkplatz vor der Gastwirtschaft ist voller Autos, einige Trecker stehen auch dabei, wenige Fahrräder.
„Hier scheint ja was los zu sein“, vermute ich. Wir beide steigen aus. Wir öffnen eine alte Gastwirtshaustür, betreten eine gemütliche Gaststube. Sie ist rammelvoll.
Erstaunte Gesichter wenden sich uns zu, die Köpfe drehen sich zur Tür. Es ist Dorfversammlung und nun kommen zwei blasse, fremde Gesichter dazu. Das ist ungewöhnlich.
Ein erstauntes Raunen in der Gaststube ist die Reaktion.  Ein Getuschel an den Gasttischen setzt ein. Zwei Stühle sind gerade noch frei. Wir setzen uns, etwas beklommen sind wir schon.
Ein kleiner Mann erhebt sich, steuert auf uns zu, schaut uns an und fragt einfach: „Sind Sie der neie Lehrer hier?“
Ein leichtes Runzeln läuft über meine Stirn. Ich wundere mich. Aber so sind die Suderbrucher - immer gerade heraus.
Nach etwas Zögern bejahe ich seine Frage im klarsten Hochdeutsch.
„Ich bin nur der Fahrer,“ sagt mein Freund.
„Ich bin dee Vorsteher hier, Bürgermeister sagen Sie woll dazu und begrüße sie. Herzlich willkommen in Zebrauke, äh Suderbruch.“
Natürlich war es mucksmäuschenstill geworden in der Gaststube.
Der kleine Mann drehte sich um, blickte in die Gaststube und sagte laut und deutlich, natürlich in halb hoch-, halb plattdeutsch: „Lüte, dat is unser neuer Schaulmeester hier. Er heißt Herr Pollack.“
Wir werden erneut genau gemustert. Die Blicke sind freundlicher geworden. Man scheint zufrieden zu sein.  Zuhause gibt es jetzt was neues zu erzählen.
Am Stammtisch der Gaststätte sitzen vier ältere Herren beim Doppelkopf. Ein markanter Kopf wendet sich uns zu, kluge Augen begutachten uns.
Die Spieler rücken kurz mit den Köpfen zusammen und flüstern auf plattdeutsch. Ein kurzes Hochschauen und dann nicken sie sich zu.
Der markante Kopf fragt uns beide: „Könnt Sei Doppelkopf spelen?“ Wir schauen uns an und bejahen seine Frage. „Wollen Sie mit üsch mitspelen?“ Ein kurzer Blick zwischen uns beiden dann: „Warum nicht. Wir haben sonst nichts vor.“
„Dann kommen Sie her und setzen sich zu uns“, sagt er. „Ich heiße Konrad Siemer. Das ist Herbert Vaje, Wanners Bur und Kohrs Bur.“
Wir stellen und gleichfalls vor. „Ach so, noch eine Erklärung. Wir spielen mit Kontra, Re und ohne Schweinchen. Herbert ist der Schriftführer. Noch etwas, bei einem groben Fehler muss derjenige eine Doppelrunde ausgeben, also ein Bier und einen Gabiko.“
„Gabiko?“
„Ganz billigen Korn.“
Wir beide lachen.
Ach hätten wir doch die Warnsignale bemerkt.
Ich möchte kurz unterbrechen , um die vier Urtypen zu beschreiben.
Konrad Siemer war wohl der wirkliche heimliche Herrscher im Dorf. Auf einem gedrungenen Körper saß ein markanter Kopf mit wachsamen blauen Augen. Die Haare waren spärlicher geworden. Respekt hatte er vor keinem Menschen nur vor Gott. Andererseits respektierte er jede offene Meinung. Er war auch Mitbesitzer der Jagd in Suderbruch und hielt einmal im Jahr eine Treibjagd ab. Man erzählte von ihm, dass seinetwegen sogar der ehemalige Landesvater Hinrich Wilhelm Kopf nach Suderbruch gekommen sei. Vor allem aber war er ein hoch interessanter Gesprächspartner. Geboren war er im Scheißhausjahrgang 00, so seine Worte.  
Herbert Vaje war der Besitzer des einzigen Kaufladens im Dorf und er führte gleichzeitig die Poststelle. Er zeigte alle Eigenschaften eines Kaufmannes, freundlich gegen jedermann und gewandt mit den Worten. Er hatte eine Schwäche für Doppelkopf.
Wanners Bur, Vorname Werner, war ein etwas grobschlächtiger Landwirt mit einem großen Mundwerk und einem ganz weichen Herzen. Die wirkliche Chefin auf dem Hof war seine Frau. Aber sie war es nur innerhalb des Hauses, nach draußen durfte er den starken Mann spielen. Er lebte von seiner Landwirtschaft.
Kohrs Bur, Vorname Friedrich, war als Persönlichkeit blass. Sein stärkstes Zeichen war eine glänzende Glatze. Auch er war Landwirt mit einer ziemlich großen Landfläche unter dem Pflug. Wie so oft hatte auch bei ihm die Frau im Haus die Hosen an.
Nun weiter zum Spiel der groben Fehler. Doppelkopf habe ich übrigens richtig dann erst in diesem gemütvollen Dorf gelernt.
Das Spiel beginnt. Es scheint anfangs ein ganz normales Spiel zu werden. Wir spielen uns beide langsam ein.
Langweilig wird es nicht, weil Wanners Bur nach jedem Spiel mit seinem entsprechenden Partner streitet. Nur wir beide sind bei Fehlern außen vor. Seltsam, uns passiert den ganzen Abend kein grober Fehler.
Nach 10 Minuten verwirft sich Herbert Vaje.
„Grober Fehler!“ ruft die Tischrunde.
„Heiniiii!“ Heini Dettmering erscheint, der Gastwirt.
„Doppelrunde für Herbert!“
Heini nickt und nach kurzer Zeit stehen sechs Bier und sechs Korn auf dem Tisch. „Prost!“
Weitere fünf Minuten später schaut Wanners Bur seinem Nachbarn auffällig in die Karten.
„Grober Fehler, weil nicht erlaubt!“ die Tischrunde. „Heiniii!“ Wieder sechs Bier , sechs Korn.
Kohrs Bur nimmt einen Buben wieder auf und sticht damit.
„Heiniiii!“ Sechs Bier, sechs Korn.
Konrad Siemer sagt re, obwohl er keinen einzigen Trumpf hat.
„Grober Fehler!"
"Heiniiii!“
Nach acht groben Fehlern gibt mein Freund auf. Er kann nicht mehr. Seine Augen sind glasig. Er hatte komischerweise selbst besoffen keinen groben Fehler gemacht.
Ich selbst war ja durch die Prüfungsfeiern in Übung und hielt bis zur Runde 14 oder 13 oder 15 durch. Die Gaststätte war mittlerweile auch fast leer geworden.
Doch in der letzten Runde der schönste Moment des Abends.
Kohrs Bur rutscht vom Stuhl.
Er landet auf dem Boden. Seine Glatze leuchtet über den Tischrand.  Alle schauen verwundert hoch. Konrad ruft: „Kohrs Bur, du musst was sagen!“
Eine Hand kommt langsam mit einer Karte von unten. Die Hand geistert unsicher durch die Luft, wird hin und hergewedelt. Die Spielkarte ist natürlich für alle sichtbar - nur für Kohrs Bur nicht. Kohrs Bur knallt die Karte auf den Tisch und von unten lallt es undeutlich:“ Koonnnttraaa!“
Alles schreit sofort: „Grober Fehler! Heiiniii!“
Nach dieser  Karte ist das Spiel beendet. Wir halfen Kohrs Bur auf die Beine und tranken unsere letzte Doppelrunde – zwei Bier und zwei Gabiko.
Konrad sagte auf platt: "Ward Tiet. Wi got na Huse. Heiniii, betohlen.“
Mühsam rappelten wir uns von den Stühlen hoch.
Wanners Bur half Kohrs Bur auf die Beine.
Konrad Siemer lachte und strahlte.
Herbert Vaje schwankte, aber hielt sich noch tapfer.
Ich sammelte meine letzten Kräfte, um mir einen guten Abgang, besser ein Abschwanken zu schaffen.
Mein Freund und die anderen Männer schauten mit lachenden Augen zu, was ich damals aber nicht mehr bemerkte.
Ich hatte mir an diesem Abend allerdings Respekt im Dorf verschafft. Der junge Lehrer konnte beim Doppelkopf und beim Trinken mit den Alten mithalten.
Das war doch schon beachtlich. Später haben sie mir das erzählt.
Ich war jedenfalls froh, dass wir bei Heini übernachten konnten.
Über meinen Brummschädel am nächsten Tag will ich lieber nicht reden.

Pk

 

 

pk 3/05

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Hartmut Pollack).
Der Beitrag wurde von Hartmut Pollack auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Hartmut Pollack

  Hartmut Pollack als Lieblingsautor markieren

Buch von Hartmut Pollack:

cover

Über den Tag hinaus von Hartmut Pollack



Poetische Gedanken über Liebe und Natur
Über den Tag hinaus zu schauen, heißt für mich, neben dem Alltag, dem normalen Alltäglichen hinaus, Zeit zu finden, um das notwendige Leben mit Gefühlen, Träumen, Hoffnungen, Sehnsüchten, Lieben, das mit Lachen und Lächeln zu beobachten und zu beschreiben. Der Mensch braucht nicht nur Brot allein, er kann ohne seine Träume, Gefühle nicht existieren. Er muss aus Freude und aus Leid weinen können, aber auch aus vollem Herzen lachen können. Jeder sollte neben dem Zwang zur Sicherung der Existenz auch das Recht haben auf romantische Momente in seinem Leben.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (4)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Erinnerungen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Hartmut Pollack

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Umziehen von Hartmut Pollack (Wahre Geschichten)
SPARSAME ZEITEN von Christine Wolny (Erinnerungen)
... Angstfalle I.Q.-Test ... von Fritz Lenders (Fragen)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen