Heinz Albers

Die scharfen Italienerinnen

Nachts mit der Bahn fahren, morgens in Mailand ankommen, den Tag in dieser schönen Stadt zubringen, nachts mit der Bahn fahren, morgens in Marseille ankommen, den Tag in dieser interessanten Stadt zubringen, nachts mit dem Schiff fahren, morgens doch noch lebend in Ajaccio ankommen – Ferien! Vier Wochen Korsika!

Diese vier Wochen brauchte ich auch, um mich von den pudelkernigen Aussagen der obigen Zeilen zu erholen.

Nachts in lauten, unklimatisierten Zügen schlaflos im Sitzen fahren, tagsüber mit qualmenden Füßen über die heißen Pflastersteine der Städte laufen, und eine Sehenswürdigkeit nach der anderen pflichtschuldigst abhaken, das ist harte Arbeit.

Rückfahrt con variazione: Nizza statt Marseille.

Aber es gibt immer wieder Ereignisse, die Aufenthalte interessant und Zugfahrten zu einem Erlebnis werden lassen, die Erinnerungen herstellen und Zeit mit Sinn füllen.

Hinfahrt. Italien, August 1962.

Zwölf Stunden Aufenthalt in Mailand.

Man kennt die Tour: ein imposanter Bahnhof, Leonardo da Vinci, die Galerie, der Dom, die Scala, Sonnenschein. Und dann war da noch Graziella Bizzi.

Auf dem Domplatz stand sie; schlank und dunkelblond mit glühend dunklen Augen. Wir waren beide jung und kamen schnell ins Gespräch. Smalltalk kannte man damals noch nicht. Italienisch ich nicht. Englisch beide genug.

Wir gehen etwas spazieren, in den nahe gelegenen Park. Es ist warm, ich schwitze in meinem weißen Nyltest-Hemd.

Wir nehmen uns erst scheu und flüchtig, fast versehentlich an die Hand. Wir schlendern dahin und finden uns nett.

Sie drückt ihre Finger zwischen meine, als hätten sich zwei fremde Hände zu einem Gebet gefunden. Ausgelassenes Loslassen und Entfernen, dann eilig mit gierigen Fingern sich wieder finden und sich mit offenem Blick ansehen.

Wir erzählen von uns und unseren Plänen.

Immer wieder drückt sie meine Finger, sieht mich mit großen Augen an, und ihr Busen berührt wie zufällig aber immer wieder meinen Oberarm. Glühende Wangen, hämmernder Puls. Tiefe Blicke. Übermütiges Lachen.

Es war hell und voll, überall Menschen; keine Chance für Heimlichkeiten in diesem sittenstrengen Lande.

Abseits in einer Trattoria ein Gläschen Roten. Adressentausch. Händchenhalten.

Dann war rasend schnell die Abfahrtzeit des Zuges in Richtung Frankreich da.

Da war es zu spät, keine Zeit mehr, sich irgendwo finden zu können.

Plötzlich auf dem Bahnsteig doch noch ein flüchtiger Kuss, eine winzige Berührung. Schwüre von Wiedersehen und Briefen. Zärtlich italienische Worte mit heißem Atem ins Ohr geflüstert. Trillerpfeife, der Zug fährt ab. Winken. Vorbei.

Rückfahrt. Italien Anfang September.

Zehn Sunden die Nacht über auf dem Oberdeck des alten Dampfers Sampiero Corso nur gedöst. Von Nizza nach Monaco und dann nachts mit dem Zug über Genua nach Mailand gefahren. Ankunft kurz vor acht Uhr morgens. Müde und hungrig wie ein Wolf fiel ich halb besinnungslos aus dem Zug.

Alle Geschäfte in der Stadt waren noch geschlossen. Also lenkte ich meine Schritte zum Dom, um auf den Stufen des Denkmals etwas Zeit zu vertrödeln. In Nizza hatte ich nur ein Stückchen Baguette und etwas Pastete aus der Dose gegessen, denn die Reisekasse zeigte Ebbe an.

In Gedanken war ich schon lange an diesem Geschäft mit der etwas blinden Schaufensterscheibe, das ich vorher gesehen hatte.

Um 10.00 Uhr, so war auf einem Pappschild zu lesen, machte der Laden auf, der so tolle Sachen im Schaufenster hatte: Schöne rote, süße, saftige Kuchenschnitten. Etwas Milch dazu. Das würde reichen, um meinen Hunger zu stillen. Vorfreude macht sich breit;

mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Der süße Kuchen wird mir gut tun und das Knurren aus meinen Eingeweiden entfernen.

Eine Stunde noch!

Frühzeitig war ich da und lechzte nach den Leckereien. Endlich öffnete eine Frau, und ich stolperte die drei Stufen hoch. Mit einem Finger zeigte ich auf den Kuchen, orderte die Flasche Milch, bezahlte und verließ das Geschäft.

Auf dem Gehweg wickelte ich sofort hastig und oberflächlich den Kuchen aus. Voller Gier und Heißhunger biss ich in dieses traumhaft süße Backwerk und machte Bekanntschaft mit kalter, scharfer Fischpaste auf salzigem Teig. In einem hohen Bogen spuckte ich das Undefinierbare aus, schüttelte mich heftig vor Ekel, fluchte vor mich hin und war für den Rest des Tages satt.

Das war mein erstes Zusammentreffen mit einer Pizza. Erst Jahre später, 1969 in Venedig, habe ich dieses Gericht wieder zu mir genommen – allerdings anfangs sehr vorsichtig und mit Bedacht.

Heute weiß ich eine gut zubereitete Pizza sehr zu schätzen. Dazu ein leichter Rotwein und in der Erinnerung Mailand im Sommer 1962 mit den scharfen, doch sehr unterschiedlichen Italienerinnen. Das hat schon was…

 

© Heinz Albers, 11. Januar 2005

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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