Klaus-Peter Behrens

Das Tor zwischen den Welten Teil 9

Es war ein strahlender Morgen als die Freunde zum ersten Mal wieder ins Freie traten. Der Himmel war von einem metallischen Blau, und die Morgensonne gab sich alle Mühe, den Frühnebel aus den Tälern zu vertreiben. Die Plattform vor dem Ausgang bot einen wunderbaren Ausblick. Unter ihnen lag ein immer dichter werdendes Waldgebiet von tiefem Grün, das sich bis weit ins Tal hinunter streckte. In der Ferne konnten sie gerade noch eine hügelige Ebene ausmachen, der Rest verschwand im Morgendunst.

Gart genoß die Aussicht ebenfalls. Er hatte seine Reisekleidung angelegt, die im wesentlichen aus einem Kettenhemd und einer zusätzlichen kleinen Wurfaxt bestand. "Es tut gut, wieder unterwegs zu sein", sagte er und schlug die Arme zusammen, um die Morgenkälte zu vertreiben. "Und? Wie ist der erste Eindruck der Welt außerhalb unserer Mine?" Er grinste die Freunde an. In den letzten Tagen hatten sich die drei Gefährten angefreundet, und Gart freute sich auf die gemeinsame Reise.

"Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich das vermißt habe." Tom war froh, endlich den Untergrund hinter sich gelassen zu haben. Auch Dean war begeistert, wenngleich er mit ein wenig Skepsis die diversen Kisten betrachtete, die neben dem Höhleneingang säuberlich aufgereiht waren.

"Wie kommen wir denn mit deinem ganzen Gepäck da hinunter?", fragte er und wies auf den extrem steilen, steinigen Weg, der sich vom Plateau in die Tiefe schlängelte.

"Kein Problem." Gart lachte und pfiff lautstark eine kurze Tonfolge, worauf aus einem der dunkeln Seitengänge vier Echsen von einem leuchtenden Smaragdgrün, jede in der Größe eines Ponys, ins Freie traten. Der kräftige Körper wurde von vier kurzen starken Beinen getragen, die in kräftigen Krallen endeten. Ein langer, stachelbesetzter Schwanz, und ein schmaler Kopf mit einem Gebiß, auf das jeder Grizzly neidisch gewesen wäre, rundeten das Bild eines vorsintflutlichen Ungeheuers ab. Drei der Echsen trugen Sättel, die vierte diente offenbar als Packtier. Die Freunde waren sprachlos, Dean vor Verblüffung über diese biologische Kuriosität, Tom vor Entsetzen.

"Gefallen Sie euch?" Gart sah die Freunde erwartungsvoll an. Tom war zurückgewichen. Er hatte das unangenehme Gefühl, Hauptdarsteller in Jurassic Park geworden zu sein, einer von denen mit den kürzeren Rollen. Die Echsen musterten die Freunde mit kalten schwarzen Augen, während ihre Schwänze unruhig hin und her peitschten.

"Du ..." Toms Stimme brach mit einem gurgelnden Geräusch ab. Er räusperte sich: "Ähhmmm, das ist ein Scherz, oder? Du willst doch nicht ernsthaft auf diesen Brüdern von Godzilla reiten?" Tom ließ die Echsen nicht aus dem Auge, während er auf eine Antwort wartete.

"Klar, habt ihr bei euch etwa keine Transportmittel?"

"Doch, aber sie haben in der Regel vier Reifen und pflegen ihre Besitzer nicht als Imbiß zu betrachten." Eine der Echsen ließ gerade eine leuchtend rote Zunge sehen, mit der sie sich genießerisch über ihr schuppiges Maul fuhr und Tom dabei interessiert musterte.

"Reifen? Was ist ein Reifen?" Der Zwerg sah Tom neugierig an.

"Vergiß es, ist nicht aus Erz oder Gold, kann man nicht abbauen."

"Ach so, hmmm." Gart war nicht so ganz sicher, was er von dieser Auskunft halten sollte. Die Studenten sprachen wirklich in Rätseln. Vielleicht wäre es ganz interessant, ihre Welt kennenzulernen. Er verschob diese Überlegung aber erst einmal auf später und wandte sich wieder den Echsen zu.

"Sind sie nicht niedlich?" Der Zwerg sah die Echsen liebevoll an. "Ich glaube, sie mögen dich."

"Genau das befürchte ich." Tom sah sich nach dem Höhleneingang um und versuchte, seine Fluchtchance einzuschätzen. Vier zu eins für die Echsen, keine gute Quote. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Monstren zu. Zu seinem Erstaunen bemerkte er, dass Dean inzwischen mit unbekümmerter Begeisterung, die wohl den meisten Biologen bei der Entdeckung neuer Lebensformen zu eigen ist, die Echsen zu untersuchen begann. In Gedanken sah sich Tom schon das Nachwort auf seinen Freund sprechen: "In Erfüllung seiner wissenschaftlichen Pflicht endete er als leckerer Appetithappen." Wie sollte er das bloß Deans Eltern erklären. "Immerhin, die Echsen haben sich den Magen verdorben" würde wahrscheinlich nicht sehr tröstlich ankommen.

"Dean...", fing er vorsichtig an, doch dieser schien taub zu sein. Verzückt umkreiste er die Echsen und stieß, wenn er nicht gerade Worte wie Riesenwaran, Evolution, Sensation, Züchtungsprogramm von sich gab, Freudenschreie aus.

"Hat er das dort, wo ihr herkommt, öfter?", fragte Gart.

"Wenn du wüßtest", seufzte Tom. Der Zwerg nickte mitfühlend. Dean erinnerte ihn an einen Zwerg mit Höhlenkoller. Derweilen hatte dieser das Maul einer der Echsen weit geöffnet und betrachtete die Zähne, wie es Händler auf dem Pferdemarkt zu tun pflegen. Das Tier war zu verblüfft, um zu reagieren. So eine Behandlung war es nicht gewohnt.

"Doppelzahnreihen", hörten sie Dean begeistert ausrufen, dessen Kopf bereits zum größten Teil im Maul von Godzilla Junior verschwunden war.

"Dean...."

"Hmmm....."

"Vererbst du mir deinen Rucksack?"

"Hä?" Dean gab die Zunge des Ungeheuers wieder frei, die er gerade in die Länge gezogen hatte, um ihr Ausmaß zu erfassen und wandte sich seinem Freund zu.

"Keine Angst, sie sind völlig harmlos", versuchte er, diesen zu beruhigen. Hinter ihm schnappte das Maul mit dem Geräusch einer Bärenfalle zu. Tom zuckte zusammen.

"Er hat Recht", bestätigte Gart. "Es sind wirklich liebe Tiere, die froh sind, wenn sie nicht selbst gefressen werden."

"Selbst gefressen!", krächzte Tom im höchsten Falsett. Gart sah ihn erstaunt an. Er hatte nicht gewußt, dass Menschen so quietschen konnten.

"Soll das heißen, dass es hier Viecher gibt, die so etwas zum Frühstück verspeisen?", rief Tom entgeistert. Der Zwerg nickte lebhaft. Tom war entsetzt. Das war gar nicht gut. Davon stand nichts im Reiseführer. Er begann, ihren Ausflug nach Wehrheim mit anderen Augen zu sehen. Der Wald unter ihnen schien plötzlich einem tückischen Urwald zu ähneln, in dem die gierigen Bewohner ihn gerade auf die Speisekarte gesetzt hatten. Nein, das entwickelte sich ü b e r h a u p t nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte.

Dean versuchte inzwischen, Gart davon zu überzeugen, dass es zwingend notwendig sei, die für die Echsen bedrohlichen Tiere für Forschungszwecke einzufangen. Der zeigte sich alles andere als erbaut von diesen Plänen und begann ernsthaft, an der Zurechnungsfähigkeit seiner Gefährten zu zweifeln. Während sich die beiden lebhaft stritten, hatte sich eine der Echsen dem ängstlich an den Fingernägeln kauenden Tom genähert und stupste ihn auffordernd mit dem Kopf in die Seite. Geistesabwesend tätschelte er ihr das schuppige Haupt. Die Echse begann wohlig zu schnurren und verursachte dabei ein Geräusch, das an einen uralten Dieselmotor ohne Katalysator erinnerte. Schlagartig wurde Tom klar, was er da gerade tat. Eilig riß er seine Hand zurück. Die Echse stupste ihn erneut an. Tom musterte sie mißtrauisch. "Eigentlich sieht sie gar nicht so schlimm aus", dachte er und betrachtete die Echse genauer. "Wenn ich es mir genau überlege, einige der Mädchen, mit denen Dean schon ausgegangen war, sahen auch nicht besser aus." Vorsichtig streckte er die Hand aus. "RRRRRRRRRRRRRRRR" Der Dieselmotor sprang wieder an. Mutiger geworden, begann Tom, den schuppigen Kopf mit beiden Händen zu streicheln. Die Drehzahl stieg.

"Wenn du so weiter machst, kriegt sie einen Kolbenfresser" Dean war neben seinen Freund getreten und betrachtete dessen Verhalten amüsiert.

"Die fressen keine Kolben, sondern...", kam Gart zu Hilfe, wurde aber brüsk von Tom unterbrochen.

"Will ich gar nicht wissen. " Schnell stellte er das Streicheln ein und wandte sich seinen Gefährten zu. Die Echse schnurrte wieder im Leerlauf.

"Also schön", lenkte Tom ein, "sie scheinen nicht so schlimm zu sein. Ich gebe mich also geschlagen und lasse mich von diesen Minigodzillas, oder wie ihr die auch immer nennt, den Berg hinunter tragen."

"Man nennt sie Schnapper", erklärte Gart ihm. Das erfreute Tom wenig.

"Wenn eines dieser Viecher nach mir schnappt, macht es Karriere als Handtasche", drohte er. Gart war sich zwar sicher, dass Tom, falls die Echse wirklich einmal zuschnappen sollte, gar nichts mehr machen würde, außer eine gute Mahlzeit abzugeben. Er verkniff sich aber einen Kommentar. Immerhin waren die Echsen nicht ganz sooo ungefährlich, wie er es den Freunden Glauben gemacht hatte. Aber warum sollte er sie beunruhigen. Sie würden es mit der Zeit schon selbst herausfinden. Überhaupt mußten die beiden noch eine Menge lernen, wenn sie hier überleben wollten. Es war wohl wirklich das Beste, wenn sie möglichst schnell den Übergang in ihre Welt finden würden.

Hätte Gart geahnt, welch langer Weg und wieviel haarsträubende Abenteuer noch vor ihm lagen, hätte er sich im abgelegensten Bergwerkstollen eingemauert und geweigert, die nächsten zehn Jahre einen Fuß vor die Mine zu setzen. So aber forderte er die Freunde gutgelaunt auf, ihm beim Bepacken des Lastschnappers zu helfen. Das Gepäck wurde mit einem einfachen System aus Seilen und Haken so an dem Geschirr des Tieres befestigt, dass dieses davon nicht zu sehr in seiner Bewegungsfreiheit beeinträchtigt wurde. Gart erklärte, dass dies erforderlich sei, um es jederzeit schnell abnehmen zu können, wenn die Situation es erfordern sollte. Tom wollte lieber nicht wissen, um was für eine Situation es sich dabei handeln könnte. Seine Phantasie reichte dafür voll aus. Es folgte eine kurze Anweisung, wie die Echsen zu reiten wären, die im wesentlichen auf einen Satz reduziert werden konnte, der da lautete: "Festhalten und nicht runterfallen", dann war es endlich soweit. Der Lastschnapper war beladen, und die Freunde saßen mehr oder weniger glücklich auf ihren Reitechsen. Tom warf noch einen letzten Blick zurück auf den Eingang von Medara. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass er es lange Zeit nicht mehr so sicher und bequem haben würde, wie in den letzten Tagen bei den Zwergen. Dann lenkte Gart seinen Schnapper von dem Plateau hinunter, und die Freunde folgten ihm auf den Weg ins Abenteuer.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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