Renate Strang

Die Muschelkette

„Ich geh zu Ingrid!“ Erika stand in der Tür und wartete ungeduldig auf das „Ja“ der Mutter.

„Nimm Meta mit.“ Die Mutter war ganz auf den Teig konzentriert, den sie mit mehligen Händen knetete.

„Warum das denn?“ Erika verzog ihren Mund. „Meta stört bloß.“
 
Meta saß mit gesenktem Kopf am Küchentisch. „Sie stört bloß“, lag ihr schwer wie ein Kloß im Magen. Sie hörte es oft und immer wieder tat es weh. Doch sie sagte nichts. Sie sagte nie etwas, wenn sie verletzt war.
 
„Ich will, dass du Meta mitnimmst.“
„Ingrid ist meine Freundin“, erwiderte Erika trotzig.

„Und Meta ist deine Schwester.“

Der Blick der Mutter verhieß nichts Gutes. Erika fügte sich murrend. „Komm schon“, blaffte sie. Meta strahlte. Erika erzählte oft, dass Ingrid ein tolles Zimmer voller Spielsachen hatte. Meta teilte mit ihrer Schwester eine Kammer und besaß nur eine Puppe und einen Teddy, die schon arg ramponiert waren. Ein eigenes Zimmer und so viele Spielsachen - das zu sehen, hatte sie sich schon immer gewünscht.
 
Aufgeregt folgte Meta ihrer Schwester. Erika war neun Jahre, schlank und drahtig. Die dicken, braunen Zöpfe wippten fröhlich, als sie sich eilig auf den Weg machte. Am liebsten wäre ihr, Meta könnte nicht folgen. Doch die gab sich alle Mühe, Schritt zu halten. Obwohl sie fast drei Jahre jünger war, hatte sie ihre Schwester in der Größe  eingeholt. Aber sonst hatten sie nicht viel Ähnlichkeit. Meta war ein dickes Kind mit dünnen weißblonden Haaren. Sie keuchte schwer, als sie versuchte, Erika einzuholen. Doch die blieb immer einige Schritte voraus, die kleine Schwester übersehen, am besten gar nicht kennen.
 
Bevor sie klingelte, wandte sich Erika ihrer jüngeren Schwester zu. „Wehe, du machst den Mund auf oder fasst etwas an. Ingrid ist meine Freundin, hast du verstanden?“ Meta nickte.  Sie würde sich an die Anweisungen halten. Erika war stärker und konnte fest zuschlagen.
 
„Warum hast du denn die Fette mitgebracht?“ Ingrid stand in der Tür und blickte missmutig auf Meta. „Mama wollte es“, erwiderte Erika unglücklich. Ingrid rümpfte die Nase. „Komm, wir gehen auf mein Zimmer, ich muss dir was zeigen.“
 
Ingrids Zimmer war noch schöner, als Meta es sich vorgestellt hatte. In Regalen saßen Puppen und Plüschtiere einträchtig bei einander und überall lag Spielzeug herum. Meta konnte sich kaum satt sehen. Statt harter Küchenstühle waren Sessel um einen Tisch gruppiert, das Bett war unter einer bunten Tagesdecke versteckt. Meta staunte regungslos. „Nun setz dich endlich hin“, raunzte Ingrid. Gehorsam nahm sie in einem Sessel Platz, wortlos,  denn sie erinnerte sich lebhaft an die Drohung der Schwester.
 
Ingrid war aufgekratzt und erzählte vom Sommerurlaub an der Nordsee, aus dem sie gerade zurückgekehrt war. Meta lauschte gebannt. Sie hatte das Meer noch nie gesehen und konnte es sich nicht einmal richtig vorstellen. „Ich habe auch was Tolles mitgebracht“. Ingrid nahm aus einem Schrank eine große Muschel, die in allen Farben des Regenbogens schillerte. Meta hielt die Luft an. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen.
 
„Wenn man sie ans Ohr hält, hört man das Meer rauschen.“ Ingrid gab die Muschel Erika, die sie sofort gegen das Ohr drückte. „Toll, das rauscht ja wirklich da drin. Willst du auch mal hören?“ Erika reichte die Muschel gnädig an Meta weiter.  „Aber lass sie nicht fallen“.
 
Meta lauschte hingerissen dem Rauschen des Meeres. Es musste wunderschön sein. „Gib schon her.“ Ingrid legte die Muschel zurück in den Schrank. „Und jetzt zeige ich euch, was mir mein Vater noch gekauft hat.“ Sie öffnete ein Kästchen und zog eine Kette hervor, die aus Muscheln unterschiedlicher Form und Farbe bestand. Metas Atem stockte. Die Kette war noch schöner als die Muschel mit dem Meeresrauschen. Sie war das Schönste, was sie je gesehen hatte. Sie streckte die Hand aus, doch Ingrid gab Erika die Kette. „Hübsch“, war alles, was die dazu sagte. Meta dagegen verschlang die Kette mit ihren Augen. Mit jedem Wimpernschlag wuchs das Verlangen. Sie war so schön, so fremdartig, anders als alles, was sie kannte. Ob die Muscheln auch rauschten? Sie brannte darauf, sie ans Ohr zu halten, sich mit der Kette zu schmücken. Sie hatte sich nie etwas sehnlicher gewünscht, als diese Muschelkette.
 
Ingrid legte die Kette zurück in das Kästchen, das sie achtlos auf den Tisch stellte. Dann warfen sich die Freundinnen kichernd auf das Bett und flüsterten sich Geheimnisse ins Ohr. Meta wagte kaum, sich zu rühren, dennoch kroch ihre Hand zum Kästchen. Sie öffnete es vorsichtig und nahm lautlos die Muschelkette heraus. Blitzschnell verschwand sie in der Kittelschürze. Ihr Gesicht war purpurrot, heiß brannte das Diebesgut in der Tasche, doch um nichts in der Welt würde sie es zurücklegen. Das Verlangen war mächtiger als die Ermahnungen der Großmutter, „du sollst nicht stehlen“.  Fest umklammerte sie das Schmuckstück. Ingrids Vater hatte Geld, er konnte ihr ein neues kaufen.
 
Unruhig rutschte Meta auf dem Sessel hin und her. „Ich will nach Hause.“ „Dann geh doch“. Ihre Schwester würdigte ihr nicht einmal einen Blick. Metas Herz hüpfte vor Freude. Niemand hatte den Diebstahl bemerkt, die Kette gehörte ihr, ihr ganz allein. Sie rannte nach Hause, konnte er kaum erwarten, das Schmuckstück zu betrachten, die Muscheln an das Ohr zu halten.
 
 „Wieso kommst du allein?“ Die Mutter saß in der Küche und strickte, eine Katze umschnurrte ihre Beine.
„Ich hatte keine Lust mehr.“

„Dann geh draußen spielen“.

Hühner gackerten auf dem Hof und scharrten nach Würmern. Meta setzte sich an die Rückwand des Hühnerstalls und zog vorsichtig die Kette aus der Schürze. Wie schön sie war! Sie streichelte die Muscheln, bewunderte die Formen und Farben. Die Finger erspürten die harte Schale, folgten den feinen Zeichnungen. Die Sehnsucht wurde übermächtig. Sie möchte das Meer sehen, die ganze Welt. Nur fort von hier.
 
Sie hielt die Kette an das Ohr, aber das Meer schwieg. Sie war enttäuscht. Sie legte das Schmuckstück um den Hals und fühlte sich wie eine Prinzessin. Nur schade, dass sie sich nicht im Spiegel bewundern konnte. Doch in ihrer Fantasie sah sie sich schlank und schön mit der Kette am Strand spazieren, gefolgt von anerkennenden Blicken und netten Komplimenten. 
 
 „Du hast gestohlen. Schämst du dich nicht?  Böses Kind. Aus dir wird nie was werden“, hörte sie auf einmal die flüsternde Stimme der Großmutter. Meta schaute sich um, doch sie war allein. Tränen schossen ihr in die Augen. Was hatte sie nur getan? Sie hatte gestohlen! Es war nicht rückgängig zu machen. Nein, sie wollte es auch nicht. Sie wollte die Muschelkette. Sie war ihr Schatz  - ein Geheimnis, von dem sie niemandem erzählen durfte. Aber wo sollte sie die Kette verstecken? Sie grübelte lange, bis sie eine Lösung fand. Unter ihrer Matratze! Dort war sie sicher.
 
Durch das offene Fenster kletterte sie heimlich in das Zimmer, das sie mit Erika teilte. Liebevoll versteckte sie die Kette unter ihrer Matratze. Hier war sie nahe, wenn Meta zu Bett ging. Ein gutes Gefühl!
 
In dieser Nacht schlief Meta unruhig. Sie träumte, dass Oma die Kette entdeckte.  „Diebin“,  „Nichtsnutz“, „mit dir wird es böse enden.“ Sie wurde verprügelt und ins Gefängnis gesperrt. Der Alb setzte sich auf ihre Brust und nahm ihr die Luft zum Atmen. Sie kämpfte gegen den Druck, und um Hilfe schreiend erwachte sie. Ihr erster Gedanke war die Kette. „Hätte ich sie bloß nicht genommen.“ Sie bekam große Angst. Das Versteck war nicht sicher. Kein Versteck der Welt war sicher. Sie musste ihren Schatz für immer verschwinden lassen.
 
Leise, denn Erika schlief noch, holte sie den Schatz unter der Matratze hervor. Auf Zehenspitzen schlich sie auf den Hof. Ihr Ziel war ein alter Brunnenschacht, der nicht mehr benutzt wurde, seitdem sie eine Pumpe hatten. Sie weinte, als die Muschelkette im Licht der aufgehenden Sonne schillernd leuchtete. „Ich kann dich nicht behalten. Ich schicke dich zurück in das Wasser. Dorthin, woher du gekommen bist.“ Sie hob den Brunnendeckel und ließ die Kette in die Tiefe gleiten. Mit ihren Tränen tropften Metas Träume hinterher.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.03.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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