Marie Salka
1888
Ein marodes,
heruntergekommenes Haus… Wir hatten es zufällig entdeckt, auf unserem
Spaziergang an den Flussauen entlang. Es war ein heißer Sommertag, und so
verlockte das schattenspendende, kühle Gebäude geradezu, es zu erkunden, zumal
die Tür nur angelehnt schien.
Wir schlichen uns, nach
einem verschämten Blick, ob uns auch keiner beobachtete, durch die knirschende
Tür und fanden uns in einem hohen Raum wieder. Staub wirbelte durch die
schmalen Sonnenstrahlen, die durch die ungeputzten Fenster drangen. Ich hatte
den Eindruck, in einer Werkstatt zu stehen. Vielleicht eine alte Schmiede? An
der Wand hingen Werkzeuge, die mir den Eindruck machten. Unter dem hohen
Dachgiebel wehten Spinnweben.
Eine angegriffene
Holztür hing in den Angeln, die uns in den nächsten Raum führte. Er war ähnlich
gestaltet, und enthielt einen Amboss, der meine Theorie bestätigte. Nur sehr
fahl fiel das Sonnenlicht durch die zugeklappten Fensterläden.
Als ich durch einen
weiteren wackeligen Türrahmen um die Ecke blickte, fiel mir schräg gegenüber,
auf der anderen Seite des Ganges, eine dunkelgrün gestrichene Tür auf. Die
Farbe war in weiten Flächen abgeblättert, und doch schien sich jemand einmal
große Mühe gemacht zu haben, sie zu streichen. Mein Freund drückte die Tür auf
und wir blickten in ein… - nun, es sah aus wie ein Kinderzimmer. Drei Betten,
davon ein Kinderbettchen mit Drapieren, standen an den Wänden. Ein hoher
Kleiderschrank verdeckte die gegenüberliegende Ecke, und die Wand daneben
schien ungewöhnlich stark eingerückt. Spinngewebe und eine zentimeterdicke
Staubdecke hüllten die Möbel in einen seltsam anmutenden Schleier.
Ich trat ein und
erschrak über die laut knirschenden Dielen. Mit der linken Hand schloss ich die Kleiderschranktür auf. Sie
quietschte und mir fiel ein alter Teddy entgegen. Ein Ohr war abgerissen und
seine Nase zerschlitzt. Ein Schauer lief mir über den Rücken.
Wir verließen das
Zimmer und tasteten uns weiter den dämmrigen Flur entlang. Aus einer offen
stehenden Tür drang ein Lichtstrahl und beschien einen verstaubten
Bilderrahmen, der an der Wand des Flurs hing. Ich kniff meine Augen zusammen
und erkannte unter der Glasscheibe ein vergilbtes Familienfoto. Als ich noch
genauer hinsah, konnte ich auch Details erkennen – ein Ehepaar, eine ältere
Frau und drei Kinder. In der rechten unteren Ecke war ein Datum verzeichnet. Ich
beugte mich noch näher, um es zu entziffern. Plötzlich waren Schritte zu hören.
Sie kamen aus der Schmiede. Es klang nach schweren Stiefeln, und ich lief
panisch meinem Freund, der just die Flucht ergriffen hatte, durch den Flur
hinterher. War uns jetzt der Weg
abgeschnitten?
„Malte!“ rief ich
angsterfüllt. Das Stampfen hinter mir klang gar zu unheimlich, und ich hatte
meinen Freund aus den Augen verloren! Die Türen um mich herum erschienen mir,
obwohl es nicht mehr als zuvor waren, wie ein Labyrinth, und ich konnte nicht
begreifen, warum er nicht auf mich gewartet hatte.
Ich hatte eine Tür
erreicht, die offenbar über eine Treppe in den Keller führte. Ob Malte diesen
Weg gewählt hatte? Nicht, dass mir der Gedanke, ins Gewölbe herabzusteigen,
übermäßig behagte, aber ich wollte auf keinen Fall allein in diesem düsteren
Flur bleiben.
Gerade als ich meine
Hand auf die Klinke legte, ertönte der schwere Schritt so nah, dass die Diele
unter meinem Fuß vibrierte. Ein Angstschauer erfasste mich. Mir rutschte das
Herz in den Magen, als ein fester Griff meinen Kragen packte.
Ich wurde durch eine
offene Tür gezogen, die im rechten Winkel zur Kellertreppe lag.
Als ich mich herum
drehte, blickte ich in ein Paar braune Augen. Mir gegenüber stand jemand, der
etwa so alt wie Malte sein musste, mir aber ansonsten völlig unbekannt
erschien. Auch der Raum, in den ich geraten war, war ganz und gar nicht so
düster wie die bisherigen Zimmer, die wir durchquert hatten. Ich befand mich in
einer weiß gekachelten Küche, und es herrschte rege Betriebsamkeit.
„Entschuldigung,“
ertönte da mein Gegenüber. „Ich hatte dich vor der Tür gehört, als ob etwas
nicht in Ordnung sei, und beschloss, nachzusehen, woran es lag.“
Ich sah ihn verwirrt
an. „Und weil du so panisch aussahst, hielt ich es für besser, dass du dich
hier erst einmal wieder beruhigst.“ Er grinste. „Ich heiße Joachim.“
Ich murmelte ebenfalls
meinen Namen.
Als ich mich in dieser
Küche, die es offenbar war, genauer umblickte, erschienen mir die gusseisernen
Pfannen, die in Reih und Glied an der Wand befestigt waren, seltsam. Aber nun,
jedem das Seine! Schließlich fiel mein
Blick auf eine Zeitung. Die Titelseite lag offen da. Und das Titelbild kam mir
vertraut vor…
„Tragisch, nicht wahr?“
Die Köchin am Herd hatte sich mir zugewandt und deutete auf die Schlagzeile. Ich
fokussierte sie. Familie spurlos
verschwunden – immer noch kein Lebenszeichen lautete sie.
„Diese Leute wohnten
vor uns in diesem Haus.“ Die Köchin beugte sich über meine Schulter. „Im
Februar verschwanden sie von einem Tag auf den anderen. Alle Suchaktionen
blieben bisher erfolglos. Der Familienvater, der einzige, den man am Tag nach
der ersten Suche noch befragen konnte, war nach der Befragung ebenfalls nicht
mehr aufzufinden. Keiner hat ihn seitdem mehr gesehen.“ Die Köchin wirkte
nachdenklich, wandte sich dann jedoch wieder ihrer Suppe zu.
Ich betrachtete das
Foto unter der Schlagzeile genauer, und sah, dass ich recht hatte: Es handelte
sich um dieselbe Gruppe – ja, um das gleiche Foto – die auch im Flur im
Bilderrahmen aufgetaucht war.
Zufällig fiel mein
Blick auf das Datum, das unter dem Zeitungstitel abgedruckt war – ich stutzte.
Dies konnte nicht
stimmen – träumte ich? Konnte ich meinen eigenen Sinnen nicht mehr trauen?
Das Datum lautete auf
den 17. November 1888.
Ich widmete mich dem
Zeitungsartikel genauer. Daraus ging hervor, dass die besagte Familie am 28.
Februar desselben Jahres als vermisst gemeldet worden war, nachdem eine
hilfebedürftige Nachbarin, die auf die Besuche der Mutter der drei Söhne
angewiesen war, ihre Abwesenheit bemerkt hatte. Bald darauf war auch der Vater
abgängig, und sämtliche Ermittlungen in diesem Fall waren fruchtlos geblieben.
„Es handelte sich um ein
Ehepaar mit drei Söhnen. Der jüngste von ihnen soll wohl erst drei Jahre alt
gewesen sein. Außerdem wohnte die Mutter des Vaters mit ihnen im Haus. Auch sie
wurde nicht mehr gesehen.“ Joachim hatte sich wieder zu Wort gemeldet. „Schon
sehr seltsam, nicht wahr? Und schließlich zogen wir in dieses Haus ein. Den
Schmiedebetrieb übernahmen wir allerdings nicht, denn keiner von uns ist in
diesem Handwerk bewandert.“ Er beugte sich näher zu mir. „Gerüchte gingen um,
der Familienvater, der Schmied, soll das Eisen mit roher Hand behauen haben.“
Er zuckte mit den Achseln. „Das ist sicher eine Übertreibung. Aber ein wahrer
Hüne war er. Man hörte ihn jeden Sonntag schon von weitem in die Kirche
poltern.“
Schwere Schritte?
„Aber nun erkläre doch
erst einmal, was dich vorhin so erregt hat. Jagt dir etwa unser Haus Angst
ein?“ Ich blickte in Joachims Augen, und da fiel mir Malte wieder ein. Ich
erklärte ihm, dass ich auf die Suche nach ihm war. Von unserem Verfolger sagte
ich nichts. Was würde Joachim von mir denken? Ich war wohl paranoid. Diese
schweren Stiefel…
„Ich werde dir helfen.
Wir finden ihn schon. Er hält sich tatsächlich in unserem Haus auf?“
Ja, das fiel mir jetzt auch auf. Wir waren ohne Berechtigung in ein fremdes Gelände
eingedrungen. Ich senkte betreten den
Kopf. Aber Joachim schien sich nicht weiter von dem Gedanken stören zu lassen.
Ich äußerte meine
Vermutung, dass Malte vielleicht in den Keller geflohen sei. Also öffnete
Joachim dieselbe Tür, deren Klinke ich zuvor schon in der Hand gehalten hatte, und
wir stiegen die Treppe hinab. Eine steile Stiege. Geruch von altem Moder stieg
mir entgegen. Dabei fiel mir wieder ein, dass ich gerade das Verrückteste
durchlebte, was mir bisher vorgekommen war. Wie konnte ich Menschen begegnen,
die mit solcher Selbstverständlichkeit eine Zeitung aus dem Jahr 1888 lasen?
Was stimmte nicht mit ihnen? Oder war am Ende ich diejenige, der etwas
Unglaubliches passierte…Ich begann an meinem Verstand zu zweifeln. Wer war
Joachim? Wie alt war er – ja, welche Zeit war für ihn selbstverständlich? War
er verrückt oder ich? Ich konnte unmöglich im Jahre 1888 diese Stiegen
hinabsteigen…
„Wie sieht er denn
eigentlich aus, dein Malte?“ unterbrach Joachim meinen Gedankengang. „Nun…“ ich
überlegte, und sah dabei Joachim an, der vom Licht des Flurs beschienen wurde.
„Er hat braunes Haar, so wie du. Wenn es auch länger ist. Rehbraune Augen, so
wie du. Und, ja, er trägt ebenfalls ein weißes Hemd.“
Joachim schmunzelte.
„Interessante Übereinstimmungen.“ Dann zündete er eine Lampe an, die er mit
hinab gebracht hatte. Ein warmer Schein erleuchtete das Gewölbe. Es war nicht
sehr hoch, und überschaubar, doch von Malte keine Spur.
„Wir wollen den Keller
nutzen, um Wein einzulagern. Noch gebrauchen wir ihn aber nicht.“ erklärte
Joachim.
Ich hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Ein Instrument erregte meine
Aufmerksamkeit. In einer Ecke des ansonsten leeren Gewölbes lehnte eine Axt.
Meine Augen hatten sich an das dürftige Licht gewöhnt, das die Öllampe
umstrahlte, und so konnte ich am Schneideblatt der Axt braune Schlieren
erkennen, die sich bis über den Stiel zogen. Etwas daran behagte mir nicht.
Wieder kam mir die Schlagzeile von der verschwundenen Familie in den Sinn.
Wohin war sie verschwunden? Was, wenn er… Mir wurde ganz flau bei diesem
Gedanken. Blut? Eine Axt? Eine auf Nimmerwiedersehen entschwundene Frau? Drei
Kinder? Ihre Großmutter?
“Joachim, oh mein Gott…“ Ich drehte mich zu ihm zurück, und schreckte zurück,
als ich nicht in Joachims gepflegte Frisur, sondern auf den Wuschelkopf meines
Freundes blickte. „Malte!“ Ich fiel ihm in die Arme. Dann sah ich mich erstaunt
um. „Wo ist Joachim?“ Malte blickte mich überrascht an. „Wer ist Joachim?“
Ich starrte vor mich
hin. War ich vollends außer Verstand geraten? Ich hielt es für besser, mein
Erlebnis – oder sollte ich es besser eine Sinneswahrnehmung nennen? - für mich zu behalten. Ich schüttelte nur den
Kopf, und drehte mich noch einmal zu der Axt um, die inzwischen von einer
dicken Staubschicht bedeckt war.
Wir stiegen die Treppe
hinauf, und Malte drückte den Lichtschalter, so dass die einsam im Keller
hängende Glühbirne erlosch.
Malte schloss leise die
Kellertür, und wir lugten um die Ecke, um zu sehen, ob die Luft rein war. Der
Flur lag verlassen da, und so schlichen wir auf leisen Sohlen den Weg zurück,
den wir gekommen waren. Vor dem Kinderzimmer hielt ich inne und blickte durch
die marode Tür direkt auf die gegenüberliegende Wand, die so seltsam eingerückt
schien. Ein schweißnasser Schauer erfasste mich, als mir beim Anblick der
Kinderbetten die vermisste Familie wieder einfiel, und ich hatte das Gefühl,
als ob die Wand mich verfolgte, mir näher kam…
Schnell holte ich meinen Freund wieder ein und wich ihm nicht mehr von der
Seite. Wir durchquerten die zwei Räume der Schmiede und ich atmete auf, als ich
die warme Sonne im Gesicht spürte. Ich ergriff Maltes Hand und zog ihn weg von
diesem eigenartigen Haus. Als wir uns am gegenüber der Straße liegenden Fluss
wieder umsahen, erblickten wir einen Kran, dessen Abrissbirne sich in dem
Moment auf das Gemäuer zubewegte.
Außer Atem sah ich dem
Geschehen zu und fragte mich, welcher arme Hund wohl das Geheimnis entdecken
würde.
geschrieben in der Nacht, als mein Osgood starbMarie Salka, Anmerkung zur Geschichte
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.04.2005.
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