Angela Heise
Unerschütterlich
Sie steht immer noch um 6 Uhr morgens auf. Eigentlich könnte sie
ausschlafen, aber es ist die Gewohnheit, die sie wach werden lässt.
Müssiggang hat sie nie gelernt. Die Knochen sind alt geworden, die
Gelenke schmerzen gerade jetzt im Winter. Sie geht ins Bad und macht
sich fertig für den Tag. Unten wird sie schon erwartet. Der Hund kennt
die Zeiten genau, seine innere Uhr geht mit ihrer gleich.
Nach dem Kaffee geht sie mit dem Hund, dann zum Friedhof. Seit 4 Jahren
ist ihr Mann jetzt schon tot. Als sie am Grab steht gehen ihre Gedanken
auf Wanderschaft.
Fast 50 Jahre waren sie verheiratet gewesen. Als er aus der
Kriegsgefangenschaft kam lernte sie ihn kennen. In den Trümmern, die
der Krieg hinterlassen hatte habe sie geheiratet. Angefangen haben sie
ihr gemeinsames Leben mit nichts. Vielleicht war es das, was sie so eng
verbunden hatte. Im Laufe der Jahre erwirtschafteten sie sich eine
sichere Existenz. 2 Kinder zogen sie groß, entliessen sie ins Leben.
Wie stolz war er gewesen, als seine erste Enkelin geboren wurde! Die
Großvaterrolle lebte er aus ganzem Herzen. Innig hingen Opa und Enkelin
aneinander, so innig, dass die mittlerweile erwachsene Enkelin ihm
einen langen Brief mit in den Sarg gab. Schade, sein erstes Urenkelchen
durfte er nicht mehr erleben. - Mechanisch räumt sie die Giesskanne weg
und macht sich auf den Heimweg. In Gedanken ist sie ganz woanders.
Stolz war er auf seine Familie gewesen. Auf den Gesellenbrief, den der
Sohn heimbrachte, auf die Tochter, die musikalisch war und beruflich
seinen Weg eingeschlagen hatte. Sicher, die Kinder machten auch Sorgen
und Ärger, aber er war überzeugt, dass sie ihren Weg gehen würden.
Als die Enkelin heiratete stand er in der Kirche. Stolz und glücklich
seine Kleine im weissen Brautkleid strahlend am Altar neben ihrem Mann
zu sehen. Er war still an diesem Tag, so als würde er Gott danken
diesen noch erlebt zu haben.
Wenig später kam er ins Krankenhaus. Eine Routinekontrolle hatte der
Arzt gesagt. Als der Professor der Familie mitteilte, dass es keine
Rettung gab holten sie ihn heim. Anfangs schien es, als würden gute
Mächte auf seiner Seite streiten. Seinen Geburtstag feierte die Familie
noch fröhlich. Das Geburtstagskind schien sich wohl zu fühlen und
freute sich, dass alle bei ihm waren. Einige Tage später konnte er
nicht mehr aufstehen und von diesem Tag an verfiel er zusehens. Hilflos
mussten sie mit erleben, wie er sich aufmachte sie zu verlassen. Einer
der Familie war immer bei ihm. Die Pflege übernahm seine Frau mit der
gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie in fast 50 Jahren immer da
gewesen war. Als der Pfarrer gerufen wurde um ihm die Sterbesakramente
zu bringen war er ganz klar. Zufrieden schaute er sich um und stellte
fest, dass sie alle bei ihm war und ihn auch jetzt begleiten würden.
Wenig später schloss er die Augen. Leise, still und bescheiden wie er
gelebt hat verliess er diese Welt. Er ging jetzt in die Welt an die er
sein ganzes Leben geglaubt hatte.
"Tschüs, bis morgen," sagte sie leise, fasste die Leine des Hundes fest
und ging langsam zum Ausgang. Es fiel ihr schwer ihn dort allein zu
lassen. Ihr Haus war nur einige Minuten vom Friedhof entfernt. Das war
gut, denn so war sie in seiner Nähe. Als sie fast am Haus war sah sie
das Auto. "Oma", jubelte ihre Urenkelin und lief ihr entgegen. Kleine
Ärmchen schlagen sich um ihren Hals, ein kleiner Mund drückte ihr ein
nasses Küsschen auf die Wange. Vergessen waren die traurigen Gedanken,
zumindest für die Zeit, in der die Kleine mit den Eltern da war. Zum
Nachdenken würde sie erst kommen, wenn der Wirbelwind weg war.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.04.2005.
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