Heidrun Gemähling

Die traurige Lokomotive

In einem kleinen ländlichen Ort nahe der Niederländischen Grenze stand schon seit vielen Jahren eine alte schwarze Dampflokomotive. Auf dem Abstellgleis hatte man sie fast vergessen. Eine üppig wuchernde Hecke schlängelte sich mit ihren Ausläufern durch die gesprungenen Fenster bis hin zum Führerstand, weiter durch den verrußten Schornstein und wieder hinaus ins Freie.
An der Tür der alten Lok war der Name „Betti“ zu lesen. Sie war schon seit langem sehr traurig, denn sie erinnerte sich gern an schöne alte Zeiten, als sie keuchend, dampfend und ratternd durch die Landschaft fuhr und Menschen ihr zujubelten. Sie sah in ihrer jahrelangen Tätigkeit viele Tränen der Wiedersehensfreude und auch Tränen des Abschieds. Schnell konnte sie nicht fahren, aber beständig und zuverlässig.
Eines Tages entdeckten spielende Kinder die Dampflokomotive. Sie turnten wild auf ihr herum als ein Kind plötzlich lautstark schrie:
„Wenn diese Lok eine andere Farbe hätte, dann würde sie hier nicht so versteckt stehen!".
Die Kleinen hatten die unterschiedlichsten Ideen, wie sich Schwarz in Farbe verwandeln ließe.

Als die Lok Betti das hörte, mischte sie sich in das Gespräch der Kinder.„Ja, ja, da staunt ihr kleinen Racker, ich kann euch verstehen und kann auch sprechen!".
Ängstlich blickten sie in alle Richtungen und vermochten die eigenartige Stimme nicht einzuordnen.
Ihre Stimme wurde lauter, sodaß die Kinder voller Furcht davonlaufen wollten.
„Bleibt doch hier und lauft nicht fort. Ich hab eine tolle Idee!".
„Was soll das schon sein!", rief eines der Kinder mutig.
„Lauft mit Eimern zum Müller und verlangt Mehl für die alte Bahn. Falls er nach Geld fragen sollte, sagt ihm, die Bahn zahlt später!", danach verstummte Betti wieder.

Verdutzt standen die Kinder vor der Lok, denn sie konnten die Situation kaum begreifen. Doch nach einigen Augenblicken liefen sie davon und rannten so schnell sie konnten nach Hause, um Eimer und größere Behälter zu holen. Danach ging es im Eimergänsemarsch zum Müller.
„Was haben denn die ganzen Eimer zu bedeuten?", fragte der Müller erstaunt.
„Wir haben von der Bahn den Auftrag bekommen, daß sie uns Mehl in die Eimer füllen sollen. Das Geld dafür bekommen sie später!", sagte ein größerer Junge.
„Sowas habe ich noch nie erlebt!", brummelte der Müller und füllte die Behälter.
Ganz geheuer war ihm die ungewöhnliche Bestellung aber nicht. Eifrig schleppten die Kinder das Mehl zurück zur Lok. In Reih und Glied stellten sie sich vor die Lok und riefen wie aus einem Mund:
„So, da hast du dein Mehl und was sollen wir damit machen?".
Erneut vernahmen sie eine eigenartige Stimme:
„Werft das Mehl solange an mich ran bis ich ganz weiß bin!".
„Au ja, das machen wir!", riefen sie und begannen das Mehl an die Lokomotive zu werfen.
Es staubte fürchterlich und die Kinder sahen bald wie der Müller aus. Ein allgemeines Gelächter brach aus, sogar die Lok Betti kicherte vor sich hin.

Seit Tagen schien die Sonne, doch dann zogen dunkle Wolken vom Westen heran und ließen dicke Regentropfen fallen. Das bekam der alten Dampflokomotive nicht besonders gut, denn der anhaltende Regen verklebte und verschmierte das nur leicht anhaftende Mehl. Grobe häßliche Streifen und Flecken entstanden an allen Seiten. Mit der hervorkommenden Sonne kamen auch die neugierigen Kinder wieder zum Vorschein, um nach dem Befinden der Betti zu sehen.
Fassungslos erblickten sie schon von weitem ihr verschmiertes Kunstwerk und hörten ein erbärmliches Schluchzen.
„Was ist bloß mit mir geschehen, ich sehe jetzt häßlicher aus als vorher!", seufzte das nun unansehnliche Lokgestell und wackelte hin und her.
"Ja, das stimmt", riefen die Kinder und wußten nun keinen Rat mehr.

Es vergingen einige Tage bis sie wieder zur verschmierten Lok zurückkamen.
„Hört mal alle her", stöhnte Betti „holt wieder eure Eimer und geht damit zur Feuerwehr, denn dort gibt es rote Farbe und sagt, daß die alte Bahn bezahlt".
Sie taten wie befohlen und marschierten erneut im Eimergänsemarsch zum Feuerwehrhaus. Der Oberfeuerwehrmann kam heraus und sah fragend in die Runde:
„Brennt es irgendwo?".
„Nein, nein!", beruhigte ihn der größte Junge der Gruppe.
„Wir haben den Auftrag von der Bahn bekommen, daß sie uns rote Farbe in die Eimer füllen sollen. Das Geld dafür bekommen sie später!“, sagte mutig ein kleines Mädchen.
Sehr verwundert über solche Anweisungen erfüllte der Feuerwehrmann dann doch die Bitte der Kinder, die die schweren Eimer zurück zur Lok schleppten. Ein Junge kletterte auf die Lokomotive, die anderen reichten ihm die Farbe hinauf und langsam schüttete er die Farbe auf das Dach, die weiter an den Seiten hinunterlief. Mit Grasbüscheln versuchten die anderen Kinder die rote Farbe zu verteilen.
„Ist das eine Schmiererei“, rief der Junge von oben, „und Farbe habe ich jetzt auch nicht mehr!“.
„Du hast zuviel auf eine Stelle vergossen!", schrie ein Kleiner nach oben.

Die nun schwarz, weiß und rote Betti fing sich an zu schütteln, sodaß der obenstehende Junge herunterrutschte und scheppernd auf die Blecheimer krachte.
„Wie sehe ich jetzt bloß aus?", hörten die Kinder die Lok laut jammern.
„Dort hinten steht noch ein Eimer mit Farbe!", rief der Kleinste auf einer Schiene balancierend.
„Wir können doch Wasser hinzuschütten und die freien Stellen mit Punkten bemalen", schlug ein anderer vor.
„Gute Idee!", hörte man die Lok sagen.
Schnell holten sie Wasser und fingen mit einem Pinsel an zu malen. Es dauerte nicht lange und die Farbe begann zu laufen. Aus Punkten wurden kuriose bunte Gebilde. Bei diesem Anblick gerieten die Kinder in Furcht und ließen sich zwei Wochen lang nicht mehr sehen.

Inzwischen drang das Seufzen der Lok bis in den kleinen Ort, doch niemand vermochte die eigenartigen Klänge zu deuten. Es war das Wehklagen einer traurigen, alten, verschandelten Lokomotive. Die Kinderbande wollten es nicht mehr länger hören und so schlichen sie sich wieder zu ihr hin. Prompt bekamen sie einen neuen Auftrag und zwar sollten sie diesmal zum Förster gehen und grüne Farbe holen. Wie gewohnt marschierten sie im Eimergänsemarsch durch den Ort und stellten die Eimer vor das Forsthaus und riefen mit vereinten Kräften:
„Lieber guter Förstersmann, wir stehen wegen grüner Farbe an!".
Lautes Hundegebell ertönte und der Oberförster trat heraus.
„Was ist denn hier los?", fragte er verstört dreinblickend und versuchte seine Hunde durch Kommandos zu beruhigen.
„Wir haben den Auftrag von der Bahn bekommen, daß Sie uns grüne Farbe in die Eimer füllen sollen. Das Geld bekommen Sie später!", sagte nun erneut der Kleinste.
„Hoffentlich stimmt das auch!", erwiderte der Oberförster und füllte ihnen grüne Farbe ein. Freudig marschierte die Truppe los und stellten die Eimer neben die Schienen.
„Das soll nun der letzte Versuch sein“, sagte Betti, „ansonsten werde ich solange weinen, bis der Rost mich zerfressen hat!“.
Die Kinder gingen sogleich ans Werk und strichen die Kunterbunte in saftiges Grün. Nun waren alle stolz auf ihr gelungenes Werk. Ja, so gefiel sich die alte Betti und fing freudig an zu kichern.
Der Sommer verging und der Herbst zog mit heftigen Stürmen ins Land. Eines Tages wütete ein mächtiger Sturm und verschonte auch nicht den kleinen versteckten Ort an der Grenze. Die Lokomotive sah verängstigt dem Sturm entgegen, denn sie war um ihre grüne Schönheit sehr besorgt. Rechts an ihrer Seite standen zwei alte morsche Eichenbäume, die sich schon fürchterlich bogen und knarrten. Kleine und größere Äste wurden gegen ihre Seitenwände geschleudert.
Plötzlich kippten beide Eichen mit einer ungeheuren Wucht zur Seite. Die Wurzelstöcke wurden aus der Tiefe in die Höhe gerissen und begruben die alte verängstigte Lokomotive fast unter sich.
"So, jetzt kann mich keiner mehr sehen und bewundern. Alles aus und vorbei!", hörte sie sich selber sagen und der abflauende Sturm trug ihre Worte mit fort.

In der ganzen Gegend wurden Dächer abgedeckt, Bäume entwurzelt und allerlei anderer Schaden angerichtet. Arbeitertrupps zogen umher, um die Schäden zu beseitigen und um aufzuräumen. So gelangten sie nach einigen Tagen zu der zerbeulten und fast begrabenen alten Lok.
"Ja, was haben wir denn da!", rief ein Arbeiter, der erst vor kurzem in den Ort gezogen war, seinen Kollegen entgegen.
"Das ist doch wirklich nicht zu fassen, solch eine seltene Lok steht hier einfach so in der Gegend herum?", rief der Eisenbahnfan freudig erregt den anderen zu.

Mit vereinten Kräften wurde aufgeräumt und die ramponierte Betti kam zum Vorschein. Die Lokalzeitung berichtete von den Sturmschäden und veröffentlichte auch ein Bild von der begehrten Lokomotive. Aus weiter Ferne kamen Spendengelder für die Restaurierung. Das örtliche Interesse wuchs zusehends und so gründeten Eisenbahnfreunde den "Betti-Club". Die Lok wurde wieder auf Hochglanz gebracht und in ihren fast schwarzen Urzustand zurückversetzt, nur ein kleines Stück an der hinteren Seite blieb grün, zur Erinnerung an die Mühen der Kinder. Die alten Bahngleise wurden erneuert und die Lok konnte, so wie früher, bewundert werden.

Endlich war es soweit! Es wurde bekanntgegeben, daß die alte vergessene Betti wieder im Einsatz sei. Und wer genau hinhört, kann noch heute das krächzende Kichern der alten aber glücklichen Lokomotive an der niederländischen Grenze bei ihren Fahrten vernehmen.

© Heidrun Gemähling

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.04.2005. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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