Bettina Szrama

Buchvorstellung: Das wilde Kind von Hameln

 

  Der aufsehenerregende Fall des Wilden Peter von Hameln 1724: Das Auftauchen eines verwilderten Knaben nahe Hameln sorgt für Spekulationen und Mutmaßungen am kurfürstlichen Hof von Hannover. Der Kommissar Aristide Burchardy ermittelt in der mysteriösen Angelegenheit. Doch der wilde Peter, wie er fortan von den Hamelnern genannt wird, will nicht sprechen und führt sich wie ein Wolf auf. All dies interessiert Aristide allerdings weniger als das kurfürstliche Wappen auf dem Hemdfetzen, den der nackte Wilde um den Hals trug. Peter wird im Armenhaus untergebracht und trifft dort auf Grete, die Tochter des Aufsehers. Unbemerkt bringt sie sich in den Besitz des einzigen Nachweises über Peters Herkunft. Der armen Kreatur verbunden, flieht sie mit Peter und begleitet ihn auf seinem abenteuerlichen Weg bis an den englischen Königshof Georg I. Nicht nur dieser, auch ein Celler Zuchthausaufseher, ein englischer Lord und eine hannoversche Prinzessin hegen ein auffälliges Interesse für den Wilden. Immer wieder kreuzen sich dabei Aristides und Gretes Wege, bis er ihr, in seinem Bestreben in den Besitz des Hemdfetzens zu kommen, das Leben rettet. Als er endlich hinter Peters Geheimnis kommt, muss er erkennen, dass er selbst ein wichtiger Teil in dieser Geschichte um Macht, Mord und Intrigen ist. Hat seine Liebe zu Grete trotzdem eine Chance? …
„Ihr solltet Euch unbedingt mit eigenen Augen davon überzeugen, Majestät“, riet ihm Charles. „Es hat schon etwas Seltsames auf sich mit dem Kind. Der Knabe soll, als man ihn fand, keinerlei menschliche Verhaltensweisen gezeigt haben. Er hat wohl nie gelernt, aus einer Tasse zu trinken oder Kleidung zu tragen. Stattdessen läuft er wie ein Tier auf Händen und Füßen und schläft auf den Ellbogen. Was glaubt Ihr, Majestät, wie dieses Kind in den Wäldern überlebt hat?“…

• Broschiert: 320 Seiten
• Verlag: Acabus Verlag; Auflage: 1 (August 2015)
• ISBN-10: 386282361X
• ISBN-13: 978-3862823611


Leseprobe

Grete drückte sich neben der Tür hinter einen Schrank und beobachtete das Geschehen mit gemischten Gefühlen. Zum einen empfand sie erneutes Mitleid mit dem seltsamen Geschöpf, zum anderen war sie neugierig zu erfahren, was sich wohl unter der ledernen Haut verbarg, wenn sie erst mit dem Wasser in Berührung gekommen war. Doch der Knabe, den nun vier kräftige Männer einzufangen suchten - der Schulze, der Aufseher, ein Knecht und ein von Kopf bis Fuß in schwarz gekleideter Fremder - gebärdete sich schlimmer als ein Raubtier. Er sprang die Wände hinauf und flitzte an ihnen entlang wie eine in die Enge getriebene Katze. Man hätte die Töne, die er ausstieß, auch mit einem Fauchen vergleichen können. Jedenfalls sprangen seine Häscher abwechselnd vor ihm zurück und fluchten derb, wenn einer von ihnen in den Finger gebissen wurde oder das Gesicht zerkratzt bekam.
„Er benimmt sich wie ein junger Wolf“, stellte irgendwann der Schulze außer Atem fest und wischte sich mit einem Spitzentuch über die schweißnasse Stirn. Er atmete schwer, die Leibesfülle machte ihm zu schaffen und so sah er hilflos zu dem Bürgermeister, der Müller heranwinkte und ihm befahl: „Hole Er die Peitsche, das kann Er doch am besten. Gerbe Er ihm beim nächsten Fluchtversuch ordentlich das Fell.“
Grete sah den triumphierenden Zug im kantigen Gesicht des Vaters, sah das Leuchten in seinen Augen, während er vor dem Bürgermeister kuschte und ihm beipflichtete: „Ja, Euer Wohlgeboren, schon der Volksmund sagt, gehe nie ohne Zucker und Peitsche zu deinem Weib oder deinem Pferd.“
„Wo hat Er denn das wieder her?“, murrte der Bürgermeister, den die Angelegenheit schon viel zu lange in Anspruch nahm. „Sicher vom Spieltisch. Die Kreatur ist weder ein Weib noch ein Pferd. Sie benimmt sich eher wie ein wildgewordener Affe. Sie hat ganz sicher unter Wölfen gelebt. Ich habe mal gelesen, dass diese Rudel schon ausgesetzte Kinder aufgezogen haben sollen! Was mein Ihr dazu, Meinke Rechtern?“
„Er muss erst in den Waschzuber, dann werden wir sehen, um was für ein Wesen es sich handelt“, keuchte der angesprochene Stadtschulze und gab Müller, der die Lederpeitsche einsatzbereit in Händen hielt, das Zeichen sie anzuwenden.
Müller schlug zu, als der Knabe wieder unter ihren Händen davonflitzte, und traf die Wand. Als er erneut zum Schlag ausholte, kam von dem Schwarzgekleideten ein schwacher Einwand. „Meine Herren, ich weiß nicht, ob das klug ist. Die Kreatur weiß doch gar nicht, was mit ihr geschieht. Sie hat vielleicht noch nie Wände von innen gesehen, geschweige denn Menschen, noch dazu welche mit solchen Werkzeugen in den Händen.“
Der Mann im schwarzen Rock stand vornübergebeugt vor dem Knaben, der in einer Ecke unter sich machte und Müllers Hand mit weit aufgerissenen Augen fixierte. „Er ängstigt das Kind doch nur. Gibt es denn nichts anderes, mit dem wir ihn fangen können? Vielleicht ruft Er Sein Weib herbei, Müller. Frauen bewirken manchmal Wunder.“
Er sprach Grete aus dem Herzen. Um in das Gesicht des Mannes zu sehen, der offenbar als Einziger Mitleid für das Kind empfand, trat sie einen Schritt aus ihrem Versteck hervor. Der Mann bemerkte es und drehte sich nach ihr um. „Da ist ja ein Weib …“, stellte er erstaunt fest. „Und was für eine Schönheit sie ist.“
„Sie ist noch ein Kind und meine Tochter“, knurrte Müller ärgerlich über ihr Auftauchen und herrschte Grete augenblicklich an. „Was hältst du hier Maulaffen feil? Gibt es keine Arbeit im Haus?“
Grete nahm sofort eine Demutshaltung ein und wollte sich gehorsam zurückziehen, als der Mann nach ihrer Hand fasste und sie an seine Lippen zog. „Wie kann man die Jungfer nur so zurechtweisen. Ich denke, sie ist Seine Tochter. Er sollte dem Herrgott für diese schöne Gabe danken“, sagte er, während seine Augen Grete anlächelten. Es waren diese himmelblauen Augen, umgeben von tausend kleinen Lachfältchen, unter einem Kranz fein geschwungener Brauen, die ihn sympathisch machten. Eine leicht gebogene Nase und schmale Lippen über einem energischen Kinn gaben dem Männergesicht mit der vornehmen Blässe zudem eine gewisse Verwegenheit.
„Herr Burchardy, können wir nicht weitermachen?“, tönte es ungeduldig aus dem Hintergrund. „Euch, in Eurer Eigenschaft als kurfürstlicher Kommissar, sollte es ein Bedürfnis sein, die Sache schnell zu Ende zu bringen. Die Jungfer ist uns keine Hilfe und kann gehen. Sie wurde schon auf dem Markt von der Kreatur gebissen.“
Grete versuchte rasch die verletzte Hand auf dem Rücken zu verstecken und blieb an den Augen des Kommissars hängen. Sie hoffte auf seine Fürsprache. Mit ihrem kindlichen Herzen im Körper einer jungen Frau hatte sie sofort Vertrauen zu dem Mann gefasst. Der Kommissar dachte auch nicht daran, Grete hinauszuschicken. Stattdessen rief er überrascht: „Seht nur, meine Herren, die Kreatur! Welche seltsame Wandlung!“
Während sich auf den Gesichtern Überraschung breitmachte, führte er Grete ein Stück auf den Knaben zu, der sich vor ihnen wie eine schwarze Spinne mit angezogenen Beinen, in eine Ecke hinter dem Schornstein zurückgezogen hatte. Als er das Mädchen bemerkte, kam er vorsichtig witternd aus seinem Versteck heraus und kroch, seine Peiniger dabei ängstlich im Auge behaltend, einen Schritt auf sie zu. In sicherer Entfernung ließ er sich auf dem Boden nieder, zog erneut die Beine an und starrte Grete unverwandt von unten herauf in das Gesicht.
„Was für ein Kuriosum“, stellte der Bürgermeister überrascht fest. „Ich sagte doch – ein Weib und alles regelt sich wie von selbst. Weiber haben schon die Politik verändert, meine Herren. Vielleicht hatte er eine Mutter und erinnert sich an sie.“
„Oder er will sie noch mal beißen, Euer Wohlgebohren!“, grinste Müller und fügte hinzu: „Wir sollten die Gelegenheit nutzen und der Kreatur den Zuber überstülpen, bevor das Wasser ganz kalt wird.“
Grete war ebenso fasziniert wie die Männer von dem veränderten Gebaren des tierischen Knaben. Gleichzeitig ließ sie aus Mitleid alle Vorsicht außer Acht und nutzte die kurze Verwirrung, um vor ihm in die Hocke zu gehen. Als sie auf Augenhöhe mit dem Wilden war, lächelte sie ihm zuversichtlich zu.
Wie ein kleines, mageres Fellbündel hockte er vor ihr auf dem Steinfußboden und verfolgte jede ihrer Bewegungen. In dem Blick seiner braunen Augen stand keine Panik. Eher war es Neugierde und so etwas wie blindes Vertrauen, das sie seltsam berührte. Der Kommissar flüsterte ihr zu: „Der Wilde hat keinerlei Erfahrung mit Menschen. Es sieht wahrscheinlich zum ersten Mal eine Frau. Sie beeindrucken ihn, Jungfer.“ Seine Worte schmeichelten ihr. Gleichzeitig spürte sie, dass der Knabe in seiner Hilflosigkeit nach etwas suchte, woran er sich orientieren konnte, dass er am Ende seiner Kräfte war und Hilfe bei ihr suchte.
Wie gern hätte sie die Hände nach ihm ausgestreckt und ihn von diesem traurigen Ort weggeführt. Doch ein schmerzlicher Stich in der Bisswunde erinnerte sie daran, es nicht zu tun. Stattdessen hegte sie die Hoffnung, dass er sie verstehen möge, obwohl sie einsah, dass ein Bad für ihn wichtiger war, ebenso ein Bett und etwas zu essen. Leise redete sie zu ihm: „Gib deinen Widerstand auf, Peter. Dir wird nichts geschehen, solange ich bei dir bin. Ich verspreche dir, dich zu beschützen.“
Die Männer waren inzwischen nicht untätig gewesen und hatten die Ablenkung genutzt, um rasch einen Holzbottich über seinen Kopf zu stülpen. Die Antwort war Geschrei und Gepolter, und Grete wurde unsanft zur Seite gestoßen. Die strampelnde Kreatur wurde an Armen und Beinen unter dem Bottich hervorgezerrt und kopfüber in die mit Wasser gefüllte Wanne getaucht. Der Knabe gurgelte und spuckte. Doch all seine Abwehr half ihm nun nichts mehr. Mit vereinten Kräften wurde er solange unter Wasser gehalten, bis er aufgab und unter den kräftigen Händen ganz ruhig in dem Zuber zum Sitzen kam.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 2015-09-06. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).