Klaus Lutz

Arztbesuche 7 (trilogie)

Der Arztbesuch 30

Ich habe mich wieder an den Computer
gesetzt. Ich will die Wahrheit sagen. Die
Wahrheit über dieses Leben. Ich will mir,
über einiges klar werden. Und, das gebe
ich offen zu: "Ich will auch mit einigen
Menschen abrechnen!" Aber vor allem will
ich die Wahrheit sagen. Die Wahrheit,
und nichts als die Wahrheit. Ich sitze an
diesem Computer. Nach Stunden und
Stunden auf dieser Pritsche. Nach dem
der Pfleger da war. Das Essen und die
Tabletten gebracht hat. Und nachdem ich
jetzt wieder allein bin. Bis Morgen früh.
Ohne ein Wort mit jemandem zu reden.
Ohne einen Mensch zu sehen. Ohne et-
was zu erfahren, was ein Mensch benö-
tigt. Was ihn denken, fühlen und leben
läßt. Ohne wenigstens eine: "Gute Nacht!
Schlafen sie Gut! Bis morgen Früh!" Ohne
wenigstens das erfahren zu haben sitze
ich hier: "Und hoffe, das ergibt ein Leben!"
Ein paar Sätze ergeben ein Leben. Ich
hoffe etwas ergibt ein Leben: "Ein Gedanke!
Eine Erinnerung!" Ich hoffe etwas weckt
mich auf. Etwas gibt mir das Leben zu-
rück. Etwas gibt mir mein Denken zurück.
Ich bin soviel. Und so viel alles zugleich.
Soviel Trauer. Und soviel Leben, das ich
will. So viel Hoffnung. Und so viel Wissen
das ich will. So viel Zweifel. Und so viel
Klarheit die ich will. So nahe am Tod. So
nahe am Leben. Immer all das, was sein
könnte. Und immer all das, was der Ab-
grund ist . Das Fallen! Das Ende! Der Tod!
Ich sitze da an diesem Computer und über-
lege, was ist der Tod. Ich sehe diese Tasse.
Hebe sie langsam. Führe sie zum Mund.
Trinke! Und denke mir. Wäre sie eine
Pistole, würde ich sie dann auch nehmen.
Sie langsam an die Stirn führen. Und ein-
fach abdrücken. Und was wäre dann? Was
ist der Tod? Was sind diese Massen von
Fleisch? Dieses Leben. Krankheiten und
Schwierigkeiten. Rollstuhl und Allein sein.
Was ist der Tod? Was wäre er? Mehr als die-
ses Leben. Der Friede. Ich nehme diese Tas-
se am Tag mindestens hundert mal. Hebe
sie hoch. Führe sie zum Mund. Aber in Wahr-
heit, denke ich mir mindestens 100 mal das
Gleiche. Oder, frage mich hundertmal das
Gleiche. Aber dann sehe ich auch all das
was dieses Leben ist. Was es noch ist. Ich
denke darüber nach, was ich alles so lese.
An all diese Gedanken und Ideen. An all
das was Kunst und Schönheit ist. An all das,
was das Leben sein kann. An all das, was
sich daraus machen läßt. In fast jeder Situa-
tion. Mit fast jedem Leben. Und ich denke
an all das, was ich erdulden muß. An Hinter-
hältigkeiten. Und was ich dazu sagen kann.
Was für einen Widerspruch das Ganze ver-
langt. Was kann ich mit dem geben, wenn
ich widerspreche. Was kann ich dem geben,
wenn ich mich wehre. Was kann ich dem ge-
ben, wenn ich sage: "Lüge!" Was kann ich mit
dem geben, wenn ich einfach die Wahrheit
sage. Und ich führe die Tasse zum Mund.
Trinke einen schluck Tee. Und geniesse ihn.
Und es gelingt mir, für einen Augenblick, wie-
der auf dem Mond zu sein. Und ich sehe die-
sen Planeten. Und alles in mir was noch an
Liebe, an Leben da ist, staunt nur. Und alles wis-
sen. Und alles kennen. Wird zu dieser Klarheit.
Zu dieser Erkenntnis. Zu diesem Licht. Zu die-
sem Staunen! Das sich darüber klar wird was es
sieht. Was dieser blaue Planet ist: "Was für ein
unendliches Wunder!"

Und es wird mir klar. Wie und was immer das
Leben auch ist! Es kann nicht Sinnlos sein. Al-
so denke ich mir. Wenn in dieser Zelle das Gan-
ze leben nur noch um Dich kreist. Um das was
Du bist. Um das was Dich beschäftigt. Dann las-
se es richtig kreisen. Gib Ihm auch Tempo. Gib
ihm Schwung. Zeige der Welt diese zwei klein-
en Füsse. Und wie groß die Spuren sein können
die sie hinterlassen.

Der Arztbesuch 31

Etwas völlig unerwartetes Tritt ein. Ich fühle es.
Ich werde blind! Noch sehe ich. Aber ich weiß es.
Ich werde Blind. Es ist ein Gefühl, das immer mehr
an Leben gewinnt. Das immer wahrer wird. Das zur
Wahrheit wird. Ich werde von Einem neuen heimge-
sucht: "Von der Blindheit!" Noch sehe ich diese
Zelle vor mir. Die Kanne Tee. Das Frühstück. Die
Tabletten. Aber alles um meine Augen ist anders.
Es sind die Lügen, die mich für Jahre und Jahre um-
geben haben. Wahrscheinlich ist es die Ruhe dieser
Zelle. Wahrscheinlich ist es diese Seele, um so
mehr sie wieder zu leben beginnt. Um so mehr wehrt
sie sich. Und um so mehr Sie sich wehrt, wird sie
sich ihres Lebens bewußt. Was das leben ist. Und
um so Lebendiger und Größer sie wird. Um so sinnlo-
ser erscheint Ihr das Alles. All diese Lügen. All
diese Dummheit, der sie ausgesetzt ist. Und um so
mehr will sie fliehen. Und ich merke, was diese
Seele für mich war. Sie war mein Licht. Sie war
das, mit dem ich gesehen habe. Sie war meine Augen.
Und diese Augen werde ich velieren. Ich werde Blind.
Dieses Leben mit all seinen Lügen. Mit all dem was
ich ausgesetzt bin, mit dieser Behinderung. Das
wird es sein. Mit dem ich meine Seele verliere.
Das, was mich diese Welt hat sehen lassen. Das Licht
meiner Augen. Und ich rufe ein letztes mal. Es
entlädt sich ein Schrei. Der durch dieses ganze
Gebäude dringt. Durch jeden Winkel. In jeden Raum:
"Ich brauche Wahrheit!" Gebt mir Wahrheit. Rettet
meine Seele. Rettet meine Augen. Gebt mir Wahrheit.
Der Wärter sieht herein. Die Ärzte und Pfleger
stehen ratlos an meiner Tür. Wahrscheinlich steht
die ganze Welt still. Denn alles in einem Menschen
hat es erkannt. Alles in einem Menschen ist es
klar geworden. Was die Seele ist. Die größte Offen-
barung, die ein Mensch je hatte. In dieser Sekunde,
hat sie die Welt erlebt. Das Licht der Augen: "Es
ist die Seele!" Alle sehen mich verständnislos an.
Die Ärzte sehen auf die Medikamente. Die Pfleger
auf das Fett. Auf diesen Bauch. Auf die Fettwülste.
Aber alle sehen verwundert in diesen Raum! Auf mich!
Etwas hat sie erschüttert. Es war dieser Schrei.
Es war nicht dieser Satz: "Ich brauche Wahrheit!"
Es war die Wahrheit, die gesprochen hat. Und das
ahnen Sie. Es war nicht ich, der gesprochen hat.
Etwas anderes hat gesprochen: "Es war die Wahrheit!"
Sie hat gesprochen. Sie hat es in die Welt gespro-
chen: "Achtet auf eure Seelen. Sie sind das Licht
der Augen. Sie sind das mit dem ihr seht!" Die
Wärter und die Ärzte gehen wieder. Sie gehen an-
ders. Ihre Schritte sind Andere. Etwas hat sie ver-
ändert. Sie haben die Wahrheit gehört. Sie haben
die Stimme der Wahrheit gehört. Sie haben Gott gehört!
Sie ahnen was geschehen ist. Das Leben wird anders
sein für Sie. Nie mehr, wie es noch vor Fünf Minuten
war. Bevor diese Masse aus Fleisch, Geschwüren, Ent-
zündungen und Erkrankungen, es in diese Welt gerufen
hat: "Ich brauche Wahrheit!" Sie haben das Leben einer
Seele gehört. Und etwas, hat in ihnen wieder ange-
fangen zu leben. Die Welt ist gerttet: "Ich brauche
Wahrheit!" Sie haben es begriffen. Ich werde nicht
erblinden!

Der Arztbesuch 32

Ich habe den Haß von mir gebannt. Nun sehe ich
rein und groß meine Seele. Nun, wo ich bereit wäre
zu sterben. Nun werde ich Leben. Alle meine Ge-
bete sind erhört worden. Jahre und Jahre des
Allein seins. Jahre des Zweifels. Jahre der De-
mütigungen. Jahre der Lügen. Jahre der Zerstör-
ung. Jahre der Verwüstung, die dieses Leben an
meinem Geist hinterlassen hat. Die es, an meinem
Körper hinterlassen hat. Die es, an meiner Seele
hinterlassen hat. All diese Jahre, sie liegen hin-
ter mir. Das Licht auf der Wand ist wieder da.
Die Sonne läßt diese Wand wieder wie Gold er-
scheinen. Die Sonne selbst zeigt mir. Das ich
wieder ein Mensch bin. Ich fühle wieder Leben in
mir. Etwas hat wieder begonnen. Dieser Rollstuhl
in dem ich sitze! Dieser gelähmte Körper. Dieses
Fleisch. Dieses Fett. All das ist bei mir. Und
so wie sich dieses Leben verändert. So wird sich
das alles verwandeln. Es wird sich wieder ver-
lieren! Auflösen und ein Teil dessen werden was
ich erkannt habe. Ein Teil von all dem, was mich
unmgibt. Von all dem, das alles ist. Und mit dem
ich alles bin. Das alles Liebe ist. Liebe! Liebe!
Liebe. Mein Leben. Nun wo es bereit wäre zu ster-
ben, sieht es klar. All das was ist. Und all das
ist Liebe. Und all das, was mein Leben ist. All
das will Leben. Es entdeckt diese Stimme wieder,
die nur singen will. Es entdeckt diese Gedanken
wieder, die nur tanzen wollen. Es entdeckt diese
Seele wieder, die nur Licht ist. Mein Leben. Es
hat sich wieder gefunden. Es ist wieder da. Mein
Leben. Jahre und Jahre und Jahre war dieses Leben
nur eins: "Überleben!" Umgeben von Lügen die Ein-
samkeit waren. Umgeben von Falschheit, die Einsam-
keit war. Umgeben von Heuchelei, die Einsamkeit
war. Umgeben von Menschen, die nichts übrig ge-
lassen haben. Umgeben von Menschen, mit denen al-
les nur überleben war. Umgeben von Menschen, mit
einem eigenen Zauber! Einer eigenen Magie. Einer
Hand voller Menschen geblendet und verzaubert
von all der Macht. Von all der Magie: "Ohne das
Wissen und ohne die Wahrheit, was diese Magie ist!"
Ohne das Wissen und ohne die Wahrheit, was sie sind.
Die andere Seite des Lichtes. Die andere Seite der
Wahrheit. All das, was das Leben nicht ist! Nicht
sein sollte. All das, was das Böse ist. Meine
Krankheit: "Geschwüre, Eiter und seine Pest!" Es
war ihre Magie. Es war ihr Zauber. Es waren ihre
Lügen.
Aber ich habe es in diese Welt gerufen. Und mit mir
hat diese Welt es gehört: "Ich will Wahrheit!" Und
diese Welt will Wahrheit. Ich bin befreit. Und diese
Welt ist befreit. Überall wo das Leben neu beginnen
kann, beginnt es neu. Und das Leben kann überall neu
beginnen. Es ist die ganze Welt, die neu beginnt! Das
Licht, das Leben, die Wahrheit. Es beginnt neu. Nach
neun Tagen in dieser Zelle. Nach neun Tagen des
Grübelns. Nach neun Tagen der Suche nach Klarheit.
Nach neun Tagen, ist es die Kraft eines anderen Wol-
lens. Ist es die Kraft eines anderen Lebens. Mit dem
ich Verzeihung erfahre. Verzeihung und einen neuen
Anfang. Verzeihung und neues Wissen. Verzeihung und
neue Größe. Größe und Gnade. Das Leben ist wieder bei
mir. Gott ist wieder bei mir. Die Welt ist wieder da.
Ich bin wieder Da.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.08.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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